Autismus - Unsichtbare Autos

Content Notes: Ausgrenzung und Ableismus

Kurz vorweg

Autismus ist ein Spektrum. Autistische Menschen sind individuell. Die Probleme, die ich hier beschreibe, haben nicht alle autistischen Personen, und selbst wenn sie auch auf andere Personen zutreffen, sehen sie für jene vielleicht nicht genau so aus.

Das Ritual mit den Gliedmaßen

Ich habe als autistische Person im Umgang mit anderen häufig das Gefühl, dass mir ein ganzer Layer an Wahrnehmung fehlt, den andere einfach natürlich haben. Dabei geht es um soziale Regeln, um Interaktionsmuster, um Mimik, um Verständnis für bestimmte Verhaltensweisen.

Wenn ich in neue Gruppen komme, falle ich üblicherweise sofort auf, und irgendwie merken die Leute, denen ich auffalle, oft nicht, dass ich ihnen auffalle. Ich habe so etwas wie eine unsichtbare Auffälligkeit: Ich habe vielleicht ein anderes Guckpattern, ein anderes Sprachpattern, eine andere Art mich zu bewegen, als die Norm. Eine Norm, die ich überhaupt nicht wahrnehme. Manchmal versuche ich mich ihr entsprechend zu verhalten, sodass ich nicht auffalle. Aber diese Norm ist so fisselig, dass ich mich egal wie bemühen kann, ich kann sie nicht gut immitieren, weil ich sie ja nicht sehe. Sie ein bisschen zu immitieren, führt schon manchmal zu etwas weniger Ausgrenzung, obwohl es auch mit dem Versuch ein sich wiederholendes, erwartetes Erlebnis in meinem Leben ist, dass ich den Raum mit der neuen Gruppe betrete und diese erst einmal über etwas mit mir im Zusammenhang lacht. Ich bin über 30 Jahre alt und es passiert immer noch, hat nie aufgehört.

Das Immitieren nennt sich auch Masking, aber Masking umfasst vielleicht noch viel mehr. Da möchte ich hier gar nicht in die Tiefe gehen.

Im Nachhinein ist es schwierig nachzuvollziehen, wodurch ich auffalle. Für neurotypische Menschen ist es schwer in Worte zu fassen. Sie nehmen es oft auch nur unbewusst wahr. Aber inzwischen habe ich einige im Umfeld, die sich die Mühe machen, genau zu beobachten und es zu erklären. Eine der besten Metaphern, die dabei zustande gekommen ist, ist das Ritual mit den Gliedmaßen:

Wenn Leute sich treffen, begrüßen sie sich. Sie schütteln sich dabei gegebenenfalls die Hände. Wenn ich das beobachte, könnte ich also dann denken, 'ach, das ist das Ritual mit den Gliedmaßen' und meinen Fuß zur Begrüßung reichen. Das würde das Muster erfüllen, das ich erkenne, aber es ist trotzdem weit entfernt vom "richtigen" Muster. Allerdings weiß ich das nicht. Das ist, was für mich unsichtbar ist.

Fun Fact: Gerade mit solchen Begrüßungsritualen habe ich großen Stress. Dass ich irgendwann als Kind in solchen Fällen mal den Fuß gereicht hätte, ist echt realistisch. Das passt voll ins Bild, so etwas in der Richtung habe ich gemacht. Ich erinnere mich daran, dass ich irgendwann mit 10 oder 12 oder so darauf hingewiesen wurde, dass ich die Hände zu lange schüttele. Dass es dabei nicht so sehr um das Schütteln ging. Und wahrscheinlich mache ich es immer noch "falsch". Durch viele solcher Kleinigkeiten falle ich auf.

Natürlich ist es auch nicht von Vorteil, dass gerade bei einer Begrüßung so viele von diesen Regeln befolgt werden müssen, damit man nicht von vorn herein als unhöflich oder sogar abweisende Person wahrgenommen wird. Für viele sind die ersten Augenblicke dann auch noch ausschlaggebend für eine langfristige Meinung über eine Person. Neue Gruppen kennen lernen, ist immer eine extreme Stresssituation für mich.

Wessen Problem ist dies?

Ich kann also in einem gewissen Umfang lernen, diesen erwarteten Mustern zu entsprechen, die für mich völlig unsichtbar sind, die ich nur mit viel Mühe und viel Erklärung erlernen kann. Dieses Masken wiederum kostet mich so viel Energie, dass mein Körper mir das regelmäßig zurückmeldet in Form von schlimmen, wirklich schlimmen Kopfschmerzen, Overloads, Leistungsunfähigkeit, Executive Dysfunction, ähnliches. Für mich ist wohl deshalb die Frage sehr relevant und interessant, inwiefern ich das muss. Bin ich das Problem? Bin ich nur deshalb nicht (so sehr) das Problem, weil ich mich permanent anstrenge, nicht das Problem zu sein? Die Fragen klingen nicht sehr selbstbewusst. Vielleicht bin ich es auch nicht. Vielleicht ist das jahrelang internalisierter Ableismus. Aber vielleicht ist da trotzdem ein Kern dran, den es zu untersuchen gilt.

