Fremdgefühle

May wachte tief in der Nacht auf und fror. Es regnete draußen. Der Rapsfeldgeruch war verschwunden. Stattdessen zog der Geruch nach feuchtem Grün mit kühler, wässriger Luft in die Wohnung. Sey stand auf und ging in die Küche, ohne sich Licht anzumachen. Vielleicht hätte es beim Abfüllen des losen Tees in das Teesieb geholfen. Oder beim Befüllen des Wasserkochers auf einen sinnvollen Füllstand. Sey konnte das alles ohne Licht. Es ging langsamer, aber es war so viel angenehmer. Licht tat in den Augen weh, strengte an. Die Nacht entspannte.

Aufgewacht war sey bei einem Gedanken an Chris. Natürlich. Allerdings ein etwas anderer. Chris hatte damals nichts von einem Erbe erzählt. Er war auch nie arm gewesen. Seine Familie hatte immer gut Geld gehabt und war nach Mays Erfahrung eher knausrig. Aber eine größere Erbschaft war zumindest nicht Quelle des Finanzstatus gewesen.

Sie waren seit etwa drei Jahren nicht mehr in Kontakt miteinander. Sey vermutete, wäre die Sache mit dem Erbe noch in der Zeit zuvor passiert, hätte sey es mitbekommen. Das hieße, dass es innerhalb der letzten drei Jahre einen Todesfall in Chris’ Familie gegeben haben musste. Sey zog scharf die Luft ein und hielt sie dann eine Weile an. Als müsste sey sich genau jetzt dagegen entscheiden, etwas zu tun. Damit an ihn vererbt würde, müsste es sich um seinen Vater gehandelt haben. Die Mutter hatte zwar auch Vermögen, war aber ja erwähnt worden. Bestimmend, wie sey sie kannte.

Seine Eltern waren getrennt, Chris Einzelkind, bei der Mutter geblieben. Den Vater hatte er lange nur selten gesehen und erst in den letzten Jahren, während sie noch ein Paar gewesen waren, angefangen, vermehrt Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber sey wusste, wie sehr er litt. Was es für ihn bedeutete, einen Menschen zu verlieren. Es heilte bei ihm nicht so einfach. Das war unfair formuliert. Für die meisten heilte Schmerz durch Trauer nicht einfach. Aber bei ihm war es um ein Vielfaches schlimmer. Als sey ihn kennen gelernt hatte, war es schon ein Jahr her gewesen, dass seine Großmutter gestorben war, und es hatte ihn noch zwei Jahre später nachts aus Träumen an sie auffahren lassen. Dann hatte er sich heulend in seren Armen aufgelöst. Manchmal hatte es ihnen mehrere Nächte am Stück fast jeglichen Schlaf gekostet. Und manchmal war alles ruhig und nichts passierte. Sey wusste nicht mehr, in welchem Verhältnis die schlimmen Nächte zu den anderen standen.

Das klackende Geräusch erstatte Bericht, dass der Wasserkocher fertig gekocht hatte. Sey nahm ihn vom Sockel und goss vorsichtig nach Gehör das Wasser in die Kanne. Sey konnte nicht einfach einen Finger in die Kanne halten, um zu fühlen, wann sie fertig gefüllt wäre, wenn sey sich den Finger nicht verbrühen wollte. Also musste es rein nach Gehör gehen. Zumindest, wenn sey nicht doch kurz das Licht einschalten wollte, was nicht der Fall war. Während der Tee zog, zog sey sich seren flauschigen Bademantel über und öffnete das Küchenfenster. Einzelne Regentropfen prallten irgendwo ab und die winzigen Reflexionströpfchen stoben direkt auf Mays Gesicht und Unterarme. Sey schloss die Augen und atmete, seufzte. Wartete einen Moment, dann verrieb sey die Feuchte auf den Unterarmen. Sere Finger fanden den Weg zu seren Lippen, berührten diese sanft und verteilten auch dort das Regenwasser. Es war angenehm, schmeckte nach Draußenwasser. Anschließend schloss sey das Fenster wieder und goss sich Tee in eine Tasse.


Sey würde den Kontakt zu Chris nicht wiederbeleben.


Sey rahmte sich diesen Beschluss gedanklich ein, machte ihn sich sehr präsent. Und im selben Augenblick prasselten Gefühlserinnerungen durch seren Körper. Sey hatte sein Gefühl gefühlt, als wäre es ser eigenes. Die Trauer, die Verzweiflung über den Tod der Großmutter. Und später auch darüber, dass sey sich von ihm getrennt hatte. Es tat weh, ihn so zu sehen. Allein zu wissen, dass er jetzt wieder diese Gefühle haben mochte, tat weh. Es fühlte sich an wie ser eigenes Gefühl, als wäre es sere Verzweiflung, aber das war es nicht. Es war ein Femdgefühl, so manifestiert in sem, als wäre es das, mehr nicht. Aber sey fühlte es so intensiv, als hätte sey das alles erlebt und hätte seine Reaktionen darauf.

