Schattengefühle

“Absolut verziehen. Ich war nie richtig böse”, sagte Elena und dann nachdenklich, vielleicht etwas mehr auch an sich selbst gerichtet: “Es ist wie ein Schattengefühl.”

May überlegte einen Moment, ob es vielleicht wirklich nicht an sem gerichtet gewesen war, aber die Neugierde gewann. “Was ist ein Schattengefühl?”

“Ein Neologismus, ein erfundenes Wort für eine Art und Weise zu fühlen. Zum Beispiel vorhin, als du gesagt hast, ich hätte viele Schuhe, hat mich das daran erinnert, dass man dafür oft geshamed wird. Über Männer mit vielen Schuhen wird oft direkt geschlossen, dass sie schwul wären. Wenn man weiblich ist, ist es was Schlimmes, wo man sich als feministische Frau was für schämen sollte.” Elena wirkte gar nicht so frustriert, wie die Worte suggerierten, vielleicht eher unsicher. “Ich gebe hier wieder, was ein unangenehm lauter Teil der Menschen denkt oder sagt, nicht, was meine Meinung ist. Unter anderem ist das schon wieder binär. Wie ist das bei Menschen, die weder nicht-binär sind? Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie von diesem Sexismus verschont sind. Wahrscheinlich kommt es darauf an, wie sie gelesen werden.”

“Urx, auf den Begriff ‘gelesen’ bin ich nicht so gut zu sprechen, aber das erkläre ich später”, sagte May. Sey sammelte sich kurz, um nicht vom Thema abzulenken. “Ich hatte tatsächlich an das Klischee gedacht, muss ich zugeben.” Sey schämte sich ein bisschen.

“Unbedingt, bezüglich des ‘gelesen’. Das will ich wissen. Mist, mehrere Gespräche gleichzeitig sind im Chat einfacher. Ich mache mir eine Notiz.” Elena nahm eine bereitliegende Kladde vom Tisch, einen Bleistift, der daneben lag, und schrieb etwas hinein. Mit dem Bleistift an der Stelle im Buch legte sie es zurück auf den Tisch. “Hast du denn etwas Negatives zu der Schuhsache gedacht?”

May schüttelte den Kopf.

Ob Elena überall eine Kladde rumliegen hatte? Sey sah sich um und entdeckte im Bücherregal ein Regalbrett, das vielleicht mit Kladden gefüllt war. Zumindest waren dort Spiralbindungen und titellose, gebundene Buchrücken.

“Nein. Das nicht. Aber mir war im Nachhinein bewusst, dass es leicht hineininterpretiert werden kann. Es tut mir leid”, sagte May, überrascht über den eigenen Klang der Stimme, hörte Reue und Resignation darin. “Es ist ein geladenes Thema. Eins kann da nicht so einfach einen neutralen Kommentar machen, es sei denn man hat nichts von alledem mitbekommen.”

Sey sah Elena am Rande des Blickfeldes nicken, gleich ein paarmal, aber als erneut Licht grell ins Zimmer schien, kniff sey die Augen wieder zu und sah derlei Gesten nicht mehr.

“Soll ich die Vorhänge zuziehen?”, fragte Elena.

May schüttelte den Kopf.

Ohne Umschweife kam Elena zurück zum Thema. “Aber genau, das ist ein sehr guter Ansatz, um Schattengefühle zu erklären. Es kann eben sein, dass du den Zusammenhang gar nicht gesehen hast. Oder dass du ihn gesehen, aber bewusst ignoriert hast, was auch irgendwie ein cooler Move gewesen wäre. Aber es hätte auch sein können, dass du dabei gedacht hättest, dass ich eine von diesen, hmm, Frauen wäre, auf misogyne Art. Und leider ist das der häufigste Hintergrund. Was ich nicht weiß, weil ich das einfach vermute, sondern weil ich interessiert daran bin, was Menschen denken, und dann nachbohre, wie bei dir gerade.”

May nickte. “Ich weiß. Ich habe mir zum Thema Schuhe dazu noch nicht so viele Gedanken gemacht. Aber das Phänomen kenne ich auf anderes bezogen sehr gut.”

“Dachte ich mir”, sagte Elena mit weicher Stimme, ein Lächeln darin war gut vernehmbar. “Was ich dabei fühle, ist so etwas wie die Erinnerung an all die Verletzungen wegen so etwas, verknüpft mit der Frage, ob du es auch so meinst, mit eben jenen verletzenden Hintergedanken, oder nicht. Aber das Gefühl ist nicht so richtig schlimm. Es ist nur ein Schattengefühl. Nur eine Abbildung des eigentlichen Verletztheitgefühls, bei der der Kern fehlt, eben wie ein Schatten oder eine unbestimmte Erinnerung.” Sie pausierte einen Moment, um dann noch ruhiger fortzufahren: “Erst, wenn du mir bestätigen würdest, dass du es wirklich angreifend oder beschämend gemeint hättest, – das englische shaming passt da eigentlich besser –, täte es tatsächlich weh. Aber natürlich sind eine Menge Schattengefühle zusammengenommen trotzdem belastend.”

“Es ist eine schöne Bezeichnung. Schattengefühle”, stellte May fest. Sey nahm das Glas mit dem Wasser, um etwas zu trinken. Sey wünschte, es wäre Tee. Tee war entspannend und vielleicht sogar romantisch. Romantisch, wie es Gewitternächte waren, oder Sturm am Meer, nicht im Sinne von Beziehungsromantik. Leider war nicht einmal das Wetter teeromantisch. Es war so anstrengend hell. Sey freute sich auf die Nacht. Aber zugezogene Vorhänge, die es ausgesperrt hätten, hätten dazu geführt, dass sey wiederum sich eingesperrt gefühlt hätte.

“Vermutlich kennst du das Phänomen sogar viel besser als ich”, mutmaßte Elena.

“It’s not a competition. Ich bin dir dankbar für das Wort”, sagte May gelassen. Sey lehnte sich auf dem Sofa zurück, sortierte ein Bein um, sodass die Fußsohle das Sofa berührte. Kurz darauf fragte sey sich, ob das nicht okay wäre, aber Elena sagte nichts und ein Blick zur Seite verriet May, dass Elenas eine Fußsohle auch die Sofaecke berührte.

“Zwischenfrage: Belasten dich die Themen?”, fragte Elena. “Ich kann Smalltalk nicht gut. Ich kann mich irgendwie kaum nicht-komplex unterhalten, es sei denn, es ist sehr albern, aber vielleicht sind selbst meine Albereien komplex. Das strengt viele an. Ich will das nicht, aber ich weiß auch nicht so richtig, was ich dagegen tun soll.” Sie hatte ziemlich schnell geredet, aber nun fragte sie mit einer Ruhe, die volle Aufmerksamkeit verhieß: “Wie geht es dir damit?”

