Wandgefühle

Sie fuhren mit dem Zug nach Braunschweig, von wo aus Bekannte von Elena sie mit dem Auto auf einen Campingplatz mitnahmen. Es war anstrengend. Zugfahren ging noch wegen der Anonymität, auch wenn Umstiege ähnlich wie Straßenqueren mit noch nicht vertrauten Menschen stressten. Aber die einstündige Autofahrt mit gegenseitigem Vorstellen strengte schon sehr an. In diesem Fall handelte es sich immerhin um Bekannte von Elena aus der Chaos-Szene, in welcher die Quote an Leuten, die sich schon mit queeren Themen befasst hatten, immerhin höher war als im Alltag. Das war ein Vorteil. Eine Chaos Veranstaltung kam ohne einen queer-feministischen Treffpunkt nicht aus und sicher würde May einige treffen, die sey kannte. Das war einer der Gründe, warum es sem so leicht gefallen war, spontan zuzusagen. Obwohl, Mays erste Berührung mit der Chaos Community war ebenso spontan gewesen.

Sey war sehr erleichtert, als sie auf dem Campingplatz ausstiegen, das eigene Gepäck ausgeladen hatten und das Auto sich einen Parkplatz suchte. Es war heiß. Kein Küstenklima, das irgendwie gnädig oder rücksichtsvoll mit sem umgegangen wäre. Und doch war es ein unglaublich befreiendes Gefühl, hier auf dem stoppeligen Boden von ausgedörrtem, umgeknicktem Leichtgestrüpp zu stehen, kein großes Haus ringsum, kein Beton. Selbst das Sanitärhäuschen war ein großer Container auf Stelzen mit Rohren. Es gab größere Sanitärhäuschen ein Stück weiter weg, wohin sey sich auch noch hinorientieren wollte, bevorzugt beim ersten Mal nicht allein, aber aufmerksam auf den Weg achtend. Eine geradezu unmögliche Kombination.

Sie suchten sich einen Platz am Rand der Camping-Area weit weg von der Bühne, der aber, weil das Gelände insgesamt nicht so groß war, trotzdem nicht so weit weg vom Geschehen war. Elena hatte für ihre Freundin und sich ein Tunnelzelt geliehen, dass sie nun mit May aufbaute. Sie gab gute Anweisungen, aber May fühlte sich trotzdem etwas fehl am Platz. Wahrscheinlich bedurfte es eines wirklich krassen Selbstbewusstseins, sich in einer solchen Situation nicht so zu fühlen. Anschließend wollte sey sich nur noch hinlegen. Für einige Momente zumindest. Sey blies allerdings zuvor noch die Luftmatratze auf.

“Wird dir nicht schwindelig dabei?”, fragte Elena.

May ließ sich nicht unterbrechen und schüttelte Kopf. Sey hatte nie ein Problem damit gehabt, langsam, gleichmäßig und kräftig zu atmen, und wenn dabei beim Ausatmen die Luft eben in die Matratze entwich statt nach anderswohin, dann änderte das auch nichts am Empfinden. Sey lag auf dem Rücken dabei, den Körper halb unter der sich aufblähenden, unhandlicher werdenden Matratze ausgestreckt. Sie hatten sich dazu entschieden, auf einer gemeinsamen zu schlafen. Wenn sie schmal gewesen wäre, wäre es May vielleicht zu eng oder zu unheimlich gewesen, aber Elena besaß eine breite. Sie roch, als wäre sie noch nicht oft benutzt worden, nach einer Kreuzung aus Plastik und Lösungsmittel, nicht so penetrant, dass May Kopfschmerzen bekommen hätte. Und voraussichtlich würde der Geruch rasch einigermaßen verfliegen, weil alles sehr offen war. Elena rödelte am Gepäck, bis May fertig war und sich auf die eine äußere Seite der Matratze gelegt hatte.

“Darf ich mich dazulegen? Oder soll ich lieber einen Spaziergang machen und dir ein bisschen Ruhe geben?”, fragte Elena.

“Ganz wie dir beliebt. Ich will einfach ein bisschen durchatmen. Also nochmal woanders hin als in die Matratze. Mich ausruhen, bevor ich mich umschaue”, erklärte May. Sey lag auf dem Rücken.

Die Luft in der Matratze wellte die Liegefläche, als Elena sich neben sem legte. Die Geräusche verrieten, dass sie auf einem Laptop tippte. Nicht viel. Nur ein paar Sätze oder so etwas, alle paar Minuten, mit leise klapperknisternden Laptoptasten. Elena lag auf dem Bauch. “Das Passwort für das WiFi ist übrigens ‘sehr sicher’”, informierte sie.

Sey musste schmunzeln. Es war ein alter Witz, das Passwort auf so eine Art zu wählen, die sich selbst verulkte. Aber auch, wenn sey das Prinzip bereits kannte, war es einfach immer noch gut. “Camel Case?”, fragte May. Wobei es das auch nicht ganz eindeutig machte. Manche verstanden unter Camel Case ‘sehrSicher’ mit kleinem ersten Buchstaben, manche ‘SehrSicher’ mit großem Anfangsbuchstaben.

“Klein, mit Leerzeichen”, widersprach Elena.

“Oh, das ist überraschend!” May hob kurz die Augenbrauen.

Elena klappte den Rechner zu und schob ihn an ihre Zeltwandseite. “Ich habe ein paar Leute angeschrieben, dass wir da sind, und ruhe nun auch noch ein bisschen die Augen aus.” Sie drehte sich auf den Rücken, wodurch die Matratze wieder Wellen schlug. Dann lag sie einfach ruhig da. Der Atem beruhigte sich.

