Nicht binär denken

Content Notes:

  • cis Sexismus,
  • Biologismus,
  • Transfeindlichkeit,
  • binäre Denkweise,
  • Interfeindlichkeit,
  • Gate Keeping,
  • Misgendern.

Vorbemerkung: Ich werfe hier mit Begriffen wie trans, dya, cis und nicht-binär um mich. Wenn dir die Begriffe nichts sagen, bietet es sich an, eher mit about me anzufangen oder zum Beispiel im nibi space (Vorsicht: Auf der Hauptseite werden ohne Warnung queerfeindliche Slurs ausgeschrieben!) oder dem Queer Lexikon nachzulesen.

Einleitung

Ich bin nicht-binär und fühle mich in Aufzählungen wie bei Förderungsangeboten, Aktionen für Sichtbarkeit, Listen, Followaufrufen und ähnlichem, in denen nur weibliche und nicht-binäre Menschen aufgeführt werden, unwohl. Ja, “Frauen und nicht-binäre Menschen” ist vielleicht eine Spur besser, als stünde da nur “Frauen”, ein Schritt in die richtige Richtung vielleicht, aber oft kommt es mir eher wie ein zu schneller Versuch vor, etwas durch Label zu kitten, was aber ein Hinterfragen auf ganz anderer Ebene erfordert. Ein Hinterfragen, das dringend notwendig ist, und ohne das Diskriminierung bestehen bleibt, oder gar falsche Konzepte vom Begriff “nicht-binär” entstehen. Kurzgefasst ist der Grund für mein Unbehagen

  • eine Menge vergessene Diskriminierung, die in den selben Zusammenhang gehört,
  • ein verschobenes Konzept davon, wer warum und in welcher Weise von Sexismus benachteiligt ist,
  • ein häufiges indirektes Misgendern oder falsche Vorstellungen von Geschlecht
  • und die Vernachlässigung anderer Diskriminierungsformen als Sexismus.

Der Artikel gliedert sich entsprechend dieser vier Punkte und ich erkläre darin, wie ich und viele andere nicht-binäre, inter*, trans und agender Menschen zu diesem Schluss kommen.

Diskriminierung, die im selben Kontext mitgenannt werden müsste

Cis-Gaze (wird im Text erklärt)

Es gibt mittlerweile einen Diskurs über trans sein, der es unter eine spürbare Menge von cis Menschen geschafft hat. Oft als skurriles Randthema dargestellt, das nicht alle beträfe (obwohl es das sehr wohl tut), und mit Cis-Gaze, das heißt, darauf fokussiert, welche Fragen cis Menschen als erstes kommen (Wie unterscheidet ihr euch?), nicht, welche Fragen cis Menschen als erstes kommen sollten (Wie können wir daran und an uns arbeiten, dass ihr dazu gehört, Raum habt und wir euch nicht weh tun?).

In diesem Diskurs geht es meist um trans Männer oder/und trans Frauen, um Genital-OPs, um Passing, also darum, dass jene den normierten Vorstellungen von männlich oder weiblich entsprechen wollten oder sollten und der Weg dahin, alle anderen Realitäten außer Acht lassend. Es gibt aber definitiv eine Reihe trans Menschen, deren Ziel es nicht ist, dem gesellschaftlich normierten Prototyp ihres Geschlechts zu entsprechen. Ja, sogar binäre.

Das Ziel des Diskurses sollte nicht sein, wie wir Menschen dazu bringen, möglichst diesen Prototypen zu entsprechen, sondern uns dazu zu bringen, auch weitere Prototypen zuzulassen oder diesen ganzen Prototypen-Mist hinter uns zu lassen, sodass wir einfach vor uns hin sein können. Mit unserem Geschlecht, und uns ohne Gewalt von außen selbst frei entscheiden könnend, was wir mit unseren Körpern tun.

