Haare im Wind

May lag im Vorgarten auf dem Rücken im Gras. Die Halme kitzelten in den Kniekehlen. Der Wind spielte mit den Haaren an seren Beinen. Sey trug eine kurze Hose mit Taschen aus stabilem Stoff, die oberhalb serer Knie endete und mit einem Gürtel oberhalb seres Beckens passgenau anlag. Sey spürte den Stoff auf der Haut, spürte, wo er aufhörte und die Beine frei lagen. Sey spürte seren ganzen Körper und fand sich schön. Einfach so. Ein Insekt machte Anstalten, auf seren Fuß krabbeln zu wollen. Sey zuckte mit dem Fuß, kurz darauf noch einmal und das Insekt entschied sich um.

Sey spürte den Wind nicht so sehr am Oberkörper, wo stattdessen eine warme Fleecejacke sere Arme wärmte. Der Reißverschluss lag offen, sodass der Luftzug doch manchmal darunter griff und an serem T-Shirt rüttelte. Sey hatte die Augen geschlossen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sey hatte die Augen gern geschlossen und nahm die Umgebung nur über andere Sinne wahr. So vorteilhaft eine selbst eingeschränkte Sehfähigkeit auch war, so sehr störte sie auch oft, strengte an. War häufig mehr Mittel zum Zweck als wirklich ein Genuss. Das Körpergefühl dagegen war ein Genuss. Den ganzen Körper zu spüren, das Gras unter sem, den Wind, den Geruch von Rapsfeldern irgendwo weit entfernt, den der Wind mit sich brachte, das Versprechen von Sommer, den Atem im Körper, die Strahlung der Sonne auf und unter der Haut.

Sey hatte die leisen Schritte im Gras gehört, die sich genähert hatten. Die fehlende Wärme an bestimmten Stellen serer Beine verriet sem, dass eine Person einen Schatten über sem warf. Sey regte sich nicht, gab kein Zeichen, dass sey es wahrnahm. Nicht unbedingt, weil sey es nicht gewollt hätte, sondern weil ser Körper sich weigerte, irgendeine Form von Anstrengung, irgendeinen Muskel zu bewegen. Frech von dem Körper. Sey kämpfte gegen das schlechte Gewissen an und fragte sich gleichzeitig, ob es eigentlich angebracht war.

“Ich möchte überhaupt nicht stören und wahrscheinlich tue ich genau das gerade”, sagte eine Stimme, relativ hoch, eine Spur nasal, die klang, als wäre die zugehörige Person sehr jung.

May war drauf und dran zu widersprechen. Ser Körper machte aber immer noch keine Anstalten, sich zu rühren, und vielleicht war es auch gar nicht so verkehrt, auf diese Weise zu reflektieren. Das Widersprechen wäre wieder der Reflex gewesen, für andere gut zu sein. Sey atmete tief durch, überlegte, dass sey sich vielleicht ein bisschen gestört fühlte, aber es schon in Ordnung war.

“Ist schon okay”, sagte sey, räusperte sich, weil sey sich nicht einmal selbst verstanden hatte, und wiederholte es noch einmal.

Räuspern ist nicht so gut für die Stimmlippe, besser ist husten, ging sem dabei durch den Kopf. Das hatte ein Herzmensch sem erklärt, der Logopädie studiert hatte.

“Ich bin Elena und bin kürzlich unter dir eingezogen. Ich sitze mit meiner Freundin hinten im Garten. Wenn du dich dazu setzen möchtest, bist du willkommen”, lud Elena ein. “Aber mach, wie du magst. Lass dich nicht drängen.”

Elena ging nicht sofort wieder. May nickte einmal. Die Körperbewegung kam sem furchtbar anstrengend vor. Und natürlich lag der Kopf hinterher nicht mehr exakt so auf seren Armen wie zuvor. Sey verzog kurz das Gesicht. Dann schoss eine neue Welle schlechten Gewissens durch sem hindurch: Die Mimik konnte ohne Weiteres auf die Einladung bezogen wirken. Sey hörte dieses Mal nicht, wie Elena sich entfernte. In seren Ohren rauschte es einige Momente. Die Sonne, die wieder auf die zuvor schattigen Stellen serer Beine schien, verrieten es sem.


Es war erheblich weniger angenehm hier zu liegen, während ein vielleicht unnötiges schlechtes Gewissen bekämpft werden musste. Sey hatte nichts Falsches getan, oder doch?