“Gut!”, sagte May schlicht. Sey spürte ein Ruckeln im Sofa, als sich Elena sem etwas abrupter zuwandte. Aber sey sagte nichts weiter dazu, sondern grinste nur.

“Okay!”, sagte Elena schließlich, das Lächeln in der Stimme klar und deutlich. “Wenn du erklären magst, wüsste ich dann gern, was an ‘gelesen’ schwierig ist. Ich dachte, ich hätte es von nicht-binären Menschen übernommen, die sich selbst zum Beispiel als ‘weiblich gelesen’ bezeichnen. Daher dachte ich, es wäre okay, aber ich lasse mich gern aufklären!”

“Das Gemeine ist, dass es kontextabhängig ist. Willst du damit ausdrücken, dass Menschen eine bestimmte Form von Sexismus erfahren, die nur eine Gruppe von Menschen erfährt, in die ein bestimmtes Geschlecht hineininterpretiert wird, gegebenenfalls ohne ihr Einverständnis, dann ist das okay. Wobei auch da oft Annahmen einfließen, die so nicht stimmen, weil viel nicht nur davon abhängt, wie eine Person gelesen wird”, erklärte May. “Aber die Formulierung wird sehr oft für Gate Keeping verwendet. Zum Beispiel, wenn ein Club einst nur für Frauen war, dann eine nicht-binäre Person fragt, wie das ist, ob die Policy vielleicht geändert werden könnte, – was per se schon eine unangenehme, mutige Frage ist –, und die Antwort ist, du wärest okay, weil du ja weiblich gelesen würdest. Das ist sehr, sehr scheiße.”

Elena schwieg einen Moment. Aber sie hatte Luft geholt, wie um etwas zu sagen, daher wartete May noch, bevor sey vielleicht fortfahren würde. Eine sinnvolle Entscheidung, denn Elena hatte tatsächlich eine vorsichtige Frage. “Weil du nicht weiblich gelesen werden möchtest?”

“Auch.” May merkte wie sey sich anspannte und sich Wut in sem ansammelte. “Aber vor allem, weil es eine Sache ist, auf ein Problem im System hinzuweisen, dass überhaupt ein Geschlecht ohne Einverständnis in Leute hineingelesen wird, aber eine ganz andere auf Basis dessen etwas aktiv zu sortieren, zu unterstützen, oder überhaupt etwas zu entscheiden. Das ist dann eben Gate Keeping. Oder transfeindlich, nichtbinärfeindlich oder ignorant, weil es auch sehr häufig nur einer der vielen, vielen Versuche ist, einer Person mitzuteilen, dass sie für die Welt oder den Club oder die mitteilende Person eben doch weiblich wäre.”

“Das verstehe ich”, sagte Elena.

Sie schwiegen wieder eine Weile. May war auf einmal sehr warm. Sey merkte, dass sere Hand unruhiger über den Stoff gefahren war, immerhin nicht im Loch herumgebohrt hatte. Aber sey wünschte sich gerade Wind, oder wenigstens ein offenes Fenster. Bedürfnisse kommunizieren, erinnerte sey sich. “Willst du spazieren gehen? Oder wäre es okay, wenn ich das Fenster öffnete?”

“Beides ist okay. Ist dir etwas lieber?”, fragte Elena.

“Spazieren.”


Elena lag auf der Wiese im Vorgarten, sozusagen auf Mays Platz, als May aus der Haustür trat, nun ausgerüstet mit Sonnenhut und Sonnenbrille. Nur sozusagen auf Mays Platz. Sey musste grinsen. Zu dieser Tageszeit hätte sey sich woanders hingelegt, immer die Beine in der Sonne, den Kopf im Schatten, soweit dies möglich war – und es wäre gerade möglich gewesen. Sey schlich sich heran und stellte sich so hin, dass ser Schatten über Elenas Beine fiel. Elena trug ein graues Sweatshirtkleid, das gemütlich weich wirkte. Den Ausschnitt verstand May nicht so richtig. Irgendwas ging dort überkreuz. Neben ihr lag eine kleine Handtasche im Gras und May mutmaßte, dass wohl eine Kladde darin sein mochte.

Elena öffnete die Augen. “Ich kann so verstehen, dass du nicht sofort reagiert hast.” Sie richtete sich auf, zunächst in eine sitzende Position, dann kam sie ins Stehen. “Zu vorhin: Kommt das unangenehme ‘weiblich gelesen’ dann von Leuten, die vorher versucht haben, dir zu erzählen, dass du aber ‘eigentlich weiblich’ wärest, und dann, dass du doch einen ‘weiblichen Körper’ hättest, weil sie sich nicht von ihren Denkkategorien lösen können?” Elena formte Gänsefüßchengesten mit den Fingern um die Ausdrücke, hinter denen sie nicht selber stand.

“Genau”, bestätigte May und gab noch einen verärgerten Laut zur Untermalung von sich.

“Soll ich aufhören zu fragen?”, fragte Elena wieder.

“Nein. Du machst das gut”, widersprach May. Das war nicht gut formuliert. Das kam sem im Nachhinein seltsam vor. “Ich meine, es ist entspannt, mit dir zu reden. Verhältnismäßig entspannt. Am Anfang ist es immer schwer. Aber mein Wutgeräusch bezog sich auf die Sache und das ist manchmal befreiend.”

Sie hatten sich in Bewegung gesetzt – halb unterbewusst in Mays Fall – und waren am Gartentörchen angekommen, das Elena sem nun aufhielt. “Ich glaube, du siehst nicht, dass ich gerade lächele, oder?”

“Nein”, bestätigte May und lächelte sererseits.

“Um zurück auf den Zusammenhang zu kommen, in dem ich es benutzt habe: Da ging es aber doch im Prinzip um Diskriminierung, die man erfährt, je nachdem, welches binäre Geschlecht in einen hineinzwangsinterpretiert wird. Ist das nicht die Variante, die du okay fandst?”, erkundigte sich Elena. Ein erschreckter Laut entwich ihr. Sie versicherte: “Ich will mich nicht verteidigen an dieser Stelle. Ich werde die Formulierung erst einmal nicht mehr benutzen. Ich möchte nur verstehen, wenn du die Energie hast, mir dabei zu helfen.”