Sey plöppte ser Notebook aus der Dockingstation, sammelte sich eine Decke und setzte sich mit dieser um den unteren Körper gewickelt bei nun ganz geöffnetem Fenster auf ser Sofa. Der Tee stand auf einem Hocker rechts neben dem Sofa, nicht auch auf dem Tisch, damit, falls die Tasse mit ihm drin umfiele, er nicht die elektronischen Geräte beschädigte. Der Rechner musste nicht erst hochgefahren werden, sondern weckte sich innerhalb kurzer Zeit aus dem Suspend. Entgegen aller Intuition irgendwelcher Außenstehenden war der Text auf serem Bildschirm nicht vergrößert, vielleicht sogar eher eine Spur kleiner als durchschnittlich. Aber jedes Programm, dass sich sem nicht widerspenstig entgegesträubte, hatte exakt die gleiche Monospace Schrift, geringen Kontrast, hellgrau auf dunkelblaugrau. Ohne den Blaustich hätte es auch getan, aber sey mochte ihn und die Stimmung dadurch. Es gab kein Menü, keine Taskleisten oder ähnliches. Für alles hatte sey Tastenkombination, brauchte dafür keine Grafik.

Sey rief die Datingseite auf, auf der sey damals mit Chris ein Profil für ihn eingerichtet hatte. Nicht dieses, das hätte er mit sem zusammen nicht gewagt. Oder doch? Aber sey wollte wissen, ob es wirklich Chris war. Den Text hatte sey noch brauchbar genau im Kopf, sodass sey nicht lang brauchte, um das Profil zu finden. Es war tatsächlich Chris. Beim Anblick des Gesichts wurde sem kurz ganz anders. Dieses Gesicht würde sey auch nach Jahren noch wiedererkennen, sehr ungern.

Sey klappte den Rechner wieder zu und legte ihn am anderen Ende des Sofas, also nicht dort, wo der Hocker mit dem Tee war, auf einen dafür vorgesehenen Stapel aus Gedöns. Sey tat es auf eine Weise, dass das Gedöns das Notebook gegen das Sofa drückte, sodass es nicht durch die Gegend rutschen konnte. Anschließend legte sey sich auf den Rücken.

Manchmal schlief sey auf dem Sofa, obwohl sey auch ein Bett hatte. Es war anders, half beim Achtsamsein. Sey strich sich sanft mit den Fingern durchs Gesicht und dann über die Arme, durch die feinen Härchen, achtete auf den Atem und auf die weiche Unterlage, den Flausch des Bademantels, und auf den Wind, der durch das Zimmer wehte. Dann küsste sey sanft sere Unterarme, ließ warmen Atmen darüberstreichen, wo vorher die kalte Feuchte längst wieder getrocknet war.

Die Fremdgefühle waren ein großes Problem gewesen. ‘Du kannst mich jetzt nicht allein lassen!’, klang viel harmloser, als es das tatsächlich war, wenn es in einer Situation ausgesprochen wurde, in der man sich abgrenzen wollte, während die andere Seite in einem Meer von Angst und Schmerz versank.

Die Erfahrung hatte Elena vielleicht noch nicht gemacht. Elenas Stimme hatte so jung geklungen. Vielleicht war sie gerade 18 oder so etwas. Auf der anderen Seite wusste May auch gut, dass sey sich oft sehr verschätzte.

Viel eher als das vermeintlich junge Alter verunsicherte sem die ganze Art, wie Annika und Elena bei dem Thema miteinander umgegangen waren. Sie waren lieb miteinander umgegangen, das auf jeden Fall, es war schön gewesen, dabei zuzusehen. Aber die Art des Miteinanders hatte auch einiges über Elena verraten. Was, wenn Annika Elena nicht ausredete, weiter mit Chris zu schreiben. Was, wenn Elena diese Pflicht, die sie beschrieben hatte zu empfinden, tatsächlich dazu brachte, mit Chris zu schreiben. Sie konnte noch so sehr sagen, dass sie nicht die Beziehung wollte, sondern ein anderes Ziel verfolgen würde. Chris war gefährlich. Chris hatte ein gutes Gefühl dafür, wofür andere empfänglich waren. Man könnte es so beschreiben, dass er die wunden Punkte seines Gegenübers fand, und dieses Wissen in jeglicher Art ausnutzte. Wenn das Gegenüber Lob brauchte, lobte er, aber knüpfte ab einem bestimmten Zeitpunkt das Lob an Bedingungen. Es war noch ein bisschen perfider und weitreichender: Er versprach im Umkehrschluss auch, dass er shamen würde, wenn die Bedingungen nicht eingehalten wurden. Die Bedingungen klangen dann jeweils überzeugend. Die Formulierung war dann nicht ‘Wenn du dies nicht machst, strafe ich durch jenes’, sondern viel eher ‘Diese und jene Handlung wäre von dir offensichtlich logisch, wenn du ehrlich bist. Wenn du dich bewusst dagegen entscheidest, kann ich dir dann halt auch nicht helfen. Dann musst du schon sehen, wie du klarkommst. Da kann ich dann auch nichts mehr für’. Die Begründung, warum es logisch wäre, könnte zum Beispiel sein, dass sey sich nicht überlasten oder überfordern solle, oder zu viel riskieren würde.