Inter* Personen, und der Versuch, sie unter das Label “nicht-binär” zu quetschen

Es kommt manchmal ein bisschen an, dass es nicht-binäre Menschen gibt, oder inter* Menschen? So richtig ist man da nicht sicher (das ist ein leicht sarkastischer Blick auf den derzeitigen Stand des Diskurses außerhalb der Communities, die es selbst betrifft). Es verschwimmt - zum Beispiel wegen des “divers”-Eintrags und der Politik dahinter -, dass nicht-binäre Menschen und inter* Menschen nicht die selbe Gruppe sind. (Es gibt Überschneidungen). Ob eine Person nicht-binär ist, lässt sich nicht durch körperliche Untersuchungen der Hormone, Genitalien oder Gene ermitteln. Für viele nicht-binäre Personen sind diese Körpereigenschaften im Zusammenhang mit ihrem Geschlecht unwichtig oder gar störend, für manche gehören sie dazu. Viele nicht-binäre Menschen haben Dysphorie: Ein negatives Körper- oder Sozialempfinden, weil der Körper oder Interpretationen anderer nicht zum eigenen Geschlecht gehören. Den meisten nicht-binären Menschen wurde ein binäres Geschlecht bei der Geburt zugewiesen, aber ähnlich wie zum Beispiel trans Männer wissen, dass sie männlich sind, wissen nicht-binäre Menschen eben, dass ihr Geschlecht nicht ausschließlich, nicht vollständig oder nicht zu jeder Zeit eines der binären Geschlechter männlich oder weiblich ist. Viele nicht-binäre Menschen sind trans.

Inter* Menschen können aber zum Beispiel ein binäres Geschlecht haben, sie können trans sein, sie können auch nicht-binär sein. Sie können aber auch cis und/oder binär sein. Es geht bei inter* sein erst einmal darum, dass der Körper aus einer medizinischen oder gesellschaftlichen Norm für männlich und weiblich fällt. (Vergleiche Definition inter, inter*, intersex, intergeschlechtlich im nibi-space und angegebenene Quellen.)

Das sind zwei verschiedene Gruppen mit Überschneidungen. Inter* Personen werden in Diskursen zu Diskriminierung im Zusammenhang mit Geschlecht fast immer außen vorgelassen oder zum Schluss genannt. Das äußert sich nicht zuletzt darin, dass das Wort cis als Privileg, das trans gegenübersteht, bei manchen im Sprachgebrauch angekommen ist, aber das Wort dya (oder auch dyadisch, endo, endogeschlechtlich) als Privileg, das inter* gegenübersteht, kaum Verwendung findet. Obwohl inter* Menschen unter anderem bezüglich medizinischer Versorgung heftigst Diskriminierung erfahren. Oder Leute versuchen, sie unter das Label nicht-binär zu quetschen, unabhängig davon, ob sie binäre Geschlechter haben oder nicht.

Trans Männer und trans maskuline Personen

Trans Männer und trans maskuline Personen machen viele ähnliche Erfahrungen in Bezug auf Sexismus wie zum Beispiel Frauen und wie viele nicht-binäre Menschen, weil ihnen Weiblichkeit zugeschrieben oder Männlichkeit abgesprochen wird und sie auf Basis dessen abgewertet werden. Zusätzlich erleben sie Anfeindungen, weil sobald akzeptiert wird, dass sie männlich oder trans maskulin sind, oder auch nur, dass sie das Pronomen “er” bevorzugen, ihnen oft negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die Männern im allgemeinen zugeschrieben werden, wie alle Arten von Privilegien ohne vorhandenes Bewusstsein darüber, Übergriffigkeit, Mansplaining, und weiteres. Oft direkt, und oft auch schon indirekt, wenn alle Männer über einen Kamm geschoren werden und vergessen wird, dass die aller meisten trans Männer und trans maskuline Menschen durchaus den ganzen Seximsus-Mist von der mit am wenigsten privilegierten Seite abbekommen haben, als frauisierte trans Personen. Und als Teil aller trans, inter*, nicht-binären und agender Personen sind trans Männer darüber hinaus Transfeindlichkeit ausgesetzt. (Nein, damit möchte ich nicht sagen, bezüglich Sexismus sind trans Männer und trans maskuline Menschen am schlimmsten betroffen, sondern dass es da sehr viel gibt, was sehr oft ignoriert wird. Und unter anderem auf Basis dieses Vergessens oder Verdrängens passiert GateKeeping.)