Woher diese Gedanken kamen, war sem nicht ganz klar. Aber da war unvermittelt die Vorstellung einiger sanfter Fingerspitzen, die sem über den Rücken liefen. Über den nackten. Sey trug ein T-Shirt, eines aus dem Chaos Merchandise, und jegliche Finger, die nicht zu serem Körper gehörten, lagen unter Elenas Kopf oder waren noch viel weiter weg. Sey fragte sich, was diese Schattenverliebtheit beinhaltete, was passieren würde, wenn sey sagte, sie dürfe aus dem Schatten kommen. Welche Vorstellungen und Wünsche Elena dann wohl hätte. Ser Zwerchfell zitterte ein bisschen bei der Vorstellung von Elenas Lippen auf seren.

Sey fragte sich plötzlich, ob es übergriffig wäre, sich das vorzustellen. Aber es folgte daraus nichts. Sey hatte sere Vorstellungen noch nie eingeschränkt, aber kannte Diskussionen darüber, ob das okay wäre, und Argumente, warum es das vielleicht nicht wäre. Aber war es in diesem Fall nicht vielleicht etwas anderes? Weil die Frage schon im Raum stand? Und trotz dieser Gedanken schob May die Vorstellung beiseite. Sey hatte sie an den vergangenen zwei Abenden zum Einschlafen schon gehabt, aber nun mit Elena direkt neben sem war es doch etwas seltsam.


Neben dem Anmeldezelt hatte eine Gruppe hauptsächlich bestehend aus Mitgliedern aus dem Stratum0, dem Hackspace aus Braunschweig, einen Swimmingpool aufgebaut. Dazu hatten sie Baumarktpanelen in einem Kreis aufgestellt und mit Spanngurten zusammengeschnürt, dann eine wasserdichte Plane daran getackert und die Konstruktion mit Wasser befüllt. Es hätten sicherlich zwölf Leute darin Platz gefunden, aber als May und Elena dort kurz vor Abenddämmerung ankamen, nachdem sie sich ausreichend erholt hatten, waren darin nur drei Personen. Sie lösten sich aus einem knutschenden Knäuel, als Elena und May sich ebenfalls ins Wasser begaben. Das kühle Wasser war so angenehm nach der Fahrt in höchstens semierfolgreich klimatisierten Zügen und im heißen Auto.

May tauchte unter, verharrte unter Wasser einige Momente und atmete nach dem Auftauchen erlösend, während sey sich das nun schwerere Haar hinter den Rücken stich.

“So sehr ich diese Sache auch genieße, sie ist schon ziemlich dekadent” bemerkte Elena. “Einfach so so eine unglaublich große Menge Wasser nur zum Abkühlen in ein solches Becken für ein paar Tage zu füllen.” Sie wirkte allerdings keineswegs sehr betroffen.

“Es wird vermutlich noch schlimmer”, meinte May. “Guck dir an, wie trübe es jetzt schon ist. Morgen wird es undurchsichtig sein, und dann wird das Wasser vermutlich gewechselt.”

“Nein, das nicht!”, widersprach Elena mit Freude in der Stimme. “Es ist zwar noch nicht aufgebaut, aber ich rechne damit, dass sie es wie letztes Jahr machen und eine Kläranlage anbauen.”

“Eine Kläranlage?” May brachte bewusst Irritation in die Betonung.

“Ein Filtersystem zumindest. Ein Pumpsystem, dass das Wasser durch Kies und andere Schichten pumpt”, konkretisierte Elena.

“Ist es laut?”, wollte May wissen.

“Kaum hörbar. Der Wind ist lauter”, entgegnete Elena.

Neben den Windgeräuschen in den Wipfeln war auch Klaviergeklimper hörbar. May hatte es zunächst für abgespielte Musik gehalten, aber es waren zu oft ungeplante Töne aufgetaucht, sowie Pausen, die wahrscheinlich dem Zweck dienten, dass sich ein ungewollt verknotetes Fingerknäuel enthedderte, bevor es das eigentliche Stück weiterspielen konnte. May fühlte sich freudig deswegen. “Live Musik.”

“Das Klavier hat Phinöx mitgebracht”, informierte Elena sem. “Jede Person darf darauf spielen. Willst du vielleicht?”

“Uff, uff”, sagte May bloß. Erst einmal. Aber als Elena eine Weile schwieg, die Aufmerksamkeit auf sem gerichtet, führte May doch aus. “Klavier vor anderen zu spielen, ist eine ganz andere Sache, als Klavier für mich zu spielen.” Sey überlegte einen Moment, ob das wirklich so stimmte. “Es kommt auf die Menge an, natürlich. Auf viel Kontext. Wenn ich für eine Person spiele, die ich gut kenne, dann kann ich dabei quasi erzählen. Wenn ich für eine unbekannte Gruppe spiele, ist es Performance. Aber irgendwie muss für mich die Atmosphäre zu Performance passen. Dann möchte ich, dass man mir auch zuhört.”

Sey hörte auf. Es kam sem durcheinander vor. Als wäre nicht klar, was sey eigentlich sagen wolle.

Elena wartete eine ganze Weile, ob May fortfahren würde, bevor sie fast verlegen murmelte: “Du sagtest ‘erzählen’. Das interessiert mich irgendwie.”

May schloss ganz die Augen. Es war einigermaßen schattig. Wind kühlte sere nassen Schultern. Die Töne berührten seren Rücken, der sich in zarten Wellen entspannte. Sey lächelte. “Ich war in dieser toxischen Beziehung mit Chris, und davor in einer anderen. Lautsein oder Emotionen äußern ging nicht, vor allem, wenn es um welche ging, die bedeuteten, dass die andere Person in der Beziehung was falsch gemacht hätte. Der Weg, mich trotzdem auszudrücken, war dann Musik.”