Sey lenkte außerdem eine viel interessantere Frage von der Kampfszene in serem Kopf ab: Wollte sey sich zu Elena und Freundin in den Garten hinter dem Haus gesellen? Sey musste über die Bezeichnung “Kampfszene” kurz schnauben und zugleich schossen ungefragt Tränen in sere Augen, die jene nie verließen.

Sich zu neuen Menschen zu setzen. Wenn das so einfach wäre. Es war immer eine Hürde. Aus so vielen Gründen. Da war die Sache mit dem Pronomen. Sagte sey es dazu, musste sey oft genug erklären. Sagte sey es nicht, würde sey automatisch vor anderen anders gegendert werden als gewünscht. Das war unangenehm.

Da war die Sache, dass sey keine Gesichter wiedererkannte, wenn sey die Person nicht schon länger kannte. Und dass sey andere nicht direkt ansah, weil sey schlicht nicht gut sehen konnte und weil es sem anstrengte. Sey war nicht blind und fühlte sich unfair bei dem Gedanken, dass es vielleicht manche Dinge einfacher machen würde, wenn sey es wäre. Es war kein sinnvoller, respektvoller Gedanke. Natürlich würde es sem viel, viel mehr einschränken, als sey nun eingeschränkt war. Aber es hätte vielleicht die hin- und herschwappenden Diskussionen erübrigt. Dass es nicht so richtig auffiel, sey einfach als seltsam empfunden wurde. Dass es dann doch auffiel, zum Beispiel, weil sem irgendetwas zu lesen in die Hand gedrückt worden wäre, was immer sofort den Druck auslöste, dass von sem erwartet würde, innerhalb eines erwarteten Zeitrahmens fertig zu sein, unter dem sey dann erst recht nicht lesen konnte. Und dann begannen die übertriebenen Rücksichtnahmen, durch die wiederum auffiel, dass sey gar nicht so sehbehindert war wie erwartet. Manchmal wurde sem die Beeinträchtigung völlig aberkannt. Bis es doch irgendwann wieder auffiel, wenn sey minutenlang an einer Straße stand, während fünf andere vor sem die Straße bereits überquert hatten. Und dann war wieder die Verwunderung groß, wenn sey aus Versehen ein sem zugeworfenes Taschentuchpäckchen aus der Luft fing.

Unwillkürlich musste May daran denken, wie sey Chris kennengelernt hatte. Es war am Anfang seres Studiums gewesen. Chris hatte sem ein Taschentuchpaket zugeworfen, sey hatte danach gegriffen, aber es falsch lokalisiert. Es hatte sem mitten im Gesicht getroffen, wo sey sich direkt darauf hingefasst und dabei sere schwere Brille vom Kopf gefegt hatte.

“Mist. Das ist jetzt unvorteilhaft”, hatte er damals gesagt. “Wollte zum Frust nicht noch mehr hinzufügen. Tut mir leid.”

Sey hatte grinsen müssen. Die Stimme war voll Emotionen gewesen. Ein gewisser, halb unterdrückter Schalk, aber auch Sorge und vor allem Wärme. Zeit. Sey hatte sich, ohne hinzusehen, nach dem Taschentuchpaket gebückt – sey hatte gehört, wo es aufgekommen war –, sich eines entnommen, auch die Brille aufgehoben, und es zurückgeworfen, ohne groß zu zielen. Dazu hatte sey die Brille auch noch nicht einmal wieder aufgesetzt. Eigentlich auch damals nicht sere Art, aber sey war tatsächlich sehr frustriert gewesen. Chris aber hatte einen Hechtsprung gemacht und es aus der Luft gegriffen.

Sey musste bei dem Gedanken an Hechte grinsen. Sey mochte Hechte. Es riss sem aus den Gedanken an die Vergangenheit, holte sem ins Jetzt zurück, wo sey sein wollte. Es war lange her. Chris war cool gewesen, am Anfang. Er hatte sem in einer Art und Weise gesehen, in der sey zuvor nie gesehen worden war. Er hatte all sere Schwierigkeiten im Alltag wahrgenommen und verstanden, sich nicht lustig gemacht, aber auch nicht übermäßig Rücksicht genommen. Genau, was sey gewollt hatte. Es war lange her. Zehn Jahre etwa.