Transfeindlichkeit ist eine bestimmte Form von Sexismus, sodass die Gruppe aller inter*, trans, nicht-binären und agender Personen, trans Männer eingeschlossen, in besonderer Weise von sexistischen Vorurteilen, Benachteiligungen, Feindlichkeiten und Gewalt negativbetroffen sind. Trans Männer erleben den Sexismus nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch weil ihnen ihre Männlichkeit (mindestens teils) abgesprochen wird, oder über einen langen Zeitraum abgesprochen wurde. @JustLianKing hat auf Twitter dazu einen hilfreichen Thread geschrieben.

Ein Konzept, das viele cis Menschen haben und das als internalisierte Norm in unserer Gesellschaft vorliegt, ist, dass trans Männer entweder nicht ganz männlich sein könnten, oder aber infolgedessen, dass sie ganz und gar männlich sind, nicht durch Sexismus systematischer Gewalt ausgesetzt sein könnten. Aber diese Vorstellung ist transfeindlicher Müll. Es geht dabei viel mehr um Geschlechtszuweisung und Zuweisung von schlechten “männlichen” Eigenschaften von außen, als um tatsächliches Geschlecht.

Weiblich sozialisiert, und Kritik am Konzept

Wichtig festzuhalten: Der Mechanismus des Absprechens von Männlichsein von außen ist nicht der einzige und auch nicht notwendig, um diese Benachteiligung und Gewalt zu erfahren. Frauen, die männlich gelesen werden oder wurden, haben keinen systematischen Vorteil dadurch. Die meisten von ihnen wissen beim Großwerden in ihrem Inneren, dass sie Frauen sind oder zumindest nicht männlich im Patriarchats-Modell, und dass sie nicht gemeint sind von diesen gesellschaftlichen Vorzügen, - und haben noch ganz andere furchtbare Probleme. Not my story to tell, ich bin trans nicht-binär und trans maskulin.

Ich sage das dazu, weil oft ohne einander zuzuhören, versucht wird, sich herzuleiten, wie so eine Kindheit sein müsse, wenn einem ein falsches Geschlecht zugewiesen worden ist. Es werden Annahmen gemacht, dass Personen sich vor der Diskriminierung verstecken könnten, und all so ein Unfug. Und wenn sich ein Konzept entwickelt hat, dann wird das einfach genau so übertragen auf Personen, denen ein anderes falsches Geschlecht zugewiesen worden ist, und das ist alles von vorn bis hinten schlimm.

Eine miese, transfeindliche und leider häufige Idee von meist cis Frauen ist, dass trans Frauen “männlich sozialisiert” worden wären und deshalb in ihrer Jugend männliche Privilegien hätten genießen können, solange sie sich noch nicht selbst darüber im Klaren waren, dass sie nicht männlich sind. Das ist in der Form und Verallgemeinerung transfeindlicher Unsinn. Unter anderem ist Sozialisierung generell eher sehr komplex, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem auch, wie sexistisch das Elternhaus ist und in welche Stereotypen ein Kind gepresst wird. Die ganze Sache mit Sozialisierung kommt meistens ins Gespräch, weil sich viele cis Frauen auf das eine kleine Element zu stürzen versuchen, bei dem trans Frauen nicht offensichtlich mindestens genau so viel, wenn nicht mehr Feindlichkeiten ausgesetzt sind, als etwa cis Frauen. Dieser Überlegungsansatz ist ignorant und gewaltvoll. Die gatekeepende Frage, die dahintersteckt, ist meist, ob trans Frauen genauso von feministischen Projekten vertreten sein sollten wie cis Frauen. Die Frage fokussiert sich auf dieses Detail der Sozialisierung, während es im Leben von trans Frauen vor Transfeindlichkeit und Sexismus in so vielen anderen Bereichen absolut offensichtlich brennt.

Aber weil die Frage so oft gestellt wird, gibt es Personen, die sich damit regelmäßig auseinandersetzen (müssen). Sie kommen meist zu dem Schluss, dass auch hier eine Fehlannahme vorliegt: Ich habe viele schlüssige Argumentationen gelesen, warum auch trans Frauen weiblich sozialisiert sind, oder eben Texte, die das Konzept von Sozialisierung etwas mehr dekonstruieren. Selbst bei unterschiedlichen Beleuchtungen und Konzepten von Sozialisierung kommt fast immer heraus, dass Frauen keine Vorteile dadurch haben, in ihrer Kindheit und Jugend misgendert worden zu sein.