Das Gefühl der Musik auf der Haut, die die Person am Klavier spielte, fühlte sich ähnlich an, als wäre der Nackenbereich kurz zuvor von Fingern berührt worden, überall gleichzeitig. May erinnerte sich an die Vorstellung im Zelt. Sey fragte sich, wie es sich bei Elena anfühlte.

“Was drückt beim Spielen die Emotion aus?”, fragte Elena. “Wenn es okay für dich ist, darüber zu reden. Ich meine sowas wie, laut, wenn Wut, oder schnell, wenn aufgeregt? Oder ist es komplizierter?”

May legte sere Hände so auf die Wasseroberfläche, dass sie gerade so etwas Kraft brauchten, um Wasser zu verdrängen. Minimal. Dann fühlte sich die Oberflächenspannung des Wassers immer sehr besonders an den Handteller- und Fingerseiten an. Das Gewicht und die Balance der Hände auf dem Wasser fühlten sich auch schön an. Wichtig irgendwie. Sey hatte die Augen immer noch geschlossen. “Ich wünschte, ich könnte sagen, so einfach ist das nicht”, sagte sey. “Und an sich ist es das auch nicht, aber die Elemente passen schon einigermaßen. Wenn ich wütend bin, spiele ich meistens lauter, bei mancher Wut auch stattdessen sehr akkurat. Wenn ich aufgeregt bin, meistens schneller. Aber es ist so viel facettenreicher und schwer zu erklären, weil es eine Sprache ist, die Emotionen ausdrückt, die gar nicht in unserem verbalisierten Wortspektrum enthalten ist.”

“Ich finde das so unglaublich spannend!”, sagte Elena. In der Stimme schwang eine Begeisterung mit, die May dann doch überraschte. “Entschuldige. Ich erforsche einfach gern Menschen. Phänomene sozusagen, die nicht so bekannt sind.”

“Für deine Charaktere in deinen Büchern?”, mutmaßte May.

“Ich bin nicht sicher, ob der Zusammenhang nicht eher andersrum ist. Also, dass mein Interesse daran, bestimmte Charaktere zu entwerfen und zu schreiben, nicht eher daher kommt, dass ich Charakterzüge spannend finde und im realen Leben kennenlerne”, überlegte Elena. Die Begeisterung war nicht im Geringsten geschrumpft.

“Komme ich dann irgendwann in einer deiner Geschichten vor?”, fragte May. Sey war sich nicht sicher, ob sey sich dabei unbehaglich fühlte. Ein kleines bisschen vielleicht. Es käme darauf an, wie sehr sey davon wusste und wie viel von sem in der Geschichte wäre.

“In dieser hier kommst du ja nun vor”, scherzte Elena und sie beide mussten wieder leise kichern. “Aber außerhalb dieser Geschichte, die wahrscheinlich den Titel ‘Der Fall der vierten Wand’ tragen sollte, kommt es drauf an. Eigentlich bastele ich eigene Charaktere, die eine Mischung aus Charaktereigenschaften haben, denen ich begegne. Dabei muss es natürlich motiviert bleiben. Manchmal hat eine Charaktereigenschaft ja eine Ursache oder korreliert irgendwomit. Wenn es eine Charaktereigenschaft ist, die sensibel wäre oder relativ eindeutig auf eine Person zurückführbar wäre, würde ich die Person fragen oder mir ein Sensitivity Reading suchen.”

“Ein Sensitivity Reading? Ist das so etwas wie, wenn du darüber schreiben würdest, nicht-binär zu sein, und mich dann fragen würdest, ob du das authentisch und sensibel gemacht hättest?”, fragte May.

“Ich selbst würde keine Geschichte mit einer nicht-binären Hauptperson schreiben. Zumindest nicht, wenn die Identität zentraler Bestandteil der Geschichte ist”, stellte Elena sanft klar. “Aber ich würde gern einen wichtigen nicht-binären Nebencharakter im Plot haben. Wenn ich soweit bin, würde ich dich vielleicht fragen, vorausgesetzt du möchtest das gern, und vorausgesetzt, ich traue mich das.” Elena wirkte wieder so unsicher wie in den vergangenen Tagen, wenn es um Themen gegangen war, die nicht sie betrafen. “Ich will damit nicht sagen, cis Personen dürften keine Texte aus der Sicht von zum Beispiel trans Personen schreiben, selbst wenn es um die Identität ginge. Ich denke, es ist komplex und ich habe dazu keine abgeschlossene Meinung. Ich möchte es für mich nicht.”

“Interessante Gedanken, aber meine Frage hast du nicht beantwortet”, erinnerte May.

“Die war? Moment. Ah, ja, genau, es wäre vielleicht ein Sensitivity Reading oder zumindest etwas Ähnliches, wenn du meine Geschichten läsest und beurteilst, ob ich das sensibel und authentisch machte.” Elenas Stimme grinste am Ende des Satzes. Sie warf ein: “‘Läsest’. Welch schöner Konjunktiv”, bevor sie weiter ausführte: “Es wäre zumindest ein Sensitivity Reading, wenn du nicht nur deine eigene Wahrnehmung zum Thema kennst, sondern auch ein Bild der Diskurse und so hast und auch dazu etwas sagen kannst. Ein Sensitivity Reading ist auch ein Lektorat und ich kann eigentlich nicht beurteilen, ob du das in der Gänze leisten kannst. Und ich müsste es mir auch leisten können. Sensitivity Reading ist Arbeit und sollte bezahlt werden.”


Als Geruch nach Abendessen direkt vom großen Zelt nebenan über den Pool stromerte, verließen sie ihn und kauften sich aus der Community betriebenen Zeltküche veganes Erbsencurry. May war danach müde genug, um schon zu schlafen, während Elena sich noch mit Befreundeten traf. Es war nicht so, dass May nicht auch mit Personen befreundet gewesen wäre, die hier vor Ort waren. Aber sey war einfach sehr müde und morgen würde ein intensiver Tag werden. Sey schlief entspannt, weil es angenehm kühl war.