“Die Formulierung ‘hineinzwangsinterpretiert’ muss ich mir merken. Die gefällt mir gut”, erwiderte May lächelnd. Ein Gedanke an das Hier und Jetzt forderte sere Aufmerksamkeit ein, den sey hastig zwischenschob: “Ich habe vergessen, dich zu informieren, dass ich auf der großen Straße nicht reden können werde, weil ich mich zu viel auf den Verkehr fokussieren muss. Wir gehen in den Park?”

“Ja, gern!”

“Dann geht das ab der nicht vorhandenen Schranke wieder.” Am Park war mal eine Schranke gewesen. Die beiden Stelzen für den Schlagbaum waren noch da, letzterer fehlte.

May nahm kaum wahr, dass Elena nickte. Ähnlich wie sey den ganzen Weg kaum registriert hatte, den sie bis jetzt gegangen waren. Das war immer so. Entweder war sey in der Umgebung und nahm sehr viel vom Drumherum wahr, das Krahen der Krähen, die Verkehrsgeräusche, die verschiedenen Geräuschkulissen der Cafes und Läden, den Geruch nach Rapsfeldern und Kuchen, die leicht feuchten Sohlen auf der Innenseite der Schuhe, den Wind in den Haaren an den Beinen. Oder sey nahm nur das Gespräch wahr, war in serem Kopf gefangen, den Fokus voll auf den Details der Stimme, welche Mimik der Mund dabei machte – sey nannte es Sprachmimik. Wobei sey zu Sprachmimik auch zählte, wie weich die Stimme war, wie hoch, wie schnell sie sprach, wie sie artikulierte, was betont wurde.

Das plötzliche Aufhören der Schritte nahm sey aber selbst in der abgeschotteten Welt wahr. Es waren auch nicht ganz leise Schuhe. Elena trug breite, mittelflache Absätze. Aber vermutlich hätte sey es immer mitbekommen, solange die Schuhe nicht unhörbar gewesen wären. Sey drehte sich zu Elena um.

“Ich habe mal eine blinde Person geführt. Ist das irgendwie hilfreich?”, fragte sie sachlich.

“Nicht, ohne es vorher geübt zu haben”, widersprach May. Sey war über sich selbst verwundert, so rasch eine Antwort zu haben. Sey war so etwas noch nie gefragt worden, hatte es aber zuvor mal mit einem Herzmenschen geübt, einfach aus Neugierde, und es war überraschend angenehm und hilfreich gewesen.

“Okay, dann kümmere ich mich einfach um nichts, du machst dein Ding und wir reden wieder am Park”, schlug Elena vor.

May nickte. Sey fühlte sich unbehaglich. Es fühlte sich nach viel zu viel Aufwand und Aufmerksamkeit an. Als würde hier irgendwas passieren, wofür äußerste Vorsicht galt oder wodurch sey sehr besonders wäre. Aber für sem war es einfach Alltag. Während es das für Begleitungen eben nicht war. Es war einfach irgendwie schade, fand sey, dass dieses für sem sonst einfach etwas andere Alltagselement nun ihrer beider Gedanken dominierte. Sey nickte noch einmal und beeilte sich, die vielbefahrene Straße zu erreichen. Immerhin schlug Elena nicht vor, doch vielleicht die Ampel zu nehmen. Das hatte May oft erlebt. Manchmal eingewilligt. Eigentlich mochte sey lieber, wenn es irgendwie ging, den selbstbestimmteren, kürzeren Weg über die Straße zu gehen. Nicht warten zu müssen, obwohl frei genug wäre, weil die Ampel es vorschrieb. Seltsamerweise mochte sey dies lieber, obwohl sey vermutlich insgesamt länger warten würde als an der Ampel.

Elena wartete auch die Lücken mit ab, die wahrscheinlich für sie breit genug gewesen wären, von denen May das aber leider erst wusste, wenn es zu spät war. Das machte sem nervös, aber das kannte sey schon und ließ sich davon nicht unter Druck setzen. Es gab auch einfach keine gute Lösung. Es hätte sem auch nervös gemacht, wäre Elena schon einmal gegangen. Situationen dieser Art waren eben unangenehm, bis sey die Leute kannte. Ein anderer Herzmensch sagte ‘grün’, wenn Lücken groß genug waren, sodass sey im Vertrauen die Straße kreuzen konnte. Das funktionierte gut. Aber es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich eingespielt hatten.

Sey atmete einmal tief ein und aus, als sie den Park erreichten, roch den Teich im Park, das Laub im Wasser. Und das Grün. Hörte die Enten schnattern und die Gänse tröten und hupen. Es war nicht so aufdringlich. Auch das Verkehrsgeräusch war hier weit genug entfernt und gedämpft. Sey mochte diesen Park.

“Geht wieder”, teilte sey mit.

“Darf ich auch hierzu neugierige Fragen stellen, oder nervt oder stresst es?”, fragte Elena.

May ging in sich und überlegte. Es kam darauf an, was und wie, aber May war auf der anderen Seite so neugierig auf die Fragen, dass sey sie selbst dann hätte wissen wollen, wenn sie unsensibel gewesen wären. Elenas Fragen waren allerdings bislang wirklich entspannt gewesen.

“Es würde mich tatsächlich beruhigen, mal ein ‘nein’ zu kriegen”, sagte Elena. “Dann wüsste ich, dass du das kannst, und dass nicht am Ende die Fragen selbst Druck aufbauen.”

“Frag!”, forderte May sie stattdessen auf. “Ich habe nicht gleich geantwortet, um in mich zu gehen. Ich hätte jetzt bitte gern die Fragen. Woher soll The Universe sonst aufgeklärt werden in deinem Plot?” May grinste bei dem Gedanken, die Autorin an das Gespräch von gestern zu erinnern.

“Mein Plot?”, fragte Elena gespielt skeptisch. Das Grinsen, das sich May zu erzielen erhofft hatte, klang in der Stimme mit. “Warum nicht deiner?”

“Wenn es meiner wäre, würde das Publikum durch einen inneren Monolog über die Antworten informiert werden”, argumentierte May.

“Guter Punkt. Bevorzugt The Universe aus deiner Sicht also Ich-Erzählungen? Oder welche mit einer nicht wechselnden Erzählperspektive?”, fragte Elena.

May brauchte einen Moment, um sich eine schlagfertige Antwort auszudenken. Auf diese Art war sie natürlich nicht mehr schlagfertig, sondern eher schlaffertig, aber Elena ließ sem die Zeit. “The Universe ist bekanntlich unfair, es wird zumindest nicht alle gleich behandeln.”

“Sehr wahr”, seufzte Elena. “Wir haben Kapitalismus.”