Nachdem aber dieses Konzept bei manchen frisch angekommen ist – eigentlich nur das zu vereinfachte Ergebnis, dass trans Frauen nicht männlich sozialisiert sind – erlebe ich als trans maskuline Person, dass es sofort auf mich umgekehrt übertragen wird mit der Argumentation, ja, wenn trans Frauen weiblich sozialisiert sind, dann müssen trans Männer männlich sozialisiert worden sein und hätten infolgedessen in ihrer Jugend und ihr ganzes Leben Vorteile gegenüber cis Frauen. Die Argumentation, warum allein der Ansatz, dies zu fragen, ignorant und gewaltvoll ist, bleibt dieselbe.

Der Trick ist: Wenn weibliche Sozialisierung eine Sache ist, die auch nur am Rande so funktioniert, wie sie sich Leute vorstellen, dann werden alle trans Menschen eher weiblich sozialisiert: Die einen, weil sie wissen, dass es sie betrifft, weil sie weiblich oder demiweiblich sind, die anderen, weil sie wissen, dass es sie betrifft, weil sie so misgendert werden.

Vorschlag und Kritik am FLINTA*-Akronym

Die Lebensrealitäten nicht-binärer Menschen sind eng verzahnt mit denen von trans und inter* Menschen, von Lesben und agender Personen und überhaupt allen genderqueeren Personen oder Personen, die nicht in das streng stereotype, binäre, biologistische (an Genitalien orientierte) Geschlechtsmodell passen. Wenn bei Arbeit gegen Sexismus und Patriarchat bisher Männer immer Frauen gegenübergestellt wurden, fühlt es sich deshalb seltsam und falsch an, wenn als einzige weitere Gruppe nicht-binäre Menschen genannt werden, während sich nicht-binär sein doch in vielen Fällen gar nicht so anders verhält, als trans männlich sein oder trans weiblich sein oder anderes. Ich sitze dann da und frage mich: Was? Wieso nehmt ihr ausgerechnet diesen Teil “nicht-binär sein”, der meine Sexismus-Erfahrungen auslöst, mit, aber nicht, dass ich trans bin?

Die Gruppe, die im Zusammenhang mit Geschlecht diskriminiert wird, besteht nicht nur aus Frauen und auch nicht nur aus Frauen und nicht-binären Menschen. Sie ließe sich benennen als “Gruppe, die im Zusammenhang mit Geschlecht diskriminiert wird”, aber es ist tatsächlich, ähnlich wie bei Queerfeindlichkeit, eventuell sinnvoll, mindestens gelegentlich Realitäten aufzuführen. Ähnlich wie das LGBTQASIN+-Akronym für verschiedene queere Menschen gibt es das Akronym FLINTA* für Frauen und queere Menschen im Zusammenhang mit ihrem Geschlecht: Frauen, Lesben, inter*, nicht-binäre, trans und agender Personen. Auch an dem Akronym gibt es Kritik, weil nicht in den Kopf von Leuten gehen will, dass das nicht Frauen + Addons, oder Frauen + Frauen Lite heißt, sondern tatsächlich alle Lesben, trans, inter*, nicht-binären und agender Personen mitmeinen soll. Das ist etwas, was wir versuchen können zu prägen, was ich mir wünschen würde. Zur Einordnung, was damit funktionieren kann und welche Probleme bleiben, habe ich einen Artikel zu FLINTA*-Netzwerken geschrieben.

Lesben und Identitäten aus historischen oder kulturellen Kontexten

Häufig irritiert im Akronym FLINTA* das L für Lesben. Es wird dabei oft vergessen, dass Lesben nicht nur Frauen meint, die (ausschließlich) auf Frauen stehen, sondern auch Ausdruck von trans sein, von nicht-binär sein oder von Ausbruch aus Geschlechtszuschreibungen stehen kann. Dieser Artikel beschreibt einen guten Einstieg in das Thema “he/him-Lesben”. Nicht-binäre Menschen hat es schon immer gegeben. Personen, die nicht in das weiß-christliche binäre Geschlechtsmodell passen, erleben brutalste sexistische Gewalt weltweit seit Jahrhunderten, ob sie nun trans, nicht-binär, inter* oder agender sind, Lesben, Männer, deren Genderexpression feminin gelesen wird, Menschen, deren Geschlechter in das weiß-christliche Dominanzsystem zwangseinsortiert werden, obwohl sie mit dem System nicht viel zu tun haben. Jedes Akronym wird bestimmte Realitäten vergessen. Es ist wichtig, dass wir sehen, dass diese Akronyme nie vollständig sind, wir offen für Erweiterung sein sollten. Und dass es immer noch das System zu dekonstruieren gilt, und uns die verschiedenen Realitäten eine Idee geben, was wir dekonstruieren müssen, und wer wir selbst sein könnten. Sie sind nicht dazu da, einfach irgendwo eine neue Linie zu ziehen, um Menschen binär einzuteilen.