Er hatte sem damals gesagt, dass sey besser nicht versuchen sollte, seren Rechner auf Linux umzustellen. Was, wenn es scheiterte? Dann hätte sey gar nichts mehr. Niemand könnte sem helfen. Wenn sey bei einem anderen Betriebssystem bliebe, das er kannte, dann würde er sem bei jedem Programm helfen, es für sere Bedürfnisse einzurichten.

Aber wenn sey es mit Linux probieren würde und es scheiterte, würde er eben nicht helfen, auch nicht beim Widerherstellen des alten. Das wäre dann ser Problem. Und wenn sey es so formulierte, ergab es immer noch Sinn. Es machte sem ein bisschen wütend, dass sey das Problem nicht einmal zuverlässig im Kopf auf den Punkt gebracht bekam. Das Problem war nicht, dass er sem Gefallen nicht getan hätte oder sich nicht ausreichend für sem eingesetzt hätte. Oder sem nicht geholfen hätte. Es war nicht, dass er einer Verpflichtung, für sem da zu sein, nicht nachgekommen wäre. Das war alles sein Recht. Es war der bewusste Aufbau emotionalen Drucks, das gezielte Wählen von Formulierung, Moment und Stimmung, das Transportieren von Nachrichten dabei. Er bestimmte dadurch, was sey tat. Er formulierte es in einer Art, dass klar war, dass er wusste, was gut für sem war, und wenn sey es nicht einsah, dann folgte daraus Schlimmes. Und natürlich schwang oft Sanism und Ableism mit. Zum Beispiel in Wortwahlen wie ‘offensichtlich’, wenn es das für sem nicht war.

Damals hatte sey noch keine Person gekannt, die mit einem Linuxsetup hätte helfen können. Es war also ein Risiko, diesen Schritt zu machen. Es wäre risikofrei gegangen, hätte sey einen weiteren Testrechner gehabt, aber sey hatte keinen. Es gab einen alten, aber der wurde als Multimediarechner genutzt und sie hatten sich geeinigt, auch den nicht ausversehen zu zerstören. Ohne Hilfe wäre es gut möglich gewesen, dass sey irgendwo stecken geblieben wäre, vielleicht ausversehen eine Festplatte überschrieben hätte. Außerdem war damals auch gar nicht so klar gewesen, inwiefern ein Linux-Betriebssystem sem helfen würde. Heute wusste sey es. Es gab einfach so viele Möglichkeiten, das System genau so einzurichten, wie es für sem gut war. Es hatte ser Leben unbeschreiblich erleichtert, sparte sem täglich Ressourcen und hatte sem seren heutigen Lebensweg im Software Development überhaupt erst ermöglicht. Als sey es dann vor ungefähr fünf Jahren tatsächlich in Angriff genommen hatte, als sey Zugang zur Chaos Community gefunden hatte.

Bei serem vorherigen Betriebssystem hatte sey tatsächlich immer wieder Hilfe gebraucht oder für manche Aufgaben sehr lang und viel mehr Energie investieren müssen, als sey eigentlich hatte. Deshalb hatte Chris Zugang zu serem Rechner gehabt. Chris hatte sem zwar immer wieder gefragt, ob das okay wäre, aber irgendwie hatte in der Frage immer mitgeklungen, dass es nicht okay gewesen wäre, wenn sey auf einmal verneint hätte. Das hätte Fragen nach sich gezogen. So etwas wie ‘Irgendetwas ist anders zwischen uns. Habe ich dir etwas getan?’ oder an anderer Stelle regelmäßig ein ‘Es ist schön, dass wir uns soweit vertrauen können, oder nicht? Wie siehst du das?’.

May ballte die Hände zu Fäusten und atmete schneller. Es kamen immer noch nur vereinzelt klarere Problematiken dieser Beziehung an die Oberfläche. Es hatte viele Situationen zwischen ihnen gegeben, in denen er sem unterschwellig die Schuld zu etwas zugeschoben hatte und sey auch das Gefühl hatte, in der Verantwortung zu sein. In denen sey geglaubt hatte und teilweise immer noch unterbewusst glaubte, dass sere Gefühle sem gehörten und erst viel später herausfand, dass es Fremdgefühle waren, von ihm in sem gezielt, kontrolliert und sorgsam eingepflanzt, Stück für Stück immer ein bisschen mehr, bis sey ganze Gefühlswelten hatte, die nur dazu da waren, die Beziehung am Laufen zu halten und sem zu kontrollieren. Gefühlswelten, die jederzeit genutzt werden konnten. Von vielen dieser Gefühle war sey heute noch nicht ganz sicher, woher sie eigentlich gekommen waren. Und sey wusste nicht, wie viele Gefühle noch da waren, die eigentlich nicht sem gehörten.