May grinste, weil es wie ein Wetterbericht klang, überlegte, sich etwas auszudenken, wie sey im Stil eines Wetterberichts über Lobbyismus reden könnte, aber entschied sich dann doch dafür, den alten Gesprächsstrang wieder aufzunehmen. “Die Fragen wären nun an der Reihe.”

Elena haderte nicht einen Moment, ihr Fokus wechselte nahtlos. “Hast du schon einmal einen Blindenstock benutzt?”, fragte sie. “Mir wurde mal in einem Workshop auf einem vergangenen Chaos Communication Congress erklärt, dass man dadurch oft im Straßenverkehr rücksichtsvoller behandelt werden würde. Autos führen vorausschauender, Leute wichen aus, so etwas. Hast du da Erfahrungen?”

Mays Grinsen verschwand. “Ja, leider. Eine schlimme.”

“Oh, Mist, das tut mir leid”, sagte Elena.

Diese Information reichte schon. Sie fragte nicht nach. Das war schön. Und auch, dass sie jetzt erst einmal nichts sagte. May wollte erzählen, aber brauchte Zeit, um sich zu sammeln, um die Stimmung dafür zu finden. Und natürlich hätte Elena betonen können, dass May nicht müsse, aber das war eigentlich klar.

“Tatsächlich auch bei einem Workshop auf dem letzten Chaos Communication Congress, aber ich war nicht beim Workshop”, begann May zu erzählen. “Mir wäre es unangenehm gewesen, mit vielen anderen zusammenzutreffen. Mich stressen Gruppen und neue Menschen. Das ist aushaltbar, wenn ich etwas lernen will, wovon nichts abhängt, aber wenn es dabei um etwas Neues geht, was mir am Herzen liegt und mein Leben berührt, ist mir das zu unbehaglich. Also habe ich meinen Mut zusammengefasst und an eine der organisierenden Personen geschrieben. Enne. Kennst du vielleicht, wenn du beim Workshop warst.”

“Ja, ich kenne sie. Ich war allerdings vor eineinhalb Jahren dort, nicht letzten Congress”, bestätigte Elena.

“Wir trafen uns in einer Sofaecke, die nicht übertrieben voll war, unterhielten uns ein bisschen und dann probierten wir es das aus”, fuhr May fort. “Ich lief mit geschlossenen Augen und Stock einmal vom einen Rand der Halle an den anderen und zurück. Aber auf dem Rückweg lief der Stock gegen etwas gegen. Ich fuhr mit dem Ende etwas nach oben, um es zu erkunden, und da es so überhaupt nicht den Eindruck nach Wand machte, sondern vielleicht eher nach Mensch, öffnete ich die Augen.” Sey strich sich mit gespreizten Händen über den Hosenstoff. Selbst die Erinnerung war unangenehm. “Es war tatsächlich einer. Enne und ich blieben erst einmal stehen. Ich war in der Situation ziemlich gelähmt, konnte irgendwie gar nichts sagen. Fragte mich, ob ich mich entschuldigen sollte.” Sey holte noch einmal bewusst Luft. “Der Mensch meinte dann ‘Ich wollte immer schon einmal wissen, was eigentlich passiert, wenn man einem Blinden im Weg steht und nicht ausweicht’.”

“Wow, was für ein Urfzmensch! Arx!” Die Wut war unverkennbar in Elenas Stimme, obwohl sie nicht laut war. Und es war angenehm, fand May.

Jedes Mal, wenn sey die Geschichte erzählte, wurde es ein Stückchen leichter. “Enne meinte zu ihm so etwas in der Art wie ‘nun weißt du es’. Ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte, und der Mensch wich immer noch nicht aus.”

“Einfach, was zum!”, grummelte Elena, jedes der Worte einen Moment suchend, was, angesichts der Tatsache, dass sie am Ende nicht einmal einen grammatikalisch korrekten Satz ergaben, May ein bisschen zum Lächeln brachte.

“Er wedelte dann mit der Hand vor Ennes und meinen Augen entlang, und als wir darauf reagierten, sagte er: ‘Ihr seid ja gar nicht blind’”, fuhr May fort.

Elena atmete hörbar und sehr wütend ein und aus. May vermutete, dass sie Fäuste machte, sah kurz hinüber – und hatte recht.

Dann blickte May wieder auf den Boden vor sich. “Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es weiterging. Enne hat vielleicht etwas gesagt. Vielleicht ist der Mensch einfach so weitergegangen. Ich weiß, dass ich da noch eine Weile stand, selbst nachdem er weg war, und geweint habe. Und Enne ein bisschen hilflos war. Das hat sie hinterher zugegeben, in dem Moment, kam sie mir nicht so vor. Sie hat einfach neben mir gewartet und nichts getan. Bis es wieder ging”, beendete May die Erzählung.^[Anmerkung des Schreibfischs: Die Szene mit dem Blindenstock ist mir auf dem 36. Chaos Communication Congress genau so passiert, abgesehen von geänderten Namen.]

“So eine Scheißerfahrung. Hast du dem Awareness-Team davon erzählt?”, fragte Elena.

“Nein. Hätte auch nichts mehr gebracht. Als ich wieder handlungsfähig war, war der Mensch schon längst weit weg. Wir wissen ja auch beide nicht, wie er ausgesehen hat.” Bei dieser letzten Feststellung musste sey wieder grinsen. Obwohl es eigentlich nicht lustig war. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie.

“Stimmt. Uffz. Trotzdem. Irgendwie sollten Menschen erfahren, dass so etwas passiert und voll nicht okay ist”, hielt Elena fest.

“Nun, jetzt ist es in deinem Plot festgehalten, würde ich sagen.” May schmunzelte bereits wieder. Eigentlich war es zu früh. Für den therapeutischen Effekt wäre es besser, sich noch einen Moment zu ärgern.

“Vielleicht wäre es gut, wenn statt The Universe, welches, wie du richtig festgehalten hast, ohnehin unfair plottet, ich es niederschreibe und publik mache. Ganz unbekannt bin ich nicht und einen Blog habe ich auch. Keine richtig große Reichweite, aber wenn du möchtest, mache ich das”, schlug Elena vor.

“Wir können später darüber nachdenken. Gerade möchte ich lieber Abstand davon gewinnen”, sagte May. Und bewunderte sich wieder selbst für dieses unmittelbare Kommunizieren von Grenzen. Es war überraschend einfach mit Elena. Oder hatte sey einfach dazugelernt? Sey grinste wieder. Das war ein schöner Abschluss der Thematik.