Wie funktioniert Sexismus? Wer ist warum und in welcher Weise von Sexismus benachteiligt?

Sexismus passiert auf sehr vielen verschiedenen Ebenen. Dabei geht es um systematische Ungleichbehandlung, Ungerechtigkeit, Benachteiligung, Abwertung und Gewalt im Zusammenhang mit Geschlecht. Betrachten wir nur die Gruppen Frauen und Männer und machen Statistiken über Pay Gap, sexualisierte Gewalt, weiteres, werden wir feststellen müssen, dass die Gruppe der Frauen davon statistisch erheblich mehr Gewalt und Benachteiligung ausgesetzt ist und die Gruppe der Männer eher profitiert. Oft ist Menschen nicht einmal das klarzumachen, sodass vehement mit zu einfachen Worten verteidigt wird: Frauen sind von Sexismus negativbetroffen, Männer profitieren vom Patriarchat. Auch wenn Männer durchaus im Rahmen toxischer Männlichkeit Gewalt erfahren, wenn sie Eigenschaften ausleben oder haben, denen Weiblichkeit zugeschrieben wird. Aus dieser Zuschreibung von Weiblichkeit an Eigenschaften und Verhaltensweisen, und deren darauffolgende und darin begründete Abwertung, ergibt sich der Begriff Feminismus als Kampf gegen dieses System.

Aber in einem etwas sarkastischen Beispiel mag ich erklären, dass diese Idee viel zu vereinfacht ist und Personen Unrecht tut, sie gatekeept: Wenn eine Person A im Kleid, langen Haaren, Schminke auf die Straße geht, dann ist das Vorgehen üblicherweise nicht, dass eine Person B auf A zugeht und sagt: “Schönen guten Tag, ich würde sie gern sexistisch abwerten, aber ich weiß gar nicht, welches Geschlecht sie haben. Mögen Sie mir das bitte einmal verraten?”

Person B wird einfach auf Basis des Äußeren entscheiden, welche Reaktion folgt. Unabhängig von Genitalien, unabhängig von Labeln, unabhängig vom eingetragenen Geschlecht, unabhängig vom Geschlecht, einfach auf Basis dessen, was B zu der Zeit für Informationen hat. Wenn irgendetwas am Erscheinungsbild von A für B nicht stimmig in Bezug auf Geschlechts-Prototypen wirkt, umso mehr.

Nicht jede Form von Sexismus basiert darauf. Betrachten wir erwartete Care Arbeit: Erwartungen in Bezug auf Care Arbeit hat das Umfeld an A meist, weil das Umfeld weiß, welches Geschlecht A hat. Wenn A dya cis weiblich ist, erwartet es wahrscheinlich, dass sich A Elternzeit nimmt, mehr für Kinder sorgt, zu Hause bleibt. Wenn A zum Beispiel offen nicht-binär oder inter* ist, hat A Glück, wenn A einen Platz im Umfeld haben kann. Das Umfeld hat da ganz andere Fragen, wie etwa “Darfst/Kannst du überhaupt Kinder kriegen?”. Wenn A männlich ist, oder auch nur mit männlich sein in Verbindung gebracht wird, weil A zum Beispiel trans weiblich ist und in den Gedanken des Umfelds doch so halb misgendert wird, und im Kleid, mit langen Haaren und Schminke erscheint, erlebt A wahrscheinlich noch andere wirklich üble Formen von Sexismus. Ja, Sexismus. Transfeindlichkeit sogar, unabhängig vom Geschlecht. Transfeindlichkeit ist eine schlimme Ausprägung von Sexismus, bei der es darum geht, dass das Konzept, das Leute von einem bestimmten Geschlecht haben, gestört wird und sie sich infolgedessen abwertend verhalten. Zum Beispiel stellen sie häufig direkt völlig invasive Fragen oder fordern Auflagen an Kleidung in bestimmten Bereichen. Sie erklären einem ständig und wiederholt, was für eine Last eins als Person für das Umfeld darstelle, indem eins diese Konzepte von Geschlecht störe. Und das sind nur die harmloseren, positiveren Standardreaktionen.