Nachdem sie gemeinsam gefrühstückt hatten, fand ein Lötkurs statt, an dem sie zunächst auch beide teilnahmen. Aber während Elena ihn zu Ende machte, hatte May viel mehr Interesse an einem Workshop, in dem mittels Elektrolyse Muster in Metall ‘graviert’ wurden. Eigentlich hatte es mit Gravur nichts zu tun, aber das Ergebnis war ähnlich. Sey saß dazu stundenlang konzentriert in einem dunklen, hohen Zelt, entwarf Muster mit einem Grafikprogramm, die anschließend von einem Cutter auf Folie ausgeschnitten wurden. Das Negativ wurde auf das Besteck geklebt, das sey von zu Hause mitgebracht hatte. Mit Salzwasserlösung, Alufolie, Haushalsrolle und Netzteil konnte der Elektrolyse-Prozess eingeleitet werden, der nicht abgeklebte Metallschichten abtrug. Es hinterließ ein sichtbares, aber auch haptisch erfühlbares Muster, über das sey immer wieder mit den Fingern strich. Vielleicht würde sey sich ein Netzteil zulegen, mit dem das auch zu Hause ginge.

Anschließend entschied sich May, eine Küchenschicht zu machen. Es war schon die für das Abendessen. Mittagessen hatte sey verpasst. Sey schnitt haufenweise Zwiebeln klein, die eine Person neben sem zuvor schälte.

Sey hatte Elena nicht hereinkommen gesehen, aber hörte plötzlich ihre Stimme. Und musste grinsen. Also machten sie wohl auch die Küchenschicht zusammen. Sie unterhielten sich allerdings nicht. Es war relativ laut und ging hektisch zu. Es wurde kaum über Dinge kommuniziert, die nicht unbedingt zur Verständigung nötig waren.


Der Workshop ‘Mental Training Against Sexual Harassment’^[Anmerkung des Schreibfischs: Ich habe auf mindestens einer Chaosveranstaltung einen Workshop mit dem Titel “Mental Training Against Sexual Harassment” durchgeführt. Aus Privatsphäregründen habe ich selbstverständlich keine Geschichten aus diesem Workshop hier direkt wiedergegeben. Das Setup halte ich allerdings für sehr realistisch. Ich rede mit Menschen sehr viel über so etwas und habe Szenarien dargestellt, wie sie sehr häufig auftreten, möglichst ohne persönlichen Bezug.] fand am späteren Abend des selben Tages statt. Als sie das dunkle, runde Zelt aus Tuchstoff erreichten, war eine Person gerade damit beschäftigt, ein Schild an den Eingang zu hängen, das auf den Workshop und auf Triggerwarnungen bezüglich Trauma bei sexueller Übergriffigkeit hinwies. Im Zelt war es ruhig und kühl. Es herrschte eine gespannte Stille, die hin und wieder davon unterbrochen wurde, dass eine Person hereinkam, die fragte, ob sie hier für den Workshop richtig wäre. Sechsmal passierte dies, eine Person fragte für zwei und zwei vertrauten einfach darauf, richtig zu sein. Die Leitung war in ein flauschiges, kurzärmliges Kostüm gekleidet und hatte langes Haar, das sich von allen anderen Haarprachten im Zelt vorteilhafterweise abhob, indem es blau war. Im Kontext von Chaosveranstaltungen stachen blaue Haare weniger oft hervor als anderswo, aber es machte Wiedererkennen doch einfacher. Als alle da waren, stellte sich die Person vor. “Hi, I am Shystorm and I have no preferred pronoun. Ich bin Shystorm und meine Pronomen sind egal. Is there someone who would prefer the Workshop to be in English?”

Niemand reagierte.

“Gibt es eine Person, die Deutsch bevorzugt?”, fragte Shystorm.

Eine Person hob die Hand. “Unter den Umständen, dass es niemanden ausgrenzt, schon.”

“Dann findet er auf Deutsch statt”, verkündete Shystorm.

“Nur zur Sicherheit, fällt ‘shy’ unter Pronomen egal?”, fragte May rasch, bevor es richtig losgehen würde. Nur Momente nach serem Einwurf erinnerte sey sich, dass sey eigentlich nur als Begleitung hier war und den Mund hatte halten wollen.

“Du darfst ‘shy’ als Pronomen für mich verwenden, wenn das die Frage war”, sagte Shystorm freundlich. Einen Moment schien shy verlegen oder aus dem Konzept gebracht. Vielleicht fühlte es sich deshalb merkwürdig übergangslos an, als shy wieder mit der Einleitung fortfuhr. “Zunächst erstmal, dies ist der Workshop ‘Mental Training Against Sexual Harassment’. Seid ihr alle deswegen hier?”

Shy wartete einen Moment, und tatsächlich stand eine der beiden Personen, die nicht gefragt hatten, auf und erkundigte sich nach dem Ort für einen anderen Workshop. Elena schlug ihn freundlicherweise rasch auf ihrem Smartphone nach.

Als die Person weg war, fuhr Shystorm fort: “Wie der Name des Workshops sagt, geht es unter anderem um Sexual Harassment, um sexuelle Belästigung. Das ist ein hartes Thema für einige. Deshalb würde ich gern mit euch am Anfang ein paar Sicherheitsregeln besprechen, so etwas wie Grenzen und Umgangsregeln, um ein sicheres Setup zu”, shy suchte nach Worten und korrigierte sich, “damit das Setup Sicherheit und Raum für uns alle bietet. Zunächst einmal, jeder Person ist es erlaubt zu weinen.” Während Shystorm am Anfang noch etwas geschäftlich geklungen hatte, wandelte sich der Stimmausdruck zum Ende zu etwas Herzlichem.