Gezielt eingepflanzt, war vielleicht nicht ganz richtig ausgedrückt. Es war zwar schon mit Präzision geschehen, aber nicht unbedingt bewusst. Chris hatte Angst vorm Verlassenwerden. Er brauchte ständig Bestätigung, sonst klappte sein Selbstwertgefühl völlig ein und das fühlte sich schrecklich für ihn an. Er brauchte ständig Beweise dafür, dass man ihn liebte, sonst kam er sich furchtbar ungeliebt vor und hasste sich selbst. Er hatte all dies nicht mit kaltblütiger Absicht gemacht, sondern, weil er dringend etwas brauchte, um nicht diesen furchtbaren Gefühlen ausgesetzt zu sein. Das Hintergrundwissen entschuldigte natürlich nicht, dass er tat, was er tat. Eigentlich machte es dieses Hintergrundwissen sogar schlimmer. Es machte sem noch ausgelieferter. Weil die einzige Möglichkeit aus diesem Abhängigkeitsverhältnis heraus diese schrecklichen Gefühle zur Folge hatte. Schrecklich reale Gefühle, die sey alle mitfühlte. Fremdgefühle, die sey nicht zu verantworten hatte zwar. Aber selbst jetzt, zehn Jahre später, als sem bewusst war, dass es wirklich nur Fremdgefühle waren, fühlte sey sich schlecht, den Schritt gemacht zu haben, der diese Gefühlsspirale in Gang gesetzt hatte. Trotzdem, es war richtig gewesen.

Vielleicht war Elena besser in der Lage, sich zu schützen. Aber Chris war gefährlich. Die Folgen der Beziehungen waren dramatisch und hielten bis heute an. Allein das Risiko, dass es Elena passieren könnte, in eine Beziehung hineingezogen zu werden, zunächst harmlos zu schwärmen, – denn Charme hatte Chris –, später Geheimnisse, Familienangelegenheiten preis zu geben, abhängig zu werden, war May zu hoch.

Sey würde mit Elena darüber reden. Müssen. Es ging sem nicht wirklich etwas an, es war viel zu persönlich. Es kam May seltsam vor. Vielleicht sollte sey sich daraus halten. Aber das Risiko, dass Elena sich in eine lebensbeeinträchtigende Situation begeben könnte, war hoch. May könnte vielleicht durch ein Eingreifen etwas Schlimmeres verhindern, und das war es sem wert, selbst wenn so ein Eingreifen nicht völlig angemessen sein sollte, weil sie sich noch gar nicht kannten.

Sey richtete sich auf, – und legte sich doch wieder hin. Morgen nach Sonnenaufgang reichte auch noch. In einer Nacht konnte Schlimmes passieren, das wusste sey auch, aber in einer Nacht würde Chris keine ganze Psyche umprogrammieren.

Und dann richtete sey sich doch noch einmal auf, um den Tee zu trinken.


Als May am nächsten Vormittag vor Elenas Tür ein Stockwerk tiefer stand, war wieder so ein Moment des Trotzdem-Tuns. Die Angst, anzuklopfen, war groß; was herauskommen konnte, viel zu unkalkulierbar. Sey hatte sich nicht einmal einen Anfangssatz überlegt, als sey klopfte. Einfach, weil sey es sonst nicht getan hätte.

Elena öffnete zügig. “Hi!”, sagte sie erfreut, aber mehr erst einmal auch nicht.

May holte einmal tief Luft. “Ich will mit dir über Chris reden”, sagte sey. Erst dann fielen sem Manieren ein. “Hi!”

“Du kennst diesen Chris?”, fragte Elena.

May nickte einfach.

“Dein Ex?”, mutmaßte Elena richtig.

“Ja.”

“Du hast also sein Datingprofil gesucht nach gestern Abend?”

“Ja”, bestätigte May. Etwas am Klang in Elenas Stimme wirkte, als wäre das nicht okay, entsprechend brachte sey Unsicherheit in sere.

“Du stalkst mich also quasi?”, fragte Elena.

Natürlich fühlte sich May im ersten Augenblick missverstanden. Und eigentlich, nun, so ganz empfand sey es auch nicht so. Aber es war etwas dran. Ein Einmischen, ohne zu fragen. Sey hatte auf Basis aufgeschnappter Informationen Spuren verfolgt. “Shit.”

Elena stand in der Tür, ungerührt und wartete.

“Shit”, wiederholte May, und wandte sich zum Gehen. “Tut mir leid.”

“Hey, warte!”, rief Elena.

May blieb folgsam stehen, schon halb der Treppe hinauf zugewandt.

“Hast du dir mein Profil angeschaut?”, fragte Elena.

May schüttelte den Kopf. “Nein. Nur das von Chris.”

“Schade”, sagte Elena mit einem plötzlichen Grinsen in der Stimme. “Komm rein!”

May fühlte unvermittelte Überraschung – nicht unbedingt angenehme –, die sich fast wie ein kleiner Schock anfühlte, drehte sich wieder zu Elena um und folgte dem Wink über die Türschwelle.

