Die Schöne und der Spiegel

Andere Formate

Diese Geschichte habe ich ursprünglich für eine Anthologie geschrieben. Sie wurde nicht genommen. Gut für euch, wenn ihr eine Geschichte auch einfach so lesen mögt:

Content Notes

  • Blut,
  • Lookism,
  • Ableismus,
  • Trauma,
  • Fäkalausdruck,
  • BDSM und Niederknien - erwähnt.

Die Geschichte

Die Lütte malte sich Kreise mit Mutters rotem Lippenstift auf die Wangen. Grah, das würde wieder ein Krampf werden, ihr Gesicht wieder sauber zu waschen. Die Lütte mochte zu viel Seife im Gesicht überhaupt nicht. Lütt nannte Vater sie immer, weil er ein bisschen Platt sprach, wo klein lütt hieß, und ich mochte das Wort.

Als nächstes nahm die Lütte sich das weiße Puder vom Schminktisch und verteilte davon so viel auf den Lippen, dass die Farbe der Lippenhaut ganz darunter verborgen blieb. Das hatte durchaus etwas Schönes an sich, fand ich. Die Lütte hustete. Eine kleine Staubwolke rieselte auf Mutters Handspiegel hinab.

“So!”, sagte sie. “Nun sehe ich aus, wie Mama sich das gewünscht hat. Rot wie Blut!” Sie deutete auf ihre Wangen. “Aber wie frisches Blut!”, betonte sie.

Ich grinste. Getrocknetes Blut wäre dunkler, da hatte sie recht. Meine Schwester nahm Dinge üblicherweise sehr genau mit ihren sechs Jahren.

“Weiß wie Schnee”, fügte sie hinzu. Weniger überzeugt.

“Puderschnee”, schlug ich vor.

Das brachte sie wieder zum Grinsen. “Aber was ist eigentlich Ebenholz?”

Wow, da fragte sie was. Spannend. Ich erinnerte mich daran, dass ich mich das anfangs auch gefragt hatte, wann immer Mutter heruntergebetet hatte, dass sie sich ein Kind wünschte, dass rot wie Blut, weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz sein solle. Und später, dass sie froh war, nun so eines zu haben. Aber ich hatte damals nicht nachgefragt und dann vergessen, dass ich die Frage hatte.

Ich stieg aus dem Turmzimmer meiner Schwester hinab in die Bibliothek. Die Lütte folgte mir einfach, die Hände ans schwarze, glatte Geländer gekrallt, weil sie noch ein bisschen zu lütt für die Stufen war. Vielleicht war ja das Geländer aus Ebenholz.

In der Bibliothek gab es ein Jugendlexikon in zehn bebilderten Bänden. Und natürlich ein Erwachsenenlexikon in zweiundsechzig Bänden, aber das nahm ich nur im Notfall, weil die Texte nie zum Punkt kamen. Dies war kein Notfall: Ich wurde im Jugendlexikon fündig. Ich las erst leise für mich und fasste dann für die Lütte zusammen: “Es ist dunkles Holz aus einer Baumart, die in Ländern weit im Süden beheimatet ist. Sie gehören im weitesten Sinne zu den Pflaumengewächsen.”

“Ich bin eine Pflaume?”, fragte die Lütte und kicherte. “Ich mag Pflaumen! Das ist ein schönes Wort. Ich möchte viel lieber Pflaume oder Pfläumchen heißen, als”


So jäh die Erinnerung begonnen hat, so jäh bricht sie auch ab. Mitten im Satz. Ich will den Namen nicht einmal denken, den ihre Mutter ihr gegeben hat. Sie heißt Pfläumchen für mich. Auch wenn wir später herausgefunden haben, dass die Bäume höchstens sehr bedingt etwas mit den hiesigen Pflaumen zu tun haben.

Ich blicke in jenen Spiegel, der die Erinnerung hervorgeholt hat, dessen Rahmen aus Ebenholz tatsächlich die gleiche Farbe hat wie Pfläumchens Haar. Sie hat sich entsprechend damals nicht mit irgendsoetwas wie Kohle aus dem Kamin die Haare gefärbt.