“Ein Verbot stelle ich mir auch schwierig vor”, murmelte eine Person, und fügte nach kurzem Zögern lächelnd hinzu: “Kein Angriff. Ich finde voll gut, dass du das explizit sagst.”

“Manchmal kommen mir schon Tränen, wenn eine Sache schlimm ist, wenn mir jemand explizit erlaubt zu weinen”, murmelte eine andere Person.

“Ist es unangenehm? Ist es für dich dann okay zu weinen, oder wärest du lieber nicht erinnert worden?”, fragte Shystorm mit sanfter Stimme.

Das waren mal Konsensstandards, dachte May für sich. Es war schwierig, es jetzt umzudrehen, aber diese sensible Frage überraschte sem schon. Sey hatte keine Ahnung gehabt, worauf sey sich hier eingelassen hatte. Das wäre kein Workshop gewesen, den sey sich ausgesucht hätte. Aber nun war sey sehr zufrieden, Elena zu begleiten, selbst wenn gar nichts passieren sollte. War es überhaupt möglich, bei diesem Herantasten, dass etwas passierte?

“In diesem Kontext ist das okay”, antwortete die Person. “Ich möchte dann nur in Ruhe gelassen werden.”

“Das ist tatsächlich der zweite Punkt, auf den ich eingehen möchte”, sagte Shystorm. “Ich würde gern eine Runde machen, in der ihr jeweils mitteilt, mit welchen Reaktionen ihr bei euch rechnet. Wesen reagieren verschieden auf diese belastenden Themen. Wenn ihr mögt, teilt uns mit, was bei euch eintreten könnte, wie zum Beispiel weinen. Oder auch, dass ihr einfach nicht mehr reden könnt.” Shystorm blickte einmal in alle Gesichter in der Runde. “Außerdem teilt uns gern mit, welches Verhalten von uns in der Sitation dann gut wäre. Etwa, ob ihr gern tröstend angefasst werden oder in den Arm genommen werden mögt, und von wem. Oder ob gerade dies nicht. Ob ihr Aufmerksamkeit haben möchtet oder lieber möglichst nicht beachtet werden wollt. Seid ihr damit einverstanden? Oder habt ihr Ergänzungen oder Vorschläge?”

“Können wir zwei Runden machen?”, meinte die Person mit dem Kommentar über ein Verbot, dieses mal ernster, vorsichtiger. “Manchmal bekomme ich erst durch die Inspiration durch andere Ideen, was ich brauche.”

“Gute Idee”, stimmte Shystorm zu. “Wir können mehrere machen, bis es nichts mehr zu ergänzen gibt.”

Einige stimmten murmelnd zu, andere vielleicht durch Nicken. May verstand nicht genau, wie das gemeint sein sollte, aber da es hier nicht um sem ging, sagte sey nichts dazu. Das würde sich auch beim Erleben herausfinden lassen.

Nach diesen Absprachen kam Shystorm zur eigentlichen Einleitung: “Die Idee des Workshops, die aber auch beliebig wandelbar ist, ist, dass wir jeweils von einer Situation erzählen, die passiert ist, oder von der wir uns vorstellen könnten, dass sie passiert, oder vor der wir Angst haben, in der uns sexuelle Übergriffigkeit widerfahren ist”, erklärte shy etwas wirr, aber durchaus enthusiastisch. “Natürlich ist niemand verpflichtet dazu”, versicherte shy abermals, bevor shy mit dem Thema fortfuhr: “In solchen Situationen ist man häufig mental völlig überfordert. Ich zum Beispiel gefriere zur Salzsäule und kann gar nichts mehr tun. Mit meiner Freundin bin ich auf die Idee gekommen, eine solche Situation nachzuspielen. Wir haben vorher durchgesprochen, wie ich mich wehren würde. Und weil es in der Situation nur meine Freundin war, konnte ich das dann. Nach ein paar Versuchen zumindest. Es hat mir sehr viel Selbstbewusstsein gegeben, sowie die Möglichkeit, mich zumindest bei kleineren Übergriffen erstmal im Recht zu fühlen und mich zu wehren.”

Wandgefühle, dachte May.

Zur Salzsäule zu gefrieren, kannte sey nur allzu gut. Sey hatte es gehabt, wenn Chris sem angegangen war, nicht einmal unbedingt laut. Wenn Chris so ungerecht sem gegenüber gewesen war, unberechtigte Anschuldigungen gemacht hatte. Aber da sey trotz allem irgendwie immer davon ausging, dass Chris nicht einfach Anklagen gegen sem vorbringen würde, sondern, wenn er sem wegen etwas Vorwürfe machte, es gut überlegt und dringend nötig wäre, hatte sey immer ausführlich reflektiert, ob die Wut und die Anschuldigungen nicht doch berechtigt wären. Es wollte einfach nicht in seren Kopf, dass er so etwas aus nicht gerechtfertigten Gründen oder auch nur unüberlegt tun würde.

Sey hatte trotz seres Unglaubens, dass er sich bewusst so mies verhalten könnte, diesen Drang zu schreien gespürt, den Wunsch, um sich zu schlagen, irgendwas hinzuwerfen, weil es eben doch klar so ungerecht und unfair war. So verletzend. Aber all das ging nicht. Weil es verboten war. Ein Konflikt musste mit sanften Worten gelöst werden, den Respekt wäre sey ihm schuldig. Sey wusste heute, dass dem nicht so war, aber damals hatte sey es nicht gewusst. Da es sich aber eigentlich in serem Inneren richtig angefühlt hätte, diese Wut ausbrechen zu lassen, und sey sie gezielt zurückhielt, weil es sem auf einer anderen Ebene nicht okay vorgekommen war, war dann stets gar nichts mehr gegangen. Ser ganzes Sein war blockiert dadurch, diese Wut hinter einer Wand gefangen zu halten, sodass leider überhaupt nichts mehr durch die Wand drang. Nicht einmal Mimik. Diese innere, falsche Überzeugung, nicht im Recht zu sein, sich auf aggressivere Art wehren zu dürfen, erzeugte das Wandgefühl.