Neue Wohnungen. Die ersten Momente, vielleicht die ersten zwei Stunden in einer neuen Wohnung waren immer sehr schlimm. Sey sah vom Flur Türen weggehen, aber sey würde sich in dem Stress, den es bedeutete, eine neue Wohnung zu erfassen, nicht merken können, wie viele es waren, geschweige denn, welche wohin führte. Die Wohnung hatte eine andere Zimmerkonstellation als sere. Es waren wohl zusätzliche dünne Wände eingezogen oder nur eine oder eine versetzt oder so etwas. Sey hatte keine visuelle Vorstellung von Raumkonstellationen, sondern eine abstrakte räumliche. Kaum vorstellbar für die meisten visuellen Menschen, wie es schien. Aber für sem war das Ergebnis in der Erinnerung dasselbe, wenn sey sehend durch eine Wohnung geführt worden war, oder mit geschlossenen Augen. Das Visuelle prägte sich nicht ein. Wenn sey die Räume mehrfach abging, bildete sich ein abstrakter Raumplan in serem Kopf. Sey kannte dann die Geometrie. Und es war einfacher für sem, sich zurechtzufinden und sich die Struktur einzuprägen, wenn sey die Tiefe der Räume studierte oder wenigstens durchschritt, die Wände berührte. Sey würde nicht durch die Betrachtung der Wohnung jetzt schließen können, wie sie sich von serer unterschied.

Ser erster Blick glitt über Elenas Füße. Barfuß. Dann durch den Flur. Ein geschlossener Schuhschrank, ein offenes Schuhregal, zwei einzelne Schuhpaare unter der Garderobe. Das war kompliziert. Sey hätte doch besser gar nicht erst Schuhe anziehen sollen. Aber irgendwie hatte sey seriöser wirken wollen. Oder die Möglichkeit haben wollen, dass sie spazieren gingen. Sey bückte sich und zog die Klettbänder der Sandalen auf.

“Gelenkig”, kommentierte Elena. “Du wirkst arg verunsichert. Hat das nur mit Chris zu tun oder gibt es was, was ich gerade tun kann. Eine Erklärung der Wohnung?”

Bedürfnisse äußern, erinnerte sich May. Aber sere Bedürfnisse wirkten oft etwas kurios. Sey wagte es trotzdem. “Zwei. Wenn du magst, zwei Führungen direkt hintereinander durch alle Zimmer, die nicht zu privat sind.”

“Geht in Ordnung.” Ein Lächeln klang in Elenas herzlicher Stimme mit. So einladend! “Stell die Schuhe irgendwo hin, zum Beispiel unter die Garderobe. Da sind die Schuhe, die jeweils in Betrieb sind.”

“Du hast viele Schuhe”, stellte May fest.

“Willst du mir damit etwas sagen?”, fragte Elena.

“Nein. Ich bin eher neugierig, warum”, sagte May, fühlte sich unbehaglich dabei. Natürlich hatte sey an das Stereotyp gedacht, dass Frauen mit vielen Schuhen in Zusammenhang gebracht wurden. Dabei hatte sey es gar nicht bewertet.

“Ich mag halt Schuhe.” Elena hob die Hände als Geste, dass es eben so war. “Ich gehe gern auf verschiedene Arten von Partys, etwa sowas wie den Chaos Communication Congress, und trage da eben gern mein Schuhwerk aus.”

“Das klingt cool!”, meinte May.

Vielleicht hatte sey nicht so die Beziehung zu Schuhen. Schuhe mussten vorwiegend praktisch sein und gut sitzen – für sem. Aber wie Elena das sagte, wirkte es, wie eine persönliche Sache, die Elena mit Selbstbewusstsein tat. Das mochte May.

“Ich führe dich gleich durch die Wohnung. Die ganze. Zweimal. Aber ich habe vorher noch was anderes, was ich sagen will”, leitete Elena ein. “Die Frage, ob du mich stalkst, war so nicht okay von mir. Vor allem in einem Zusammenhang, in dem überhaupt die Möglichkeit besteht, dass die Person, um die es geht, dich gestalkt haben könnte. Ich weiß ja nicht, was vorgefallen ist. Das ist mein mangelndes Feingefühl. Es war mir ein bisschen unangenehm, dass du dich so sehr gesorgt hast. Ich kann das nicht so genau beschreiben. Ich hole das nach, wenn mir das klarer ist. Aber es entschuldigt nicht die Wortwahl.”

“Er hat mich nicht gestalkt”, sagte May ruhig. Sie atmete unerwartet erleichtert ein und aus. “Dann weiß ich, was los war. Oder dass du es halt auch nicht genau weißt. Das ist hilfreich. No offense taken.”

Es war zugleich unangenehm so direkt so persönliche Gespräche zu führen, wie es in gewisser Hinsicht erlösend war. Offene Kommunikation war um so vieles einfacher, fand May. Angst hatte sey trotzdem.

Die Wohnung hatte ein Wohnzimmer, kleiner als seres, ein Arbeitszimmer, eine kleine Küche, ein Bad und ein sehr winziges, annähernd quadratisches Zimmer, vielleicht sechs Quadratmeter. Ein fast ebeneso großes Hochbett stand darin, berührte an drei Seiten die Wände, sodass nur ein Streifen im Eingangsbereich den Zugang ermöglichte. Auf der Holzleiter stehend, die einen desolaten Eindruck machte und nicht so richtig zu den Balken passte, hätte May sich an die Wand lehnen können. Es roch nach frisch gesägtem Holz aus dem Baumarkt, Wandinnenleben und weißer Farbe. May fragte sich, ob sey wirklich herausriechen konnte, dass sie weiß war, aber sey hatte den Eindruck, dass die Farbe anders roch, als bunte es für gewöhnlich tat.