Der Weg führte sie zwischen ein paar Bäumen auf Wiesen hindurch zum Teich. May mochte das Holz der Stege unter den Füßen. Sey hatte das Bedürfnis, die Schuhe auszuziehen. Selbst mit Schuhen war der Untergrund angenehm, schwang ein bisschen. Aber sey entschied sich dann doch dagegen. Das war eher etwas für Spaziergänge allein.

Es war auch hier grell, aber nicht so sehr wie in der Wohnung. Es waren statt heller Wände schattige Bäume und Büsche zugegen, die freundlicherweise davon absahen, rücksichtslos in ser Gesicht zu reflektieren. Und vor allem gab es immer Wind. Deshalb war sem nicht mehr so heiß und das war sehr angenehm. Überhaupt half das Gehen beim Fokussieren, und das, obwohl sey davon im Gespräch kaum etwas mitbekam.

“Nun habe ich das Gefühl, Persönliches von mir erzählt zu haben”, sagte May. “Und eigentlich hast du auch schon etwas erzählt, über Schattengefühle. Aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass du mich nun besser kennen müsstest, als ich dich.”

“Mist, das kommt häufig vor”, meinte Elena. “Ich erzähle viel über Themen, die mich interessieren, oder Gedanken, die ich mir so mache, aber sie wirken nicht, wie persönliche Erlebnisse wirken würden.”

“Ich will dich auch zu nichts drängen. Und vielleicht muss sich auch eher etwas ergeben. Ich habe das nicht erzählt, damit du jetzt etwas daran zu ändern versuchst, sondern um ein Gefühl zu kommunizieren”, warf May rasch ein, um Druck zu reduzieren.

“Ich plane tatsächlich, dir ein bis drei persönliche Dinge von mir zu erzählen. Teils mit Fragen verbunden.” Elena klang unsicher dabei. Sie hatte kurz gezögert, war dann etwas hastig gewesen.

Sie hat Angst, interpretierte May. Wahrscheinlich zumindest.

“Ein bis drei? Kannst du nicht so gut zählen?”, neckte sey.

“Im Zahlenraum bis zehn geht das noch ganz gut”, widersprach Elena. Ein Schmunzeln breitete sich dabei über ihre Stimme aus. “Es bedingt sich nur. Deine Antworten beeinflussen, ob die weiteren Fragen überhaupt relevant sind.”

“Das setzt mich nun überhaupt nicht unter Druck, möglichst so zu antworten, dass meine Neugierde gestillt würde.” May machte die Ironie durch überzogene Artikulation möglichst offensichtlich.

“Ich kann dir alle drei Sachen erzählen. Ich kann dir auch die Fragen nennen, die sind dann nur gegebenenfalls irrelevant”, beschwichtigte Elena.

Sie war aufgeregt, das spürte May. An der Art, wie sie redete und atmete, vielleicht etwas anders ging. Da war eine andere Anspannung. Und wahrscheinlich hatte es Mays ironischer Einwurf nicht besser gemacht. Daher fragte sey: “Möchtest du wirklich? Macht dir etwas Druck? Oder Angst?”

“Du bist gut”, freute sich Elena. “Ich möchte wirklich, nichts macht mir Druck, aber ich habe Angst.” Elena machte eine kurze Pause und sagte dann ohne besondere Bewertung in der Betonung: “Ich bin eine Schlampe.”

“Das glaube ich nicht”, beruhigte May sanft.

“Nicht?”, fragte Elena.

“Ich weiß nicht, was dich zu der Selbstbeleidigung bringt. Aber selbst, wenn du viel sexuelle Interaktion hast oder so etwas, bist du noch keine Schlampe”, stellte May klar.

“Was würde mich deiner Meinung nach zu einer machen?”, fragte Elena.

Etwas stimmte nicht mit der Art, wie sie es sagte. Vielleicht war da eine Verärgerung. Das war natürlich überhaupt nicht Mays Ziel. Vielleicht drückte sey sich nicht so gut aus. Und der Gedanke machte sem schließlich unsicher.

“Schlampe ist, soweit ich das verstehe, ein Schimpfwort, das für sexuell offenere Menschen genutzt wird, richtig? Und manchmal auch für unordentliche. Aber niemand muss dafür beschimpft werden, weder für das eine, noch für das andere”, formulierte May bedacht. “Also würde dich meiner bisherigen Meinung nach nichts zu einer machen.”

“Erstmal cool, und vielleicht nicht anders zu erwarten von dir, dass du den Begriff Schlampe nicht nur auf Frauen beziehst”, hielt Elena fest. Sie machte immer noch einen unsicheren Eindruck, fand May. Aber etwas hatte sich doch verändert.

“Aber?”, bohrte May.

“Kennst du den Begriff Reclaiming?”, fragte Elena.

“Oh”, machte May. “Noch nicht in dem Zusammenhang.” Sey überlegte einen Moment, um das Konzept zu übertragen. “Das heißt, du bist so etwas wie sexuell offen? Ist das eine sinnvolle Formulierung aus deiner Sicht? Leute bezeichnen dich deshalb gegebenenfalls als Schlampe. Da aber an sexuell offenen Lebensweisen nichts Schlimmes dran ist, nutzt du den Begriff für dich als neutrale Bezeichnung, während du gleichzeitig klarmachst, dass es in Ordnung ist so zu sein?”

“Genau. So etwa”, antwortete Elena. “Die Wörter, nach denen du suchst, sind promisque für sexuell aus der Norm fallende Personen, und Pride. Sozusagen Slut Pride in meinem Fall. Es übersetzt sich nicht so gut ins Deutsche. Stolz trifft es einfach nicht.”

May nickte. “Ja, das ist echt unschön, dass Deutsch das nicht widerspiegelt. Ich bin nicht stolz darauf, trans nicht-binär zu sein, sondern ich bin okay damit. Ich lasse mich nicht klein machen und kämpfe gegen die Unterdrückung an, gerade und stabil stehend sozusagen, weil ich so sein darf. Das drückt es für mich aus.”

“Genau”, sagte Elena schlicht. “Und Trotz.”

Sie sagten eine Weile nichts. Wolken schoben sich über den Himmel und verdeckten die Sonne. May merkte, wie sich sere Augen sofort entkrampften. Die Schmerzen, die sey längst gewaltsam ausgeblendet hatte, ließen nach. Sey atmete erleichtert.

Während sie schwiegen, versuchte sey sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Schlampe kein Schimpfwort mehr war. Ähnlich, wie schwul mal eines gewesen war, aber nun nicht mehr. Natürlich, es wurde immer noch als solches verwendet, aber nicht mehr so viel. Und vor allem trug es zur eigenen psychischen Stabilität bei, wenn ein solches Wort sich nicht mehr nach Angriff anfühlte, oder zumindest nach völlig unberechtigtem Angriff. Das konnte mit Schlampe vielleicht gut klappen.