Sey sog tief Luft ein, um endgültig wieder anzukommen – und stellte fest, dass sey in serem Vergangenheitsabstecher mies geschwitzt hatte. In einem kühnen Anflug von Mut raffte sey sich auf und begab sich nach einem wesentlich erfrischenderem Gegenwartsabstecher in serer Wohnung, in der sey sich den Oberkörper kurz kühl wusch und eine frische Jacke aussuchte, in den hinteren Garten, wo Elena mit Freundin am Gartentisch saß. Es war, wie etwas trotzdem tun. Ignorierend, dass die ersten Gespräche sem sehr stressen würden. Das taten sie immer, selbst wenn sie sich als weniger kompliziert herausstellten. Dazu konnte sey die Sache mit dem Sozialisieren einfach zu schlecht. Aber manchmal ignorierte sey, dass sey es nicht konnte, und tat es trotzdem.

Sie hatten keine Decke auf den Tisch gelegt, wie es die Gewohnheit der älteren Person im ersten Stock war. Eine der beiden Personen hatte ein Bein mit auf den Stuhl genommen, saß krumm darüber gebeugt, die Arme darum herumgeführt, die Finger auf einer Tastatur eines Laptops. Sie blickte auf, als May am Tisch stehen blieb. Sey senkte reflexartig den Blick. Sey versuchte ihn wieder zu heben, aber etwas blockierte sem, wie fast immer.

“Nimm dir einen Stuhl, wenn du magst”, sagte Elena.

Nun, als sey die Stimme hörte, war May sich sicher, dass Elena tatsächlich die Person am Laptop war. Beide Personen hatten kurze, dunkle Haare. Das war ungünstig. Sey unterdrückte den Impuls, eine der beiden Personen zu bitten, sich die Haare wachsen zu lassen oder zu färben. Sere Art wäre es, darum sachlich und trocken zu bitten, als wäre es ernst gemeint und absolut logisch. Aber diese Art Humor verwirrte am Anfang, und damit musste sey nicht sofort anfangen.

Auch etwas, was toll an Chris gewesen war. Sey hatte ohne Rücksicht gleich bei ihrem Kennenlernen seren Humor frei ausgelebt und er hatte einfach mitgemacht. Anfangs zumindest. Warum dachte sey so viel an Chris heute?

“Brauchst du Hilfe?”, fragte die andere Person.

May schüttelte den Kopf, blickte sich um, woher sey sich einen Stuhl nehmen sollte. Der Garten war umsortiert. Das passierte manchmal. Sey war nicht gut darin, rasch die Umgebung zu erfassen, aber der flüchtige Blick der zweiten Person auf den Stuhlstapel gab sem das entscheidende Zeichen. Sey nahm sich einen und setzte sich der Freundin gegenüber hin.

“Ich bin Annika”, stellte diese sich vor.

“May”, sagte sey – und entschied sey sich. “Pronomen ‘sey’.”

“Oh, gute Idee”, sagte Elena sachlich zum Bildschirm. “Pronomen ‘sie’.”

So einfach konnte das gehen. Das war angenehm. Ein Lächeln schlich sich auf Mays Gesicht, dass sey erst einige Momente später dort bemerkte.

“Muss man eines sagen?”, fragte Annika.

“Muss man nicht. Es gibt sogar gute Gründe, es nicht zu tun, aber wenn man kein Problem damit hat, ist es hilfreich, weil es normalisiert, dass Pronomen nicht von Äußerem abgelesen werden können”, erklärte Elena. Sie hatte entspannt gesprochen, schreckte nun aber unvermittelt und holte hörbar Luft. “Ist dir das recht, wenn ich Dinge erkläre? Ich weiß sowas als dya cis Frau ja nur von anderen.” Elena blickte May beim Sprechen an, was sey aus der veränderten Akustik heraushörte.

Sey hielt den Blick auf die eigenen Füße auf der Stuhlkante gesenkt, zwischen deren Zehen sey sere Finger fädelte. Sey mochte das Gefühl der ungewöhnlichen Zehdistanz. “Ist in Ordnung, finde ich gut”, sagte sey.

“Sag gern jederzeit Bescheid, wenn sich daran was ändert”, forderte Elena sem auf. Es klang wie eine Feststellung, nicht unbedingt mit Freundlichkeit in der Stimme, und May wunderte sich, warum sey das positiv empfand.

Und ob das ein Warnsignal sein sollte.