“Wow”, hauchte sey.

“Es ist krass gemütlich”, betonte Elena.

Unter dem Bett stapelten sich noch ein paar Umzugskartons. Einige Streifen Kreppklebebands hafteten auch noch auf den Fußleisten, die sie beim Anstrich vor Farbe geschützt hatten.

Elenas Blick war Mays wohl gefolgt, denn sie sagte: “Wenn alles ausgeräumt ist, baue ich hier drunter wahrscheinlich eine kuschelige Leseecke.”

Als sie nach der zweiten Runde im Flur landeten, hatte May tatsächlich eine Idee, wie die Wohnung aufgebaut sein könnte. Elena wartete wieder, vielleicht darauf, dass May etwas sagte. May hätte nun erwartet, in zum Beispiel das Wohnzimmer geführt zu werden, aber weil nichts passierte, ging sey langsam noch einmal im Flur an den Wänden entlang, die Fingerspitzen dicht an der Tapete. Sey hörte ein rasches Einatmen hinter sich.

“Soll ich etwas nicht tun?”, fragte May.

“Ich musste an etwas denken. Das hat nichts mit dir zu tun. Du machst alles genau richtig”, widersprach Elena.

“Alles?”, fragte May schnippisch. “Und zwar genau richtig, nicht nur ungefähr?”

“Ich meinte…” Elena überlegte. “Was meine ich? Du bewegst dich gerade unbekümmert. Das kann ich natürlich nicht sicher sagen. Wenigstens aber eigen. Das ist gut so.”

Mays Grinsen ging in ein weniger breites, dafür aber wohlfühligeres Lächeln über. “Das ist schön.” Sey blieb zwischen den beiden Türen stehen, die zum Mikroraum und ins Wohnzimmer führten und schätzte die Dicke der Wand dazwischen ab. “Die wurde nachträglich eingezogen.”

“Jaha”, sagte Elena gewichtig. “Das war schon eine Herausforderung, die Hochebene so festzumontieren, dass die Wand dabei nicht einfach ganz herausfällt. Wobei die anderen Wände aber auch nicht unbedingt netter gewesen sind. Altbau eben.”

May musste wieder belustigt grinsen.

“Darf ich dich etwas Persönliches fragen?”, bat Elena.

May nickte, die Fingerspitzen nun am Türrahmen zum Mikroraum.

“Hast du Sehschwierigkeiten oder so etwas? Ist das respektvoll, das so auszudrücken?”

May ließ die Hand sinken. Es fühlte sich wie ein Seufzen an, ein leichtes, fast erleichtertes vielleicht. “Ich nenne es oft Seheinschränkung. Ich könnte es vielleicht Sehbehinderung nennen. Es stellt schon eine Barriere dar, die mir den Alltag erschwert. Aber ich habe mich nie darum gekümmert, herauszufinden, ob es offiziell so heißen würde. Und ich fühle mich unsicher dabei. Es fühlt sich unfair an, weil ich eben auch eine ganze Menge sehen kann”, erklärte sey. “Wodurch ist es aufgefallen?”

“Ich weiß es gar nicht so genau. Du hast Mimik bei mir nicht mitgekriegt, die andere mitkriegen, aber das hätte auch an was anderem liegen können. Du erkundest viel auf eine Art, die das nahelegt, du gehst etwas anders, habe ich den Eindruck. Bewusster vielleicht”, überlegte Elena. “Aber du könntest auch einfach tanzen.”

Etwas schwang in der Stimme in diesem Nachsatz mit, das May nicht interpretieren konnte. Bewunderung vielleicht?

“Ich habe tatsächlich über ein Jahr an einem Kurs teilgenommen, der ‘Präsens und Bewegung’ hieß und eine Menge Tanzelemente beinhaltete. Vielleicht hat das meine Art zu gehen nachhaltig beeinflusst”, erzählte sey.

“Es ist schön”, sagte Elena schlicht.

Bewunderung, also tatsächlich. Ein warmes Gefühl breitete sich in serem Körper aus. Eigentlich nicht physisch warm. Eher eine Entspannung und etwas Wohliges. So verhielt es sich beim sem nicht bei jedem Kompliment. Vielleicht dieses Mal, weil es so schlicht war. Oder weil es etwas war, womit sey sich identifizierte. Oder aber, weil es ein Kompliment war, was nicht dazu gedacht war, etwas auszugleichen, was sey nicht konnte.

Sey reichte mit dem Arm in das kleine Zimmer und klopfte sachte an die Wand zum Wohnzimmer. Es klang, wie sey es im Geiste schon einmal simuliert hatte. “Hast du durchgebohrt?”

“Mein Bruder. Obwohl ich ihn gewarnt habe!” Elenas Grinsen breitete sich über die ganze Stimme aus.

“Bei mir in der Wohnung sind diese beiden Zimmer zusammen ein großes. Mein Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer. Dein Schlafzimmer ist bei mir ein Musikzimmer.” In dem sey trotzdem in der vergangenen Nacht auf dem Sofa geschlafen hatte. Es ging nach hinten raus und war dunkler und kühler.