“Wenn ich eine solche Situation nachspielen würde, kann es also dazu kommen, dass ich quasi gar nicht mehr reagiere und weine. Dann ist es okay, wenn ich Aufmerksamkeit bekomme, aber ich möchte nicht berührt werden”, sagte Shystorm und setzte damit ein Beispiel für die anderen, ihrer Absprache von vorhin folgend. Shy forderte sanft die erste Person im Kreis zu sprechen auf, und nach jener ging es reihum weiter.

Jede Person erzählte kurz, ob sie eine Situation nachspielen wollte – eine Person wollte nicht, zwei waren sich noch nicht sicher –, was in einer solchen Situation passieren könnte und was sie dann bräuchten. Eine Person hatte sich einen großen Plüschhai und zwei weitere Kuschelfische mitgenommen und wollte darin vergraben werden, wenn sie weinte. Eine wollte fest in den Arm genommen werden und May erklärte sich einverstanden, diese Person zu sein, wenn es Elena nicht dann gerade schlecht ginge. Shystorm sagte zu, die Rolle zu übernehmen, wenn es nicht bei May ginge, in der Hoffnung, dass es sie nicht gleichzeitig träfe. Sie mussten grinsen, als sie sich dieses Szenario ausmalten. Aber da es sich nur um Notfallstrategien handelte, war es unwahrscheinlich, dass mehrere zugleich diese Art Support bräuchten, sodass ihnen das Setup sicher genug vorkam.

Es kam tatsächlich zu einer zweiten Runde, weil eine Person ein Safe-Word nannte. Wenn sie “Feuer” beim Nachspielen einer Situation sagen würde, dann sollte abgebrochen werden. Die Idee fanden einige gut und nannten Safe-Words.

Die Vorbereitung mochte eine Viertelstunde gebraucht haben. May hatte erklärt, dass sey eigentlich nur als Begleitperson da war. Es war einfach wie selbstverständlich aufgenommen worden.

“Ich werde einmal konkreter von meiner Situation erzählen, um euch ein Bild zu geben, wie so ein Training aussehen könnte”, sagte Shystorm. May fiel auf, dass shy immer wieder auf einen Block mit Notizen blickte. “Dann würden wir noch eine Runde machen, in der ihr eure Wünsche äußert, vielleicht grob, um was für eine Situation es geht und wenn ihr es nachspielen wollt, was ihr dafür braucht. Zum Beispiel, ob es in diesem Zelt sein darf oder ihr es zum Beispiel nicht mit Menschen nachspielen könnt, die größer sind als ihr, oder etwas in der Art. Dann würden wir kleine Gruppen zusammenfinden, in denen ihr darüber reden oder nachspielen und üben könnt.”

May fragte sich, ob sey doch von Chris erzählen könnte. Aber es ging bei sem nicht um sexuelle Übergriffigkeit. Und selbst wenn dieser Themensprung okay wäre, wäre es viel zu kompliziert. Sey würde nicht so einfach zusammenkriegen, was er alles gesagt hatte. Die Situation wäre selbst für sem nicht so einfach nachspielbar. Und doch, vielleicht sollte sey hinterher Elena davon erzählen.

“In meinem Fall geht es um solche Situationen, in denen ich in einer Bahn oder einem Bus sitze und sich ein aufdringlicher, vielleicht angetrunkener Mensch neben mich setzt, mir viel zu nahe kommt und mir zum Beispiel eine Hand auf den Oberschenkel legt, oder mir Anmachsprüche entgegenbringt”, erzählte Shystorm.

May zuckte innerlich zusammen. Sey kannte so etwas, natürlich kannte sey so etwas. Es fühlte sich widerlich an, überhaupt daran zu denken. Dieser Umschwung von Vorbereitung zu diesem Inhalt kam ganz schön unvermittelt. Aus den leisen Seufzantworten der anderen folgerte May, dass viele Anwesenden etwas in der Art erlebt hatten.

“Meine Freundin und ich haben auf einer langen Zugfahrt eben so etwas nachgespielt, beziehungsweise zuerst besprochen. Sie würde sich neben mich setzen, dabei angetrunken spielen, mich anmachen, sich mir aufdrängen und mich unangenehm berühren. Ich würde versuchen, klar zu sagen, dass ich nicht will, sie wegdrücken und weggehen”, fuhr Shystorm mit dem Bericht fort. “Wir haben es zweimal durchgesprochen und schließlich ausprobiert. Reden konnte ich zwar selbst im Spiel nicht richtig, aber ich habe es geschafft, wegzugehen. Es hat sich in mir etwas verändert, sodass ich mich jetzt sicherer fühle. Entspannter.”

Die Wand durchbrechen, dachte May. Diese widerliche Wand. Sey machte sich Gedanken, was sey Chris hätte sagen wollen oder ob sey hätte schubsen wollen. Einfach weggehen sollen. Aber stattdessen hatte sey einfach immer bloß dagestanden. Hatte vielleicht irgendwann geweint, aber daran war sey – seiner Meinung nach – dann auch selbst schuld gewesen. Meistens hatte sey nicht geweint. Nicht in dem Moment. Erst später beim Spazierengehen im Park beim Telefonieren mit einer Freundin, die irgendwie geschafft hatte, verständnisvoll zu sein, und zugleich Chris verstanden und in Schutz genommen hatte. Ein komplexes Problem.