Schon wieder dachte sey an Chris, diese unsagbar miese Person, und seufzte.

Unvermittelt schnürte sich einen Moment sere Kehle zu und Tränen wollten in die Augen schießen, aber nichts passierte.

“Darf ich die dumme Frage stellen, was dya cis heißt?”, fragte Annika.

May seufzte innerlich. Sey verstand, warum sich Menschen bei so etwas selbst als dumm bezeichneten. Irgendwo verstand sey es. Sey hatte es selbst jahrelang getan. Die Welt war schlimm. Und sey hatte gerade keine Kraft für die Diskussion.

“Cis ist quasi das Gegenteil von trans, dya das Gegenteil von intersexuell. Deine Frage ist nicht dumm, kann halt höchstens stressen”, erklärte Elena.

“Meines Wissens bevorzugen die meisten inter Menschen intergeschlechtlich oder einfach inter”, korrigierte May. “Cis heißt, dass du dich zu jederzeit, vollständig und ausschließlich mit dem bei deiner Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizierst. Es gibt tatsächlich Menschen, die weder cis noch trans sind.”

Annika machte eine Bewegung mit der Hand, die May doch aufsehen ließ, und strich sich durch einen nicht vorhandenen Bart am Kinn entlang. “Dann bin ich cis.” May hörte das Lächeln in Annikas Stimme. “Würde es stressen, wenn ich noch eine Frage stelle? Ich kann mir vorstellen, dass jede Vorstellung mit Pronomen ungefähr so anfängt. Das ist Mist, oder? Ich kann mich auch zurückhalten.”

May senkte wieder den Blick, aber das Lächeln hatte sey doch angesteckt. “Frag!”

“Wenn ich ein anderes Pronomen als ‘sie’ ausprobieren wollte, wäre das etwas, was nicht okay wäre, weil es respektlos gegenüber, äh, Menschen ist, die nicht dya cis sind?”, fragte Annika.

“Eine Streitfrage”, antwortete May. Sey mochte die Frage. Etwas in sem entspannte sich. “Ich und durchaus nicht wenige andere empfinden es als unabhängig von Geschlecht. Eine nicht-binäre Person muss zum Beispiel kein Neopronomen bevorzugen, sondern kann sich auch mit ‘er’ oder ‘sie’ am wohlsten fühlen. Entsprechend ist eine Person, die ‘sie’ als Pronomen wählt, nicht automatisch weiblich. In manchen Communities herrscht der Konsens, dass beim Vorstellen Name, Pronomen und vielleicht Anrede genannt werden, das Geschlecht dabei aber nicht erklärt wird, weil es auch irgendwo Privatsache ist. Daraus folgt auch für dya cis Menschen, dass sie ein beliebiges Pronomen bevorzugen können, ohne über ihr Geschlecht zu reden.”

Annika wartete eine Windböe ab, die kühl und angenehm durch Mays Beinhaar strich. Vielleicht war die Windböe auch nicht der Grund für das Warten, obwohl sie sehr angenehm war und May froh war, sie achtsam zu genießen. Vielleicht hatte Annika nur gewartet, ob sey fertig war.

“Ich glaube, ich bevorzuge ‘sie’. Aber ich wüsste gern, wie es sich anfühlt, wenn ‘er’ benutzt würde, für eine Weile. Für mich geht aus deiner Antwort noch nicht hervor, ob das okay wäre, weil es kein Bevorzugen und nichts Dauerhaftes wäre.”

“Sich in ein Pronomen hineinzufühlen, ist ein häufiges Vorgehen bei trans Menschen, um sich für eines zu entscheiden. Ich sehe nicht, warum du das nicht auch dürftest. Selbst, wenn du dich einfach nur für das Gefühl interessierst”, argumentierte May.

“Oh”, machte Elena. “Das macht es natürlich besonders scheiße, wenn man als trans Person vorgeworfen bekommt, dass das Pronomen ständig wechsele.”

May nickte.

“Das macht alles noch schwieriger. Weil man sich in etwas hineinfühlen möchte, aber weiß, dass man nur ein oder zwei Versuche hat, wenn man nicht alle im Umfeld massiv nerven möchte”, fuhr Elena fort. Beim Reden drehte sie den Kopf, sodass May wusste, dass sie angesehen wurde.

Dieses Mal nickte May nur zögerlich.

“Ich rede wieder über Dinge, über die ich keine wirkliche Ahnung habe”, murmelte Elena.