May nickte wieder. “Ich glaube, ich habe ganz verstanden”, sagte sey. “Es tut mir leid, dass ich das vorhin einfach abgestritten habe, statt zuzuhören.”

“Du hast dann zugehört. Das ist okay, es ließ sich rasch klären”, entgegnete Elena. “Mach dir keine Sorgen darüber.”

“Okay”, versprach May.

Als Nächstes machte sey sich Gedanken, warum das etwas war, was Elena teilen wollte. Vielleicht einfach, um noch eine Facette des Queerseins anzusprechen, aber May vermutete einen situativeren Anlass. Elena hatte irgendwie eher sachlich darüber gesprochen, bevor May mit den unglücklichen und unnötigen Versuchen angefangen hatte, Elenas Selbstwertgefühl wieder aufzubauen, die dann zum Thema Queersein übergeführt hatten. Aber im Nachhinein kam es May so vor, als wäre Elena das Queere daran in dem Moment, als sie den Satz gesagt hatte, gar nicht so bewusst gewesen. Als wollte sie damit zu einem anderen, damit zusammenhängenden Thema überleiten.

“Hat es was mit dem Dating zu tun, dass du es erzählst?” Das war die erste Idee, die May in den Sinn kam.

“Ähm”, machte Elena. Es war ungewöhnlich, wie sie es schaffte, diesen Laut nicht wertend, sondern nachdenklich zu vermitteln. “Ich finde die Frage seltsam. Auf der einen Seite, natürlich. Ich bin auf Datingplattformen, weil ich eine Schlampe bin. Auf der anderen Seite, nun, wie meinst du das? Ob Daten bei mir dazu führt, dass ich eine bin?”

“Nein. Entschuldige die Irritation. Ich fragte mich, warum du mir das erzählst, und das war der erste Anknüpfpunkt, der mir in den Sinn kam”, gab May zu.

“Ah, verstehe”, sagte Elena. “Ich möchte mit dem Warum noch ein bisschen warten. Ich würde dir gern außerdem erzählen, dass ich polyamor bin.”

“Wenn du schon eine Schlampe bist…” May unterbrach sich. “Wie ist das: Darf ich den Begriff auch für dich verwenden, oder ist das was, was du nur über dich selbst sagen möchtest?

“Darfst du. In respektvoller Weise versteht sich”, erlaubte Elena.

May lächelte und führte den unterbrochenen Satz zu Ende: “Wenn du also schon eine Schlampe bist, liegt das vielleicht nahe.

Elena machte wieder einen sehr nervösen Eindruck. “Du hast wohl recht. Naheliegend schon, aber es impliziert es nicht.”

“Das ist richtig”, stimmte May zu und fragte sich, ob sey ausversehen so etwas impliziert hatte. “Ich übrigens auch. Also, ich bin auch polyamor inzwischen.”

Elena sagte einige Momente nichts und May versuchte nicht wieder zu assoziieren, woher Elenas Drang kam, sem das mitzuteilen. Und da war immer noch die Unsicherheit in Elenas Art, sich zu bewegen, die sich permanent ein bisschen veränderte. Oder war es gar nicht so, und May kam es nur so vor? Sey hatte den Drang, Elena zu berühren, an der Hand vielleicht, um Sicherheit zu geben, hielt sich aber davon ab.

“Oh!” Sem kam ein Gedanke. “Polyamor und Chris geht nicht zusammen.”

“Korrekt”, sagte Elena. “Ich hatte allein deshalb schon nie vor, mit ihm eine Beziehung anzufangen. Man kann in dem Portal nur noch nicht nach dem Kriterium polyamor filtern. Ich hatte es aber direkt gesehen. Er war für eine Beziehung mit mir nie infrage gekommen. Mich hatte einfach der Spruch dazu verleitet, das nicht so stehenzulassen.”

May hörte das eigene erleichterte Aufatmen, bevor es sey realisierte, dass sey es tat. Nicht zu sehr erleichtert, aber doch schon. Es konnte immer noch so viel passieren, war immer noch gefährlich. Aber wenn Elena nicht im Geringsten für eine Beziehung in Chris’ Sinne offen wäre, dann war es das schon um einiges weniger.

“Ich erzähle es, um eine weitere Form der Schattengefühle vorzustellen”, eröffnete Elena.

Der Atem floss dabei nicht ganz sauber, stellte May fest. Elena war kurzatmig und hatte mitten im Satz kaum merklich sogar die Luft ganz angehalten.

Dann aber atmete sie einmal bewusst ein und aus. “Es geht dabei um Verliebtheitsgefühle. Ich finde einfach eine ganze Reihe von Menschen ziemlich attraktiv. Durch ganz Verschiedenes. Durch Äußerlichkeiten, Oberflächliches, durch bestimmte Muster oder Verhaltensweisen, durch die Art, wie sie etwas sagen, oder einfach durch die Art ihres individuellen Seins. Ich brauche eine Person nicht lange zu kennen, um mit ihr eine physische Beziehung anzufangen, sofern Konsens klar abgesprochen werden kann. Für eine sexuelle oder romantische Beziehung braucht es für mich keine Grundlage einer soliden Freundschaft oder so etwas.”

May war zügig klar, dass es dabei um sem ging. Einen Moment zweifelte sey den Gedanken dann doch noch einmal an. Vielleicht wollte sey sich auch nur unbewusst ins Zentrum rücken. Oder eine gute Beziehung war einfach mal wieder dran. Aber Elenas Nervosität an den richtigen Stellen sprach doch sehr dafür.

“Ich brauche eine gewisse Grundlage. Schon so etwas wie ein Vertrauen, dass ich nicht mal eben in ein paar Tagen aufbauen kann”, stellte sey klar, leise aber, vielleicht auch für sich selbst.

“Das ist bei den meisten so. Einer der Gründe, warum ich so klarstelle, dass ich eine Schlampe bin. Leute sind so fixiert darauf, dass das nicht sein kann, dass sie dieses Wort brauchen, um es wirklich zu glauben”, erklärte Elena.

“Oh, ein interessanter Aspekt”, merkte sey an und nahm sich vor, darüber später länger nachzudenken. Sey bewunderte jedenfalls Elenas Selbstbewusstsein, da so einfach drüber zu reden. Vielleicht auch nicht ganz einfach, aber doch erfrischend entspannt und direkt.