Sexismus ist die systematische Gewalt, die Menschen im Zusammenhang mit Geschlecht erfahren. Bei vielen ist Ursache dafür, dass sie diese Gewalt erleben, dass sie nicht männlich sind, bei vielen ist die Ursache, dass sie nicht “ausreichend männlich” eingeordnet werden. Dabei ist egal, welches Geschlecht sie tatsächlich haben. In vielen Fällen kommt beides zusammen. Aber trans Männer und trans maskuline Personen zum Beispiel sind nicht nur durch Zuweisung negativer Vorstellungen von Männlichkeit systematisch von Sexismus negativbetroffen, sondern auch besonders weil ihnen Männlichsein abgesprochen wird.

Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit Sexismus hängen also nicht ausschließlich mit dem tatsächlichen Geschlecht einer Person zusammen, sondern mit Geschlecht, das ihnen zugeschrieben oder abgesprochen wird. Meiner Erfahrung nach fällt es Leuten durchschnittlich sehr schwer, diesen Satz zu verstehen. No shame. Wenn es einer Person von euch so geht und irgendwann der Knoten platzt, erzählt mir gern, wie, damit ich besser vermitteln lerne.

Auf dem Bild sind zwei Graphen zu sehen. Die y-Achse bildet so etwas
wie die Stärke der Diskriminierung im Zusammenhang mit Geschlecht ab.
Die Überschrift des linken Graphs ist Verbreitete Annahme, die des
rechten Graphs, Etwas näher an der Realität. Der linke Graph zeigt eine
abfallende Kurve mit einem breiten roten Abschnitt, einem schmalen lila
Abschnitt und einem breiten blauen. Dabei steht rot für Frauen, lila für
nicht-binäre Menschen und blau für Männer. Über dem lila Teil der Kurve
für nicht-binäre Menschen, wo zugleich das stärkste Gefälle ist, deutet
ein Pfeil in Richtung des Abfalls und ist beschrieben mit: Je
männlicher. Der rechte Graph zeigt auch eine abfallende Kurve, die aber
nie so niedrig wird wie die linke. Der schmale Abschnitt ist nun gelb
und links und etwas breiter als der lila Abschnitt rechts, und mit
FLINTA*-Personen betitelt. Dann kommt der rote Abschnitt mit dya cis
Frauen und der blaue mit dya cis Männern. Allerdings sind die drei
Abschnitte jeweils mit einzelnen Linien der jeweils anderen Farben
durchsetzt. Eine blaue Linie im rechten, gelben Bereich ist beschrieben
mit: dya cis Männer, denen Männlichkeit abgesprochen wird. Eine gelbe
Linie im roten, mittleren Bereich ist mit einen Pfeil auf den lila
Bereich im linken Graphen versehen und beschriftet mit: passen zu diesem
Bild. Eine gelbe Linie im rechten, blauen Bereich ist beschriftet mit:
Zum Beispiel manche agender
Personen.

Ich versuche es hier mutig mit einer Graphik, bei der ich tatsächlich etwas Angst habe, dass sie mir um die Ohren fliegt. Dabei bin ich mir relativ sicher, dass sie nicht völlig Quatsch ist.

Links habe ich abgebildet, wie ich eine verbreitete Annahme wahrnehme: Diskriminierung im Zusammenhang mit dem Geschlecht diskriminiere Frauen am meisten, Männer (fast) gar nicht und dazwischen gibt es einen kontinuierlichen Übergang, in dem nicht-binäre Menschen aufgeführt werden. Sie werden dazwischen einsortiert, weil viele Menschen glauben, sie wären irgendetwas zwischen Frauen und Männern, oder neutral, aber nicht außerhalb. Entsprechend hätten sie weniger Nachteile als Frauen, weil sie weniger weibliche Eigenschaften und/oder mehr männliche Eigenschaften hätten. Dass Eigenschaften Geschlechtern zuzuweisen Sexismus und Transfeindlichkeit ist, ist vielen nicht im geringsten bewusst. Dazu mag ich gern auf den Artikel “Binäre Geschlechtszuweisungen, überall” verweisen.