“Eigentlich wirkst du, als hättest du Ahnung”, entgegnete May.

“Aber irgendwas war nicht ganz okay”, beharrte Elena. “Zumindest wirkte es so. Und ich sollte besser fragen, als Dinge als Aussagen zu formulieren.” Sie ließ von der Tastatur ab und setzte sich auf den Fuß, der vorher nicht auf dem Stuhl gewesen war. “Schon wieder.” Sie seufzte. “Ist etwas nicht okay?”

“Ich hätte es früher wahrscheinlich auch so formuliert. Ich hasse es, andere Leute zu nerven. Es hat Jahre gebraucht, bis ich gelernt habe, dass nicht ich nerve, sondern…” Sey zögerte, ließ Luft entweichen. “Nun, mir fehlt da immer noch eine Formulierung, die es auf den Punkt bringt.”

Hui. Das war ehrlich. Damit öffnete sey sich auf riskante Weise. Aber irgendwie fühlte sey sich sicher genug dafür. “Ich finde es in Ordnung, was du sagst, auch als cis Person”, erinnerte sey sich, zu versichern. “Das ist immer eine Gratwanderung und wird von verschiedenen Menschen verschieden empfunden. Ich selbst empfinde es erleichternd, wenn eine Person, die sich damit befasst hat, etwas schonmal erklärt, und ich dann vielleicht noch ein bisschen nachjustiere. Zumindest, wenn die Person sich kritisieren lässt und das nötige Feingefühl mitbringt.”

“An Feingefühl fehlt es mir oft”, sagte Elena sachlich.

Gegebenenfalls hatte sie auch ein angeknackstes Selbstwertgefühl, diagnostizierte May heimlich und vorläufig.

“Es wird langsam.” Annika sprach in einem beruhigendem, weicherem Tonfall zu Elena.

May blickte verwirrt auf.

Annika zuckte grinsend mit dem Kopf. “Private Geschichte zwischen uns”, sagte sie knapp und kehrte dann ohne Umschweife zum vorherigen Thema zurück. “Wenn es wirklich nicht stresst, fände ich das interessant, auszuprobieren, wie sich ‘er’ für mich anfühlt.”

“Es stresst mich nicht”, versicherte May. “Es fällt mir nur schwer, ohne Anlass Sätze zu bilden. Also so aufgesetzt. Ich müsste nun ja mit Elena über dich reden.”

“Es wäre wahrscheinlich eher an mir, über ihn zu reden, denke ich. Du kennst ihn schließlich noch gar nicht.” Elena blickte nicht vom Bildschirm auf.

May bewunderte sie für einen Moment zutiefst. Sey bewegte sich inzwischen regelmäßig in Umfeldern, vorwiegend online, in denen Personen gelegentlich ein neues Pronomen ausprobierten. Und sey brauchte immer noch einige Momente, um ihr Gehirn darauf umzupolen. Vor allem brauchte es bei sem Konzentration, die sey nicht mit dem Aufmerksamkeitsverlangen eines Bildschirms hätte vereinbaren können.

“Er hilft mir dabei, mit einer Dating-Seite klarzukommen”, murmelte Elena. “Wie gesagt, mangelndes Feingefühl. Zum einen richte ich, wenn er da nicht drüberschaut, offenbar völlig unverständliche Profile für mich selbst ein. Zum anderen unterhalte ich mich auch mit den falschen Leuten, die dann rasch aufdringlich werden. Annika hilft mir sehr bei der Orientierung. Er hat eine recht gute Menschenkenntnis.” Plötzlich schnaubte Elena und geriet in ein böses, kurzes Lachen. “Wobei bei dieser hier, erkenne selbst ich, dass das eine Trantröte ist: ‘Ein sexy Millionär in tödlicher Gefahr. Sie müssen sich entscheiden, Ladies! Wollen Sie mich retten?’ Ich schreibe da mal hin.”

“Nicht!”, rief Annika.

“Ich schreibe doch nichts Ernsthaftes: ‘Mit Millionen ließen sich erstmal so einige andere retten. Womöglich ist ein Grund für die Gefahr, in der du schwebst, dass du es nicht tust?’”, formulierte Elena, nur minimal langsamer als in gewöhnlicher Sprechgeschwindigkeit, weil sie es direkt eintippte.