“Jedenfalls entwickele ich dabei auch so eine Art Schattengefühl”, kam Elena zum Thema zurück und erklärte: “Ein Gefühl wie die Erinnerung oder die Vorahnung davon, verliebt zu sein. Bis es die entsprechende Person okay findet. Erst, wenn eine Person mir sagt, dass sie damit okay ist, dass ich in sie verliebt wäre, entfaltet sich das Gefühl richtig. Bis dahin ist es nur ein Schattengefühl.”

May lächelte. Sey mochte diesen Gedanken. Es war anders bei sem, glaubte sey. Vielleicht auch nicht ganz anders. Verliebtseinsgefühle wuchsen bei sem langsam. Aber das Wachsen hing schon damit zusammen, dass die andere Person zurückmochte. Eigentlich fand sey es äußerst attraktiv, gemocht zu werden. Und fragte sich, ob das ein Überbleibsel der Fremdgefühle war. Aber wahrscheinlich nicht. Es war nichts Schlimmes dabei, gemocht werden zu mögen.

“Was, wenn die Person es nicht okay findet?”, fragte May.

“Dann stirbt das Schattengefühl”, sagte Elena schlicht. Sie hob nachdenklich die Hand an ihr Kinn. “Das klingt brutal. Es ist überhaupt nicht brutal. Es braucht ungefähr eine Minute bei mir, bis sich meine Gefühlswelt mit den Möglichkeiten abstimmt. Es vergeht dann einfach. Es fehlt mir dann auch nicht, dann ist da Platz für Neues. Es interessiert mich dann auch nicht mehr, weil ein Verliebtseingefühl für mich einfach keinen Sinn ergibt, wenn die Gegenseite das nicht mag. Im Verliebtheitsgefühl ist für mich Konsens dafür mit inbegriffen. Es ist schwer zu beschreiben. Hast du Fragen oder eine Vorstellung?”

“Ist es so, als wäre das Schattengefühl dann nie da gewesen?”, fragte May.

“Ja. Also, ich weiß dann noch, dass es mal da war. Reines Wissen”, bestätigte Elena.

“Cool”, sagte May und meinte es. Eine Fähigkeit, die alles einfacher machen würde. Das Neinsagen zum Beispiel. Weil sey Elena dabei nicht enttäuschen würde. Aber auch allein der Umstand, dass es Elena dann wohl nicht passierte, sich unglücklich zu verlieben. Oder doch? Besser sey fragte: “Verliebst du dich dadurch nie unglücklich?”

“Zumindest ist es noch nie passiert”, bestätigte Elena. “Und es kommt mir unlogisch vor, wegen der Schattengefühlsache, dass es mir passieren könnte.”

“Sehr cool irgendwie”, wiederholte May.

Sey stellte fest, dass sie inzwischen wieder an dem Steg angekommen waren, an dem sey überlegt hatte, die Schuhe auszuziehen. Aha, sie waren also bereits einmal um den See gelaufen. Mindestens einmal. Sey musste darüber schmunzeln, das so wenig mitbekommen zu haben.

“Hast du weitere Fragen?”, fragte Elena.

“Was, wenn eine Person sagt, sie wisse noch nicht? Was passiert dann mit der Schattenverliebtheit? Und wie aushaltbar ist es?”, fragte May.

“Dann bleibt es eine Schattenverliebtheit. Feines Wort.” Elenas Stimme hatte einen weichen, warmen Ton angenommen, mit breitem Lächeln darin. “Es ist nicht nur aushaltbar. Es ist vielleicht wie eine bestimmte Art der Bewunderung.”

“Klingt schön.”

“Ist es”, bestätigte Elena. Sie zögerte. Es war hörbar, dass sie nicht fertig war. Trotzdem brauchte es noch ein paar Atemzüge, bis sie zaghaft fragte: “Wie wäre es für dich, wenn ich für dich eine Schattenverliebtheit empfände?”

Obwohl sey damit gerechnet hatte, wurde sem plötzlich ganz kribbelig und warm. Es war einfach schön, gemocht zu werden. “Offen gestanden rechne ich derzeit damit.”

“Du rechnest richtig”, sagte Elena, wieder mit den Atemflussstörungen darin. “Verflixt bin ich nervös!”

“Ich kann damit umgehen. Wie ich schon sagte, brauche ich länger. Bei mir entwickelt sich so etwas langsamer. Das war vielleicht auch schon der Grund für die letzte Frage”, sagte May. Und hoffentlich, überlegte sey, konnte sey sich von den plötzlichen Sympathiegefühlen, die Elenas Geständnis auslösten, ausreichend distanzieren, um zu wissen, ob sey zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft wirklich wollte oder eben nicht.

“Verstehe”, sagte Elena lächelnd. “Wie gesagt. Ein Wort von dir, dass es nicht okay ist, und das Gefühl ist weg.”

“Kannst du es einfrieren? Oder Pausieren? Geht das auch?”, fragte May.

“Also die Frage, ob das Schattengefühl wiederkommen kann, wenn es einmal weg war, weil du gesagt hättest, dass du nicht willst?”, fragte Elena.

“Ja. Also hypothetisch, dass ich im Moment nicht wollte, aber irgendwann in Zukunft vielleicht?”, präzisierte May.

“Ja. Kann ich. Aber dann müsste die Initiative von dir kommen. Ich würde das dann als ein klares ‘du möchtest das nicht’ nehmen, bis du etwas anderes sagst. Etwas Eindeutiges.”

May überlegte. Aber nur einen Moment, dann unterbrachen Wahrnehmungen der Außenwelt sere Gedanken und führten zu einem Fokuswechsel. Sie waren vom Weg abgewichen. Wahrscheinlich, weil der Weg durch zu viele Leute bestreut war und nicht am See entlang führte. Sie gingen nun direkt über die Wiese und zwischen Gänsescheiße entlang zum Seeufer. Der Wind trieb Wellen darüber, roch angenehm. Der Boden war weich und fedrig. May atmete, und kehrte dabei unvermeidlich zurück in die interne Welt.

“Behalt deine Schattengefühle erst einmal”, beschloss sey. “Ich melde mich, wenn sie mir unangenehm werden würden. Aber eigentlich genieße ich sie auch.”

“Okay”, sagte Elena. “Sie sind, wie gesagt, auch nicht stark oder so etwas. Mehr, eben, wie eine Erinnerung, nur, dass es eher eine Option für die Zukunft ist. Aber von der Empfindungsstärke her.”

“Es ist schon sehr cool, so etwas so genau beschrieben zu bekommen”, hielt May fest. “Bei der wievielten Sache der drei Dinge sind wir jetzt eigentlich.”