“Werde ich dann mitten in der Nacht mit live-Musik geweckt?”, fragte Elena.

“Ich halte mich an die Hausregeln und Ruhezeiten. Und du darfst jederzeit sagen, dass ich irgendwelche Tage auslassen soll. Und auch immer klopfen und sagen, dass es gerade stört”, versicherte May. Aber spielen musste sey.

“Klavier?”

“Ja, und Cello. Woher weißt du?”

“Ich wusste es nicht. War mehr Wunschdenken”, sagte Elena. “Ich höre einfach unglaublich gern zu, wenn andere Leute Klavier spielen. Ich habe so etwas wie ASMR dann. Ich spüre ein entspannendes, schönes Kribbeln im Nackenbereich und an der Wirbelsäule entlang.”

“Oh, das kenne ich! Wobei es Kribbeln bei mir nicht ganz trifft. Mehr dieses entspannte, physische Gefühl kurz nachdem man gestreichelt worden ist. Leider funktioniert das nicht, wenn ich selbst spiele.”

“Funktioniert es, wenn eine vollkommen Unfähige spielt?”, fragte Elena.

“Manchmal.” May betonte es bewusst eher als Frage. Aber es war tatsächlich so. Eine Person musste nicht viel zu spielen gelernt haben, um das auszulösen. Ein paar einzelne vorsichtige Töne reichten dazu aus, dass sich etwas in sem völlig entspannte.

In ein entstandenes, kurzes Schweigen sagte Elena schließlich: “Wollen wir ins Wohnzimmer gehen? Möchtest du etwas trinken? Ich habe leider nicht so viel da. No-Name-Cola, Apfelschorle und, nun, Leitungswasser. Zur Not Kaffee, aber ich weiß nicht, wie man den kocht. Der ist noch vom Umzug für die Helfenden da.” Sie zögerte und fügte mit weniger breitem Grinsen als sonst in der Stimme hinzu: “Geholfenhabenden.”

“Leitungswasser kling gut.”

“Kannst du Gläser tragen? Dann würde ich eine Karaffe abfüllen.”


An der Wand links und rechts neben dem Wohnzimmerfenster hingen je eine Flagge, rechts eine Regenbogenflagge und links eine Antifa-Flagge, die jeweils fast die ganze verbleibende Breite der Wand zwischen Zimmerkanten und Fensterfassung ausfüllten. Darüber und darunter waren die Wände tapeziert mit Postern, sowie einem längst abgelaufenen Kalender mit Bildern einer Gothic-Künstlerin, die May sogar kannte. Sey konnte sich den Namen nicht merken, aber der Stil war unverkennbar.

An der dem Sofa gegenüberliegenden Wand stand ein Kleiderschrank, der wirkte, als würde er auseinanderfallen, wenn man kräftig zwei- oder dreimal dagegen träte. Die Holztüren waren mit Postkarten beklebt. May hätte sie sich gern angesehen, aber das hätte Stunden gedauert. Und ein Vertrauen, dass sey noch nicht hatte, aber von dem sey sich vorstellen konnte, es entwickeln zu können. Ein Vertrauen, dass Zeit gelassen wurde. Eine Postkarte erkannte sey über die Distanz trotzdem. Es war eine der Postkarten, die in den Kleinkinos und linken Kneipen in der Umgebung in Kästen zum freien Mitnehmen auslagen. Es stand BGE darauf, unten noch einmal ausgeschrieben ‘Bedingungsloses Grundeinkommen’, und zeigte ansonsten ein abstraktes geometrisches Muster. May hatte Schwierigkeiten gehabt, es zu interpretieren. Am ehesten war es ein Entwurf einer Flagge.

May setzte sich in die der Tür zugewandten Seite des Sofas, so dicht an den Rand, wie es eben ging, auf sere Füße. Sere Hand strich halb bewusst über den Stoff. Der Bezug wirkte in seinen Farben ausgewaschen, ehemals vielleicht rosa, rot und blau gemustert. Der Bezug war an einigen Stellen durch Abnutzung glatter als an anderen und an der Kante war er aufgerissen, sodass die Polsterung erfühlbar war. Allerdings war es stabiler Stoff, der wahrscheinlich nur langsam weiter aufreißen würde.

“Das Sofa hat jemand auf Ebay-Kleinanzeigen zur Selbstabholung verschenkt. Es war ein ganz schöner Akt, das zu transportieren”, erzählte Elena und setzte sich dazu.

May lächelte. Es änderte nichts daran, dass es gemütlich war. Ein bisschen weniger weich als seres. Nur würde sey sich mit gedanklicher Gewalt davon abhalten müssen, mit den Fingern ständig an der Risskante entlangzustreichen.

“Chris”, erinnerte Elena unvermittelt. “Du wolltest mit mir über Chris reden. Oder vielleicht auch nicht, sondern nur Schlimmeres verhindern?”

May nickte. “Vielleicht beides. Ich möchte dir auch nichts aufdrängen. Wir kennen uns kaum.”