Annika seufzte ausführlich. “Das wird genau gar nichts bringen, außer wieder ermüdende Diskussionen. Lass mich mal!”

Elena zögerte einen Moment und schob Annika dann den Laptop über den Tisch zu. “Mist”, sagte sie.

Eine Weile blieb es ruhig. Es wurde schattiger. Im hinteren Garten standen zwei große, äußerst grüne Bäume, die bald keinen sonnigen Platz mehr im Garten übrig ließen. Mit dem Schatten kühlte der Wind ab. May zog den Reißverschluss serer Jacke zu. Sere Fersen hafteten auf dem Kunststoffmaterial des Stuhls und spürten die Maserung. Die Oberschenkel drückten gegen seren Oberkörper und der Wind spielte weiter in den Haaren an seren Beinen. Sey strich darüber, einmal hinauf und hinab, sodass die Hände zwar die Haare berührten aber nicht die Haut, und schob dann wieder die Finger zwischen die Zehen. Das einzige von Menschen verursachte Geräusch war das Scrollen und Klicken der Maus, die am Laptop angeschlossen war.

“Wie kommt es eigentlich, dass du dir so viele Gedanken zum Thema Gendern gemacht hast? Dass du einfach aus dem Stegreif umdenken kannst?”, brachte sey schließlich sere Bewunderung zum Ausdruck. Sey kam sich beinahe unbehaglich bei der Frage vor, als würde sey etwas fragen, was sem nichts anginge.

“Oh, verschiedene Hintergründe”, meinte Elena. “Zum einen bin ich Autorin und versuche auf Repräsentation zu achten. Ich folge einer nicht-binären Person auf Twitter, dier dazu kürzlich erst wieder aufrief. Aber das erste Mal in Berührung bin ich mit trans Menschen in der Chaos Community gekommen. Sagt dir das was?”

May musste grinsen. “Ich bin seit…” Sey begann zu rechnen, hatte dann aber keine Lust dazu und riet ins Blaue: “5 Jahren Teil davon?”

“Was ist die Chaos Community?”, fragte Annika halb abwesend.

“Du wirkst jetzt schon irgendwie ein bisschen wie so ein Plot Device, damit wir einen Grund haben, In-Universe-Begriffe zu erklären”, sagte Elena grinsend und vielleicht bewusst frech. “Wieso solltest du als meine langjährige Freundin nicht wissen, was das ist, wenn ich seit drei Jahren Chaos Veranstaltungen besuche?”

May fragte sich einen Moment, ob dies das mangelnde Feingefühl war, von dem die Rede gewesen war, konnte aber gleichzeitig ein Grinsen kaum unterdrücken.

“Wir sind hier nicht in einem deiner Romane, Schatz. Versuch hier lieber nicht, vierte Wände einzureißen”, erwiderte Annika.

May brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, dass das Brechen der vierten Wand den Umstand beschrieb, wenn in einer Geschichte thematisiert wurde, dass es sich um eine Geschichte handelte.

“Arx!”, erwiderte Elena grinsend, aber auch etwas reumütig. “‘Schatz’ sagt er, wenn ich zu weit gehe. Schrecklich! Ganz furchtbar!”, fügte sie erklärend an May gewandt hinzu, klang aber überhaupt nicht wütend oder gekränkt.

“Chaos Community?”, erinnerte Annika.

“Eine sehr Computer- und Technik-affine Bubble, sehr inhomogen. Große Teile davon sind irgendwie mit dem Chaos Computer Club verbandelt oder sammeln sich jährlich auf dem Chaos Communication Congress, das ist eines der größten Hackevents”, erklärte May.

“Ah, okay.” Annika klang schon wieder halb abwesend und wendete sich wieder dem Bildschirm zu.

“Die Sache, dass du das nicht wusstest, ist trotzdem ein Plothole”, stichelte Elena.

“Schatz!” Annikas Stimme klang spielerisch aggressiv und dabei gleichzeitig irgendwie warm.

“Liegt ja nicht an dir, dass The Universe hier unsauber geplottet hat”, verteidigte sich Elena.

“Ich kannte Chaos Computer Club und Chaos Communication Congress durchaus, aber habe eben nicht gleich die Verbindung gezogen, dass alles, was Chaos heißt, dem zuzuordnen ist”, protestierte Annika.

“Hmm”, machte Elena, leiser als zuvor.

Annika kicherte ein wenig und grinste. “Das schließt dir dieses Plothole zu erzwungen, richtig?”