“Ich möchte noch einmal betonen, dass dieser Workshop nicht dazu da ist, zu erzählen, welches Verhalten richtig wäre”, sagte Shystorm. “Schuld sind immer die Täter*innen. Schuld sind nicht wir, die wir uns vielleicht nicht wehren können. Es ist nur hilfreich, es zu können. Deshalb mache ich diesen Workshop. Aber wenn es so ist, dass jemand sich nach dem Training immer noch nicht wehren kann, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, dann ist dieser jemand am Ende immer noch nicht schuld!”

Die erste Person, die in der Runde sprach, hatte einen Akzent, den May mochte. Sie war bei einer Mitfahrgelegenheit von einem anderen Fahrgast über eine Stunde hinweg gegen ihren Willen ständig am Knie angefasst worden. Er hatte immer wieder Anspielungen gemacht, dass sie ein gutes Paar bilden würden. Die Person weinte nach der Erzählung nicht und wollte auch nicht nachspielen. Sie sagte am Ende, dass sie das schon immer hatte erzählen wollen und froh wäre, durch diesen Workshop eine Runde zu haben, in der über so etwas geredet werden könnte. Das war ihr schon genug.

May grauste es. Vermutlich grauste es jeder Person in diesem Workshop. Aber vielleicht war er dazu auch da.

Eine zweite Person erzählte aus dem Beruf als Kellnerin, wie ihr Kundschaft manchmal auf den Hintern klopfte und sie trainieren wollte, dann laut etwas zu sagen. Sie waren sich alle einig, dass es okay wäre, das Tablett hinzuschmeißen, oder auch den übergriffigen Personen entgegen. Dabei ging es nicht darum, zu bewerten oder zu entscheiden, ob das Verhalten vorteilhaft wäre. In gewissen Kontexten wäre es gefährlich. Sondern darum, dass es dem Selbstwertgefühl half, sich klarzumachen, dass es eine legitime Reaktion wäre.

Zwei Personen erzählten von Übergriffigkeiten in Beziehungen. Eine trans Frau erzählte, dass sie bislang keine solchen Erfahrungen gemacht hatte, aber Angst hatte, dass nun welche kommen würden, weil ihr Passing besser wurde. May wusste, dass Übergriffigkeiten gegen trans Frauen nicht zwingend von Passing abhingen, aber in dieser Runde ging es nicht ums Diskutieren darüber, wie es einer marginalisierten Gruppe im Allgemeinen erging, sondern um die individuellen Probleme und Ängste der Anwesenden. Das war irgendwie überraschend angenehm.

Elena kam zuletzt dran, oder zu vorletzt, würde May sich selbst mitzählen. “Bei mir wird das kompliziert mit der Nachspielsache”, merkte sie an. “Ich war anfangs in einem Hackspace, in dem ein Typ war, der ganz erpicht darauf war, Videos von Tänzerinnen mit viel Körperfett zu zeigen, allen von ihren Brüsten und den Bewegungen selbiger zu erzählen und das ganze mit seinem Interesse für Physik und Schwingungen zu erklären. Er sah mich dabei immer an. Ich war die einzige Frau in dem Hackspace und er versuchte, diese Gespräche speziell mit mir zu führen. Manchmal kam er mir so nahe, dass es gerade so nicht von außen als zu nah gewertet werden würde, und das war schon sehr unangenehm.” Elena pausierte einen Moment, holte Luft und führte zu Ende: “Dieser Hackspace hatte aus unerfindlichen Gründen die Eigenart, dass gelegentlich bis oft der Feueralarm losging und alle rausmussten. Und bei diesem hektischen Verlassen ist dann zweimal wie Ausversehen eine Hand auf meiner Brust gelandet. Nicht so richtig und jeweils im Gedränge, sodass ich nicht sagen kann, wer es war. Was macht man bei sowas?”

“Was für ein Shit ist das erstmal!”, fluchte Shystorm. “In welcher Welt leben wir heute eigentlich?”

Auch andere stimmten in die Wut mit ein. May blieb still. Aber innerlich loderte sey wie alle anderen auch. Immerhin gab es darüber hier Einigkeit.

“Vermutlich gab es keine Person in diesem verfickten Hackspace, an die du dich hättest wenden können, die da was allgemein zu gesagt hätte? Zusammen mit dir?”, fragte die trans Frau.

“Es hatte einen Grund, dass ich die einzige Frau war. Eine Bekannte war einmal dort gewesen und ist nicht wieder hingegangen”, sagte Elena. “In einem Hackspace, in dem Leute für Vergewaltigungswitze verteidigt werden, weil ‘ist doch gar nicht so schlimm und wer das nicht witzig findet, hat halt keinen Humor’, habe ich wohl keine Chance. Glücklicherweise bin ich da nicht mehr und glücklicherweise habe ich herausgefunden, dass nicht die ganze Community so ist. Aber irgendwie erhoffe ich mir ein Rezept, um mit so etwas besser zurechtzukommen.”

“Hmm”, machte Shystorm.

Shystorm hatte überhaupt eine wundervoll dynamische Stimme, bemerkte May. Eine, die sehr gut zwischen weichen, warmen Klangfarben und rhetorisch unterstreichender Artikulation wechseln konnte. May überlegte, zu schauen, ob Shystorm irgendwelche Performances machte, Vorträge zum Beispiel.

“Mir selbst hilft bei so etwas, mir klarzumachen, dass ich nicht schlagfertig sein muss”, sagte shy. “Ich lege mir vorher eine klare Aussage zurecht, die auf sehr viele von diesen Situationen passen kann, und rufe sie dann aus. Wenn ich denn reden kann. Aber es hilft mir, vorher ein paar sehr universelle Ausrufe für mich abgespeichert zu haben, sodass sie dann bereitliegen.”

“Was wäre es in diesem Fall?”, fragte Elena.