“Immer noch bei der ersten”, murmelte Elena.

“Oh, dann wird dieses Kapitel ganz schön lang”, stellte May trocken fest.

Elena prustete los. “Wow, du bist soo großartig! Echt!”

May wartete, bis Elena sich etwas beruhigt hatte, nahm dabei tatsächlich eine kühle Windböe wahr, die durch einen Baum rüttelte und in sere Kleidung griff. Es fühlte sich wunderschön an. “Fehlt noch eine Ergänzung zur ersten Sache?”

“Die Frage dazu war, wie du dich damit fühlst, und ich denke, die ist beantwortet, es sei denn du möchtest noch etwas ergänzen”, antwortete Elena.

“Wenn ich nicht nie wieder etwas dazu sagen darf, dann gerade nicht. Ich bin neugierig. War das eine Antwort, die die zweite Sache schon obsolet macht?”

“Nein”, sagte Elena grinsend. “Die zweite Frage fängt etwas out of context an. Hast du vom H:O:A gehört?”

May fing an, nachzudenken, und entschied dann spontan, es laut zu tun. “H:O:A klingt so wie W:O:A, was kurz für Wacken Open Air ist. Mit H wäre das Hacken Open Air. Nee, ernsthaft?” Nun musste sey schnauben.^[Anmerkung des Schreibfischs: Das H:O:A gibt es tatsächlich.]

Sey stellte sich das größte Metalfestival Deutschlands, das W:O:A, vor, aber alle liefen mit Laptops herum, mit Stickern beklebt, hatten LEDs im Haar und an ihren nerdigen Kostümen, einen Lötkolben oder Phasenprüfer hinter dem Ohr… Sey musste sehr grinsen. Das war dann vielleicht doch eine übertriebene Vorstellung eines Hackfestivals.

“Ernsthaft.” Elena grinste und gestikulierte begeistert. “Es findet gleichzeitig zum W:O:A statt, ist aber ziemlich klein. Noch. So etwa 200 Leute. Ich habe eine Karte übrig, weil meine Freundin mies erkältet ist und das da freundlicherweise nicht verteilen möchte.”

“Und du möchtest mich fragen, ob ich mitkommen möchte?”, vermutete May.

“Genau”, bestätigte Elena.

“Und dazu war das Vorgespräch über Schattenverliebtheit wichtig, weil dir wichtig ist, dass ich weiß, worauf ich mich einließe?”, mutmaßte May weiter.

Auch dies bestätigte Elena. “Ja, so ungefähr. Es kam mir nicht richtig vor, das im Zweifel erst dort zu besprechen.”

“Ich nehme wegen der Sache mit der Erkältung an, dass es gleich das Wochenende in zwei Tagen ist?”, fragte May.

“Auch das ist richtig.” Unsicherheit in der Stimme, aber auch ein Lächeln.

“Ich habe noch nichts vor, ich komme mit”, sagte May.

“Was zum!”, brachte Elena hervor. “Also, ich freue mich. Riesig. Wow! Aber das war heftig viel spontaner, als ich irgendwie erwartet hätte.”

“Wir wollen ja den Plot etwas durcheinander bringen”, meinte May mit einem Schmunzeln, dass sey auch nicht unterdrückte, als sey hinzufügte: “Spaß bei Seite. Ich bin schon immer gelegentlich heftig spontan gewesen. Das hat schon einige überrascht. Ich würde mal vermuten, die dritte Frage ist dadurch auch noch relevant?”

“Ja”, sagte Elena. “Aber vielleicht muss ich mich erst noch etwas erholen. Ich meine, es ist noch so viel nicht geklärt. Du weißt nicht, wie du hinkommst. Wie ist das, würdest du auch mit mir in einem Zelt schlafen oder hast du dein eigenes?”

“Wir kriegen das schon geklärt. Wenn das für dich mit deinen Schattengefühlen okay ist, würde ich mit dir ein Zelt teilen. Das ergibt Sinn für mich, nicht ein eigenes zu haben. Ich mag naiv sein, aber dein ganzes Auftreten schreit, dass dir Konsens wichtig ist und du dich mir nicht aufdrängen würdest”, überlegte May.

“Ganz sicher nicht. Wenn doch, darfst du mich gern hauen. Aber nein, werde ich nicht tun”, versprach Elena. “Dennoch kreist um so etwas meine dritte Frage. Auf dem H:O:A wird ein Workshop angeboten werden: Mental Training Against Sexual Harassment. Ich würde da gern hingehen. Es geht dabei für mich um das Gefrieren. Das, was du beschrieben hast in der Situation mit diesem Urxmenschen, der vor dir stehen geblieben ist, als du einen Blindenstock ausprobiert hast. Diese Ohnmacht in Situationen, in denen übergriffiges Verhalten passiert. In dem Workshop sollen unter anderem Methoden erarbeitet werden, wie man mental diesen Zustand des Gefrorenseins irgendwie überwinden kann. Das hört sich gleichzeitig unmöglich, aber auch sehr spannend an. Da ich so etwas oft habe, wollte ich da gern hin. Und zum einen hatte ich den Eindruck, es könnte für dich wegen deiner Geschichte auch interessant sein. Aber zum anderen hätte ich auch gern eine Person dabei, die mich im Falle eines mentalen Einbruchs – so nenne ich das mal – da rausführen kann und bei mir ist.”

“So viel Vertrauen hast du bereits in mich?”, fragte May etwas verwirrt, aber auch besorgt. Natürlich wollte sey da sein und vielleicht wirkte diese Reaktion nicht so willkommen heißend, wie sey es gern gehabt hätte. Aber sey fand die Frage wichtig.

“Es kommt nicht so furchtbar sehr darauf an, ob wir uns gut kennen oder wie gut du dich mit meiner Psyche auskennst. Ich würde dich genau einweisen, was im Falle des Falles zu tun wäre, wenn du wolltest, und überhaupt selbst kannst. Es geht mehr darum, dass eine eingeweihte Person dabei ist, die sich dann um mich kümmern kann, ohne, dass der Rest der Gruppe involviert werden muss”, erklärte Elena.

“Ah, ich verstehe.” Das war vielleicht etwas in der Richtung, was sey als Vorbereitung auf das Blindenstockexperiment getan hatte. Sey hatte sich zuvor mit Enne unterhalten. Aber auf so eine Situation von Ignoranz waren sie nicht vorbereitet gewesen, sie waren nicht auf die Idee gekommen, über so etwas im Vorfeld zu sprechen. Wer hätte auch damit rechnen können? “Ich mache das gern”, versprach May.