“Ja”, gab Elena zu.

“Ist dir bewusst, dass manche Leute das Brechen der vierten Wand nicht leiden können und diese Diskussion echt mies fänden?”, fragte Annika, immer noch grinsend.

Elena war die ganze Zeit zwischen gespieltem Ärger und Belustigung gewesen. Nun lachte sie. “Du hast recht. Ich glaube, das ist meta genug.”

“Soll das so drin bleiben?”, fragte May.

Elena lachte fast kreischend auf – es tat kurz in den Ohren weh –, und kicherte dann eine ganze Weile. “Mein Humor”, sagte sie. “Schön, dass wir dich dabei nicht ausversehen ausgeschlossen haben.”

Sie lachte noch eine ganze Weile immer wieder. Irgendwie war May ein bisschen stolz auf seren Witz. Sey wusste nicht einmal genau, ob es wirklich ser Humor war. Sey kopierte gern Humor anderer Leute, um sie zum Lachen zu bringen. Aber inzwischen tat sey es immerhin nur noch mit Humor, der sem wenigstens ansprach.

Annika zuckte mit einem Mal vom Laptop zurück und gab ein Geräusch von sich, das Ekel ausdrückte. Sie schob Elena den Rechner wieder rüber. “Chris hat geantwortet.”

“Wer von denen war Chris?”, fragte Elena. “Obwohl, deinem Geräusch nach zu urteilen, der sexy Millionär.”

“Er ist auch der einzige Mann, den wir bis jetzt angeschrieben haben”, erinnerte Annika, runzelte gleich darauf die Stirn und schien ins Grübeln zu geraten.

“Chris impliziert nicht so richtig ein Geschlecht”, verteidigte sich Elena.

“Eigentlich impliziert kein Name ein Geschlecht”, wagte May zu sagen. “Sonst hieße es, dass nicht-binäre Menschen keine Namen haben könnten. Es gibt zwar diese Entwicklung, dass viele nicht-binäre Menschen Namen wählen, die für beide Geschlechter gehen, wie solche allzu oft referenziert werden, aber da steckt eben bereits der Wurm drin. Mit den meisten davon zumindest assoziiert die dyacis Dominanzgesellschaft zwar mehr als ein Geschlecht, aber eben auch nur die zwei häufigsten, die binären. Es gibt auch viele nicht-binäre Menschen, die ihren Namen einfach behalten und sich regelmäßig mit Leuten auseinandersetzen müssen, die es verwirrt und die ihnen nahelegen, doch bitte einen Namen aus dieser geringen Auswahl wie Kim, Erin, Toni, Alex oder ähnliches zu wählen, damit es für sie einfacher wird, sich daran zu erinnern, dass der Herzmensch nicht-binär ist oder ein Neopronomen vorzieht.” May holte tief Luft, – und atmete wieder aus statt fortzufahren.

Sey rantete nicht so häufig und wunderte sich ein bisschen über sich. Aber irgendwo hatte es auch gutgetan. Und das, obwohl sey sich danach sehnte, dass es vielleicht einfach mal kein Thema wäre. Dann aber eben auch nicht einmal irgendwo untergründiges Thema durch die im Subtext gemachten Annahmen anderer.

“Scheiße”, fluchte Elena sachlich. “Tut mir leid.”

Sie sagte es auf eine Art, auf die sich May nicht fühlte, als hätte sey etwas kaputt gemacht.

“Dating ist eine beschissene Sache. Dauernd geht es um Geschlechter. Das nervt mich auch”, fügte Elena hinzu. “Ich kann mir kaum vorstellen, wie das für dich ist. Wir können das verschieben und über etwas ganz anderes reden.” Elena zögerte. “Es wenigstens versuchen.” Etwas Besorgnis und ein Lächeln schlich sich in der Stimme.

“Was hat Chris geschrieben?”, fragte May. “Falls du das nicht zu privat findest.”

Und war es Zufall, dass diese Person auch Chris hieß? Wo sey heute so viel an Chris gedacht hatte.