“Erst einmal: An sich ist der Gedanke berechtigt, dass ich Kontakt aufnehmen könnte. Wir haben gestern noch zweimal hin- und hergeschrieben. Dann habe ich aufgehört”, informierte Elena. “Wegen der Warnungen hauptsächlich. Ich will wirklich nichts mit ihm anfangen. Aber mich wurmt einfach massiv, dass jemand ‘sexy Millionär’ dahinschreibt und Leute auf so etwas reagieren.”

“Hast du auch.” bemerkte May.

“Ja! Man ey!”, rief Elena. “Das war auch, worüber wir schrieben. Ich fragte, ob ihn mit so einer Aufmachung viele anschrieben und er meinte ‘Ja, wenig wären es zumindest nicht’ und dass es eben bewusst provozierend wäre. Meistens wäre das ein Aufhänger für Gespräche über Feminismus. Aber Gespräche über Kapitalismus wären vor mir noch nicht dabei gewesen.”

Elena hatte relativ laut und erregt gesprochen. May wartete ab, ob Elena noch etwas hinzufügen würde, bevor sey seufzte. “Schon typisch für ihn.”

“Dachte ich mir”, murmelte Elena, nun wieder ruhig und leise. “Ich bin schon verärgert über mich selbst. Nicht nur, weil ich mit ihm geschrieben habe. Eigentlich gar nicht mal darüber an sich. Ich bin verärgert, weil ich hereingefallen bin und überhaupt angefangen habe, und über das unsinnige Gefühl etwas Besonderes zu sein, weil ich die eine Person war, bei der es zum Thema Kapitalismus war. Wobei ich jenes nur mal eben ein klein wenig angeschitten hatte. So richtig Thema war das nicht einmal.”

May ballte die Hand zur Faust, deren Zeigefinger gerade noch ruhig auf der Kante des Risses gelegen hatte. “Es ist nicht deine Schuld”, sagte sey betont. “Das sind Psychotricks.”

“Eigentlich keine, die raffiniert genug sind. Es wirkt auf mich so offensichtlich. Und trotzdem!” Elena seufzte schwer. “Was für ein Scheißkerl.”

Sie schwiegen einen Moment. Die Wolken machten eine Lücke für die Sonne, die die Chance nutzte, einmal grell hereinzuleuchten, viel zu laut. May kniff die Augen zu.

Scheißkerl, widerholte May in serem Kopf. Es wirkte so übertrieben. Er hatte doch gar nicht viel, nichts Schlimmes gesagt bis jetzt. Oder? “Es kommt mir immer noch unfair vor, so von ihm zu reden. Aber ja”, murmelte sey.

“Du musst nicht reden”, sagte Elena. “Ich bin gewarnt. Und ich fühle, was du meinst.”

Es war angenehm. Dieses Versprechen, nicht reden zu müssen. Und noch viel mehr, wie Elena das gesagt hatte, diese Ruhe in der Stimme. Aber es beruhigte May nicht. Weil es nur ein Schutz für sem war, nicht für Elena. “Wirst du trotzdem schreiben?”

“Weiß ich noch nicht”, sagte Elena.

“Es bleibt nicht bei solchen Psychotricks. Vielleicht sind das nicht einmal wirklich welche, wie du selbst gesagt hast. Es geht hier mehr um emotionale Erpressung.” May kam sich in der eigenen Ausdrucksweise unbeholfen vor.

“Ich weiß”, sagte Elena und dieses Mal war sie wieder erregter. “Meinst du, Annika und ich kommen einfach so auf den Gedanken, dass ich anfällig für so etwas wäre, obwohl es noch nie passiert wäre?”

Mays Körper krampfte sich physisch zusammen, die Augen, die Beinmuskeln, der ganze Oberkörper. “Shit”, sagte sey.

“Es tut mir leid. Das war vermutlich scheiße von mir und holt bei dir Dinge hoch”, murmelte Elena. “Feingefühl, du weißt schon. Und ich sollte das nicht wie eine Ausrede klingen lassen.”

“Eher mein Feingefühl”, widersprach May. “Das klang gerade eher nach miesen Erinnerungen bei dir. Und ich kam wahrscheinlich so rüber, als ob ich dich für ziemlich naiv halten würde.”

“Ja”, bestätigte Elena sachlich. “Ein wenig. Ist nicht so schlimm. Das kommt, weil du mich schützen willst. Und immerhin machst du es nicht, indem du mir erzählst, was ich machen soll, sondern indem du mit mir etwas teilst, woraus ich meine eigenen Schlüsse ziehen kann. Das ist sehr nobel von dir.”

“War das das Problem bei der Frage wegen des Stalkens?”, fragte May.

Elena nickte, was May im Augenwinkel verschwommen sah, aber gab dann auch ein zustimmendes Geräusch von sich.

“Tut mir leid”, sagte May.^[(Anmerkung des Schreibfischs: Aus mir wichtigen und für andere vielleicht irritierenden und nicht so leicht erkennbaren Gründen zerschneide ich dieses Kapitel mitten in einem Dialog. (Es geht darum, dass so die Kapiteltitel zum Inhalt passen.))]