Geschlechtszuweisungen werden von außen aber unabhängig vom Geschlecht vorgenommen. Das heißt, eine der größten Ursachen dafür, Zielscheibe für sexistische Abwertung, Benachteiligung und Gewalt zu sein, korreliert nur mit dem Geschlecht, ist aber nicht vom Geschlecht abhängig, weil die Geschlechtszuweisung eben nur mit Geschlecht korreliert, aber davon unabhängig ist. Personen, die in dem Mann-Frau-Geschlechtsmodell konsequent falsch eingeordnet werden, erleben durchschnittlich sexistische Gewalt im besonderen Maße. Nicht ohne Grund sind viele trans, inter*, nicht-binäre und agender Personen traumatisiert durch die Gesellschaft, im Burnout, oder erleiden andere wirklich schlimme Folgen, die sich binäre dya cis Menschen, die auch sonst eher privilegiert sind, kaum vorstellen können. Es gehört oft irgendein medizinischer und Gutachten-Marathon zum Leben dazu, Misgendern und falsche Vorannahmen stehen an der Tagesordnung, der Weg zu medizinischem Fachpersonal startet üblicherweise mit der Frage, “Wird die Fachperson mich behandeln wie Dreck?”, und die Frage ist sehr berechtigt.

Soll also ein Graph den Verlauf von sexistischer Gewalt in Abhängigkeit von Faktoren veranschaulichen, die im Zusammenhang mit Geschlecht stehen, wäre schon einmal ein treffenderer, wenn auch nicht perfekter Ansatz, drei Gruppen zu betrachten, wenn diese dya cis Frauen wären, dya cis Männer und die Gruppe aller Lesben, inter*, nicht-binärer, trans und agender Personen. Letzt genannte Gruppe würde ganz links in der Graphik auftauchen, dann dya cis Frauen, dann dya cis Männer.

Und auch diese Einteilung ist nicht ohne Fehler. Zurück zum Beispiel: Wenn B auf der Straße A sexistischer Gewalt aussetzen wird, fragt B nicht nach Geschlecht, nicht nach Genitalien, nicht nach Labeln, nach gar nichts. Wenn zur Genderperformance (die sich Personen nicht einfach aussuchen, sie gehört manchmal so fix zum Sein einer Person, dass hier genauso wenig mit “die Person hat eine Wahl” argumentiert werden kann, wie bei trans Personen) eines dya cis Mannes fest dazu gehört, Kleider und Nagellack zu tragen, dann erfährt die Person üblicherweise mehr sexistische (auch zum Beispiel sexualisierte) Gewalt, als dya cis Frauen. Eine Person mit einer Genderperformance, die weiblich eingeordnet wird, und die selbst irgendwie männlich gelesen wird, ist auf der Straße und im Alltag völlig unabhängig vom Geschlecht instant Gewalt ausgesetzt, solange es nicht als alberne Verkleidung gedacht ist und gelesen wird. Aus diesen und anderen Gründen sind in der Grafik vereinzelte Linien der jeweils anderen Farben in den Farbblöcken. Dabei geht es mir nicht darum, zu sagen, dass jene extra beschrifteten Linien die einzigen wären, die andere Erfahrungen machten, als der Rest ihrer Gruppe, und auch nicht, dass die genaue Ordnung hier so präzise wäre. Das ist gar nicht machbar, nicht zuletzt, weil wir sehr weit davon entfernt sind, diesbezüglich mal Forschung und Studien zu betreiben. Sondern um darauf aufmerksam zu machen, dass keine Einteilung in auch drei Gruppen je zu Ende gedacht sein kann, und dass wir auch damit immer Menschen unrecht tun werden.