“So etwas wie ‘Das ist widerlicher Sexismus und Fatshaming’”, antwortete Shystorm.

“Dann argumentiert er mit Physik, wie reagiere ich darauf?”, fragte Elena.

“Erst einmal würde es mir an deiner Stelle helfen, mir klarzumachen, dass ihm sehr wohl bewusst ist, dass es sich um Sexismus handelt. Da musst du nichts erklären. Denke ich zumindest.” Shystorm wirkte einen Moment grübelnd in sich gekehrt, als würde shy infrage kommen lassen, dass es tatsächlich Menschen gab, die sich so verhielten, aber ihnen das dabei nicht bewusst war. “Jedenfalls musst du nicht argumentieren, nur weil dein Gegenüber argumentiert. Das ist sozusagen eine Falle. Ich würde dann antworten: ‘Ich diskutiere hier nicht. Es ist widerlicher Sexismus.’”

Elenas Körper neben May veränderte die Haltung. Als wäre die Energie mit einem Mal völlig daraus verloren gegangen.

May wandte Elena den Blick zu und sah sie nicken. “Brauchst du etwas?”, fragte sey leise.

Elena schüttelte den Kopf, hielt in der Bewegung aber inne und antwortete mit einem kleinen Lächeln in der Stimme, das allzu rasch dahin zurückgekehrt war: “Übung.”

Elena wurde Zeit gelassen, noch etwas zu sagen, und als das nicht passierte, brachte sich eine andere Person in die Vorschläge ein. “Mir hilft es in solchen Situationen eher einfach zu gehen. Oder, statt das Problem direkt zu benennen, erst einmal direkt auf Konfrontation zu gehen. Etwa ‘Ey du Arschloch, was willst du?’, und wenn dann irgendwas in der Richtung kommt, dass ich unfreundlich wäre ‘Ich fasziniere mich hier nur für Psychologie.’”

Einige lachten.

“Das ist eine coole Strategie!”, meinte Shystorm. “Aber ich würde in so einer Situation nicht darauf kommen. Das ist schon sehr auf die Situation bezogen. Wenn es funktioniert ist das aber sehr cool und lässt sich vielleicht auch trainieren.”

“Das Muster ist ja hier, dass sich Leute rausreden. Und mein Trick ist, sinnloser Angriff, und dann versuchen, die gleiche Rausredestrategie zu wählen. Meistens klappt das ganz gut”, meinte die Person.

“Wollt ihr vielleicht zusammen so etwas üben? Klingt das für euch gut?”, fragte Shystorm.

“Von mir aus gern!”, meinte die Konfrontationsgesprächsperson.

“Ich würde lieber mit May üben”, widersprach Elena.

“Gut”, sagte Shystorm schlicht, und wieder auf diese sanfte Art, die völliges Verständnis signalisierte. May fragte sich, wie shy wohl im Chat wirken würde, wenn die ganze Sprachmimik fehlte. “Dann fehlt in der Runde noch May. Du sagtest zwar, dass du nur als Begleitung da bist, und ich möchte ganz sicher zu nichts drängen. Trotzdem möchte ich dir nochmal die Möglichkeit geben, etwas zu erzählen, wenn du nun doch wollen würdest.”

May holte Luft, aber schüttelte dann den Kopf. “Es ist zu kompliziert. Ich kenne diese Blockaden und der Workshop inspiriert mich mehr, als ich es vermutet hätte. Aber ich erinnere mich nicht ausreichend an die Situationen. Und sie haben auch nur mit Übergriffigkeit zu tun, nicht mit sexueller Übergriffigkeit.”

“Bei letzterem mach dir keine Sorgen. Wir müssen uns nicht darauf beschränken”, versicherte Shystorm direkt. Als May wieder ablehnte, besprach shy die Gruppen.

Shy selbst ordnete sich keiner Gruppe zu, sondern saß an einer Stelle, an der shy gut beobachten konnte, und vertiefte sich ins Programmieren, um keine Privatnachspiele zu belauschen. Die Person mit der Mitfahrgelegenheit bedankte sich sehr und verabschiedete sich. Die anderen zogen sich jeweils zu zweit oder zu dritt an die Zeltwand zurück, sodass maximal viel Platz zwischen den Gruppen war. Sie begannen leise zu reden – und leise zu lachen. May hätte alles verstehen können, konzentrierte sich aber bewusst darauf, es nicht zu tun. Dass Elena nichts sagte, erschwerte das. Elena setzte zweimal zu reden an, mit viel Pause dazwischen, schien aber viel zu abgelenkt. Noch einmal mehr, als eine der Gruppen tatsächlich ein kleines Spiel durchführte. May bekam davon im Wesentlichen mit, dass es nach Gekabbel aussah und sie hinterher wieder lachten. Eigentlich mochte sey die Atmosphäre. Aber sey fühlte sich in Bezug auf Elena auch vollkommen nutzlos.

“Würdest du mit mir ins Zelt kommen?”, fragte Elena. “Also, weil es da ruhig ist.”

“Klar!”, stimmte May zu.

Also bedankten sie sich bei Shystorm, verabschiedeten sich und gingen. May fragte noch, ob es in Ordnung wäre, wenn sey nun schon ginge, weil sey ja Umarmungssupport angeboten hatte, aber es löste sich anders.

“Shystorm hat eine wunderschöne Stimme, finde ich”, enthielt May Elena nicht vor, als sie das Zelt verlassen hatten und durch die Abenddämmerung zu ihrer Schlafstätte gingen.

“Sehr”, stimmte Elena zu. “Ich eher nicht so.”

Mays Schmunzeln verschwand. “Ist sicher Geschmackssache, aber auch aus meiner Sicht, gebe ich zu, dass ich sie nicht so schön wie Shystorms empfinde. Aber was deine Stimme so sagt, finde ich bisher wunderschön.”