Elena studierte den Bildschirm. “Puh. Gar nicht so wenig und gar nicht so Übles”, antwortete sie überrascht. “Er schreibt: ‘Da hast du nicht ganz unrecht. Millionär trifft es auch gar nicht mal so ganz, aber ich habe schon kürzlich eine Menge geerbt. Ich fühle mich ein bisschen schlecht dabei, es einfach so zu spenden, aber vielleicht sollte ich. Auch wenn meine Mutter mir im Nacken sitzt und sagt, ich solle daraus erst einmal was aufbauen. Hättest du denn konkrete Vorschläge, wohin?’ Es geht dann noch ein bisschen weiter und endet auf: ‘Tut mir leid, wegen des vielen Texts. Hoffe, das war okay. Ignorier mich gern.’”

“Ignorier ihn”, sagte Annika unmissverständlich.

May hatte dasselbe zu sagen angefangen, aber hatte aufgehört, als sey Annika bereits einsetzen hörte.

Elena reagierte nicht sofort. Aber irgendwie wollte May es von ihr hören, dass sie sich da nicht weiter involvieren würde. Sey rechnete in serem Kopf die Chancen aus, dass es tatsächlich ser Chris war. Hatte sey gerade wirklich ‘ser Chris’ gedacht. Sem wurde einen Moment flau. Und noch etwas fläuer, als sey zu dem Schluss kam, dass es nicht so furchtbar unwahrscheinlich war. Es war seine Art, er war nach ihrer Trennung auf Dating-Seiten gewesen, das hatte er sem sogar erzählt (und sey hatte kein Problem damit gehabt). Und er wohnte in der Gegend. Wenn Elena und Annika nach Leuten in der Umgebung filterten, dann war es einfach nicht unwahrscheinlich, dass es sich dabei um den gleichen Chris handelte, der sem damals misshandelt hatte. May schreckte innerlich bei dem gedachten Wort ‘misshandelt’ zusammen. Es fühlte sich immer noch nicht richtig an. War es schlimm genug gewesen, dass es so bezeichnet werden durfte? Sey würde es nie ausgesprochen so formulieren, und eigentlich sollte sem egal sein, wie sey es in Gedanken nannte. Aber das war es nicht.

“Ich frage mich halt, inwiefern ich eine Verantwortung habe”, überlegte Elena.

“Hast du nicht”, warf Annika ein, obwohl es so klang, als wäre Elena nicht fertig, sondern hätte lediglich etwas eingeleitet.

“Ich meine, vermutlich schreibt niemand einer Person mit einem solchen Profil mit der Absicht, von den Finanzen nicht selbst zu profitieren. Vielleicht, wenn auch nur die Chance besteht, dass es durch die Interaktion zu einer Spende kommt, sollte ich sie nutzen. Natürlich mich selbst so gut es geht schützend”, fuhr Elena unbeirrt fort.

“Wenn du gute Selbstschutzfähigkeiten hättest…”, murrte Annika. “Und wenn du sie hättest, hättest du schon die erste Nachricht nicht geschrieben.”

“Ich will mit dieser Person nichts anfangen”, beharrte Elena.

“Lass es”, stimmte May zu. Irgendwie wollte sere Stimme nicht so richtig klingen dabei.

Sey musste nicht aufblicken, um zu wissen, dass Elena sem nun ansah. Sey ließ den Blick gesenkt. Und atmete. Oder versuchte es zumindest. Es fühlte sich an, als würde sey zittern, aber das passierte nicht. Aber Tränen schossen schon wieder in die Augen. Und sey wusste, dass es dieses Mal nicht nur kurz und kontrollierbar wäre. Sey stand auf. “Ich muss los.”


Sey riss sich noch zusammen, während sey durchs Treppenhaus ging, das Schlüsselloch mit geschlossenen Augen tastend fand, den Zeigefinger über der Schlüsselspitze. Als das Schloss hinter sem einklinkte, fühlte sey eine große Erleichterung. Allein sein. Im eigenen Reich. Niemand stellte hier die Stühle um. Es roch vertraut. Es war angenehm kühl, weil die ganze Zeit das Fenster an der windigen, schattigen Stelle auf Kipp gewesen war, und selbst hier drin roch sey die Rapsfelder. Sey streifte die Hose ab und legte sich nur in T-Shirt und Unterhose auf das weiche Sofa direkt unter dem kühlen Luftzug. Weinte. Atmete. Dachte dabei gar nicht so richtig an Chris, aber die Gefühle hatten viel mit ihm zu tun. Sey lag auf dem Bauch, fühlte seren Körper, mochte ihn. Der Wind strich durch das gekippte Fenster über sere Waden und spielte mit den Haaren daran.