Der Aspekt des indirekten Misgenderns

Die Zusammenfassung “Weibliche und nicht-binäre Personen” misgendert nicht direkt, aber zum einen ist die Auswahl seltsam und zum anderen legt sie nahe, dass hier “weiblich gelesene Personen” statt nicht-binäre Personen gemeint sind. Aus Erfahrung weiß ich aus vielen Gesprächen, dass ich mit dieser Vermutung oft richtig liege. Es wirkt, als hätten hier Leute an sich “weiblich gelesene Personen” sagen wollen, aber dann hätten sich (zurecht) viele Leute beschwert, und es wurde in Worten “weiblich gelesene Person” durch “nicht-binäre Person” ersetzt, aber nicht im Mindset. Es erinnert mich stark daran, als Leute mich noch irgendwie in Frauenprojekte stecken wollten, weil ich “weiblich gelesen” wäre, worüber ich damals einen Artikel schrieb. Es wirkt, als kämen Personen nie über dieses binäre Denken von Frau versus Mann hinaus, müssen in das Modell irgendwie nicht-binäre Menschen einordnen und tun es “fairerweise” bei den Frauen. Es ist wie ein Frauen* nur versteckter und länger. Was an Frauen* das Problem ist, beschreibt dieser missy-Artikel von 2018 wunderschön. Dass nicht-binär heißen kann, dass eine Person trans maskulin ist, Mann und Frau zugleich, etwas völlig außerhalb dieses Spektrums oder ohne Geschlecht, dass nicht-binäre Menschen nicht diese eine kleine Dritte-Geschlechts-Insel sind, die aber ungefähr wie Frauen sind, sondern eine riesige, diverse Gruppe, mit den verschiedensten Geschlechtern, ist Personen nicht klar. Bei der Akzeptanz nicht-binärer oder auch anderer LINTA*-Personen geht es nicht darum, kleine extra-Zettelchen irgendwie mit in den Topf Frau zu werfen, – wobei es mit den selbstgewählten Labeln schonmal besser ist, als mit Fremdbezeichnungen –, sondern echten Raum und Platz im System für Geschlechtsdiversität zu schaffen und das Konzept von Mann und Frau als die zwei eigentlich einzigen Kategorien zu zerlegen, und zwar nicht, indem sie durch drei oder vier Kategorien ersetzt werden, die dann wieder bezüglich Benachteiligung in zwei gekippt werden. Und ja, ich will bitte auch den Raum für und die Solidarität mit Männern, die weinen, Nagellack und Kleider in der Öffentlichkeit tragen und regelmäßig sexualisierte Gewalt erleben, ob cis oder trans oder außerhalb dieser Label.

Vernachlässigung anderer Diskriminierungsformen als Sexismus

Es ist wichtig, über Diskriminierung im Zusammenhang mit Geschlecht zu reden. Aber die Förderungsangebote von “Frauen und nicht-binären Menschen” begegnen mir in Zusammenhängen, wo zum Beispiel auch viele Schwarze Menschen und People of Color sind und vergessen werden, oder Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten oder Menschen deren atheistische, religiöse, gläubige, kulturelle oder traditionelle Lebensweise und/oder Zugehörigkeit von christlich-westlichen Normvorstellungen abweicht. Ich erlebe diese Förderungsaufforderungen generell meistens in Zusammenhängen, wo wir Diskriminierung abbauen und Diversität Raum geben wollen. Leider kommt Menschen oft dabei als erstes und ausschließlich Sexismus und Geschlecht als Diversitätsfaktor in den Sinn. Frauen, die nicht mehrfachmarginalisiert sind, werden gegenüber Schwarzen Männern, die nicht mehrfachmarginalisiert sind, bevorzugt eingestellt. Behinderungen werden bei Diversitätsfragen oft ganz außen vorgelassen. Warum kümmern wir uns fast immer nur um Sexismus? Wie gesagt, ich bin voll dafür, dass wir Diskriminierung im Zusammenhang mit Geschlecht ansprechen, daran arbeiten, und schauen, wie wir das hinkriegen, von Frauen-Quoten weg- und eher zu FLINTA*-Quoten hinzukommen. Aber ich wäre wirklich erleichtert und froh, wenn wir die anderen Diskriminierungsformen auch schon mit halb so viel Elan angehen würden, wenn nicht mit mehr. Ich wünsche mir, dass Leute, die eine Aktion starten wollen, die sich für Raum für Diversität einsetzt, und die Idee verfolgen, dass es dabei um Geschlechtszusammenhänge gehen soll, sich einen Moment Zeit nehmen, um zu überlegen, ob nicht weiter gesteckt werden kann.

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