Zentrum

Eine Kürzestgeschichte

Haralt faltete seine Brille zusammen, sortierte sie in das zugehörige Etui und steckte jenes in seine Aktentasche. Er musste sich nun fertig machen und stylen, wenn er rechtzeitig mit etwas Luft im Zentrum ankommen wollte. Mühsam richtete er sich auf. Er war nie sportlich gewesen, aber auf die vierzig zugehend merkte er, dass es ihm fast jeden Tag spürbar schwerer fiel.

In der Straßenbahn traf er Ashka. Sie lächelte, als habe sie ihn erwartet, und überreichte ihm wortlos ein kleines in Tuch verpacktes Paket.

"Für mich?", fragte Haralt unnötiger Weise.

Ashka verkniff sich eine ironische Erwiderung, das wusste er. Sie nickte einfach und lächelte verspielt.

Vorsichtig öffnete Haralt den Knoten und das Tuch fiel vom Inhalt ab. Es war eine selbstgenähte Plüschqualle. Haralt liebte Quallen. Ihm blieb die Luft weg. Er ließ sie zunächst in seinen Schoß sinken, die Beine eng zusammengepresst, weil seine Hände flattern mussten und seine Stimme fiepen. Dann strich er ihr liebevoll über den flaumigen Panzer. Seine Finger wurden ganz kribbelig davon. Ashka schüttelte über seine Freude sachte und freundlich den Kopf.

Im Gruppenraum des Zentrums angekommen, platzierte er die Qualle sorgsam auf die Ecke des Tischs, an den er sich später setzen wollte und bereitete die Technik vor. Sebastina trat neben ihn, aufgeregt, wie er sem lange nicht mehr erlebt hatte.

"Ich stehe hinter dir. Immer.", sagte er leise.

Sebastina antwortete nicht, atmete langsam und nickte. Haralt fieberte so sehr mit.

Als sich der Raum gefüllt hatte, und auch die letzten Nachzügelnden einen Platz gefunden hatten, stellte sich Haralt vor die Gruppe und kündigte den Talk an:

"Ich begrüße euch alle herzlich zum Vortrag 'Load Balancing von Tasks in Strömungs-Netzwerken'. Sebastina hat vor zwei Jahren bei mir promoviert. Sey hat in der Zeit seit dem in Bremerstock am FLOW-Projekt mitgearbeitet, dass sey uns vorstellen wird. Anschließend wird sey uns in serer fabelhaft anschaulichen Weise in Programmier-Herausforderungen einführen, die uns der Echtzeit-Simulation aller Ozeane zugleich näher bringen. Die Bühne gehört dir!"

Sebastina lächelte breit und begab sich zu serem Laptop, während Haralt sich in einen Schneidersitz auf seinen Platz setzte. Er strich seinen Rock glatt und in der selben Bewegung über die Haare an seinen Beinen. Sebastina grinste ihm noch einmal zu und zupfte an serer roten Fliege. Er bewunderte ser Selbstbewusstsein und war froh, sem die Sicherheit gegeben haben zu können, in der Wissenschaft Fuß zu fassen. Es war nicht leicht für sem. Er wusste das. Er wusste, wie eklig diese Welt war und wie wertvoll Inseln und Nischen.


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