Fangen wir mit der nächsten Metapher an, den unsichtbaren Autos. Wie ich einleitete: Als autistische Person fehlt mir ein ganzer Layer an Wahrnehmung, die andere (neurotypische Menschen) einfach so haben. Ein Layer an Wahrnehmung, der Leuten nicht so bewusst ist. Vergleichen wir das also mal mit Sehen, weil Leuten üblicherweise bewusst ist, dass sie sehen. (Ihre Vorstellung davon, wie es wäre, nicht zu sehen, ist natürlich meistens trotzdem sehr vereinfacht, aber immerhin vorhanden, im Gegensatz zu der Vorstellung, was wäre, wenn dieser Layer fehlt, der mir fehlt.)

Sagen wir, ich könnte nicht sehen und stünde an der Straße. Ich habe gelernt, dass bestimmtes Motorengeräusch bedeutet, dass ein Auto käme und man die Straße besser nicht überquert. Nun stellt jemand Boxen auf, aus welchen Gründen auch immer, die Motorengeräusch abspielen, und ich kann nicht erkennen, dass es anders klingt. Also halte ich meine Begleitung auf und meine, wir dürfen die Straße nicht überqueren. Meine Begleitung aber sagt, das ist doch kein Auto, wo das Problem wäre? Sie ist aus irgendwelchen Gründen sehr beleidigt. Wenn ich frage, woran sie erkennt, dass das kein Auto ist, sagt sie, "Das sieht man doch!", wahlweise "Das sieht man doch sofort!". Ihre Erklärungen, woran man das sähe, sind Tautologien. "Man sieht doch, dass es kein Auto ist, daran dass es kein Auto ist."

So etwa sieht für mich das Befolgen sozialer Regeln aus. Ich habe irgendwie ein paar Grundlagen erlernt und sehe nicht, wenn es feine Unterschiede gibt, renne dabei in ungünstige Situationen. Leute sind schwer beleidigt und getroffen von meinem Verhalten. Mir ist unklar, warum. Erklärungen sind schwierig, weil es auf einem Wahrnehmungslayer aufbaut, der für mich komplett verborgen ist.

Zurück zu der Frage, ob ich das Problem bin. Aus der Sicht der beleidigten Person bin ich das Problem. Ich hätte diese Regeln einfach zu sehen. Es kommt nicht zu einem Verständnis dafür, dass ich behindert bin. Dass für mich dieser Wahrnehmungslayer irgendwie ausgeglichen werden muss. Für Personen, die mich gut kennen und mögen, ist meistens ganz klar, ich bin nicht das Problem. Das sind anderer Leute Probleme. Ich müsse mich nicht anpassen. Ich wäre gut so, wie ich bin. Aber da geht Information verloren. Nämlich, dass ich so bin, wie ich bin, weil ich schon einen Haufen dieser Regeln befolge. Würde ich mich nicht in der Verantwortung sehen, mich darum zu kümmern, diese Regeln zu erahnen, dann würde ich nämlich einfach immer über die Straße gehen. Warum sollte diese Straße überhaupt Autos vorbehalten sein. Warum sollte ein Motorenbrummen überhaupt ein Statement sein, dass die Straße dem Auto gehört. Ich hielte dann für sinnvoll, wenn das Auto mir dies klar verständlich kommuniziert mitteilt. Es ist vielleicht nicht das perfekte Beispiel: Es gibt Verkehrsregeln. Dieses unsichtbare Regelbuch mit den unglaublich vielen Nuancen, was ein Auto und was ein Lautsprecher ist, gibt es nicht. Für mich wäre es sinnvoll, wenn alles klar kommuniziert würde. Es ist okay, wenn es ein Regelset gibt, das aber auch am besten irgendwo niedergeschrieben gehört, wie unser Gesetz. Aber alles, was darüber hinausgeht, sollte entweder nicht erwartet oder klar kommuniziert und abgesprochen werden.

Ich frage mich also, gibt es vielleicht einen Weg dazwischen? Wieviel macht es aus, dass ich so hart kämpfe, andere Leute nicht zu beleidigen oder zu verletzen? Es passiert ja doch oft. Wenn ich die impliziten Hinweise nicht mitbekomme, dass eine Person zum Beispiel meine Hilfe haben will, statt direkt danach zu fragen. Aber wie oft würde es passieren, wenn ich dabei nur nach meiner Ethik ginge und nicht auch so viel da hinein investieren würde, meine Behinderung auszugleichen? In welchem Rahmen sollte ich das tun?

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