In jenen Spiegel schauend bringe ich langsam weißen Lippenstift auf meinen asymmetrischen Lippen auf. Die Farbe hat etwas Puderiges an sich, aber ist tatsächlich für Lippen gedacht. Meine Lippen lächeln wegen der halben Gesichtslähmung immer nur auf einer Seite. Die weiße Farbe bildet einen starken Kontrast zur beigen Haut. Ich mag das immer noch. Beides eigentlich. Und auch, dass nun die Lippenfarbe zu meinen neuen grauweißen Haarsträhnen passt.


“Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste in diesem Land?” Ich war nie sehr einfallsreich gewesen, was Gedichte anbelangt.

Unbarmherzig spiegelte dieses Biest von einem Wandspiegel auch meine Schwester, als sie neben mich trat. Sie war schließlich kein Vampir oder so etwas. Ihr Haar fiel ihr inzwischen bis auf die Schultern. Sie war zwölf und hatte sich erst kürzlich vor unseren vielbeschäftigten Eltern als trans geoutet (was mich in eine überraschende Bredouille gebracht hat, weil unsere Eltern nun auf einmal von mir, der älteren Schwester, erwarteten, die bekackte Monarchie fortzuführen und zu heiraten und so etwas. Ich wollte nicht heiraten! Ich hatte es nicht so mit der Romantik.)

Pfläumchen war jedenfalls schon immer sehr schön, fand ich. Ein agiler Körperbau, ein gelbes Kleid mit Rüschen, ein symmetrisches Gesicht und dieses feste, dichte, dunkelbraune – fast schwarze Haar, das in Wellen auf ihre Schultern fiel, und wenn das so weiterging, bald wohl den ganzen Rücken hinab. Sie hielt lässig einen angebissenen Apfel in der Hand, und selbst das war schön.

“Die Schönste?”, fragte Pfläumchen. “Du natürlich!” Sie lächelte in den Spiegel.

“Ich?”, fragte ich. Ich kicherte, weil ich es für einen Scherz hielt.

Pfläumchen hörte zu lächeln auf und blickte mich direkt an, nicht mehr über den Spiegel. “Ich finde dich wirklich am schönsten”, sagte sie.

Ich glaubte ihr. Was sollte ich auch sonst tun. Es gab keinen Menschen auf der Welt, dem das Herz mehr auf der Zunge lag als Pfläumchen. Sie wäre nicht im Stande gewesen, mich darüber anzulügen, selbst wenn sie es für meine psychische Stabilität gewollt hätte. “Warum?”, flüsterte ich.

Pfläumchen zuckte mit den Schultern. “Hast du nicht mal erzählt, Menschen finden schön, was sie lernen schön zu finden? Und im Prinzip können sie lernen, alles schön zu finden?”

Ich nickte. Das hatte ich. Das hatte Mutter mir immer erzählt, als ich noch klein war und sie noch Zeit hatte. Aber sie hatte doch selber nicht daran geglaubt. Warum hätte sie sich denn sonst ein Kind so rot wie Blut und so weiter gewünscht?

“Ich mag jedenfalls Asymmetrie”, fügte Pfläumchen hinzu und biss ein weiteres mal vom Apfel ab. Sie mochte außerdem Mathe. Deshalb benutzte sie dieses Wort und andere aus der Geometrie begeistert seit Wochen.

Ich grinste, aber nur für einen Moment. “Mutter findet mich jedenfalls hässlich”, sagte ich. “Sie hat das mit dem Lernen behauptet, aber offenbar hat sie nie gelernt, mich schön zu finden.”

“Sie will nicht”, erwiderte Pfläumchen. “Du hast auch gesagt, dass Menschen Dinge oft nur dann lernen, wenn sie sie lernen wollen.”


Diese wahren Worte haben damals weh getan und tun es noch heute. Mutter hat mich nicht schön finden wollen. Sie hat irgendwo verstanden, dass sie es in der Hand gehabt hätte, es zu lernen, aber sich trotzdem gleichzeitig nicht verantwortlich dafür gefühlt, etwas an ihrer Sicht auf mich zu ändern. Und es ist unbeschreiblich schwer für mich gewesen, mich selber schön finden zu lernen und auf Dauer keinen schlimmen, psychischen Schaden davon mitzunehmen, während die eigene Mutter sich ein anderes schönes Kind gewünscht hat.

Zwei Tränen rollen mir aus den Augen. Eine aus dem geöffneten, eine aus dem, bei dem das Augenlid oft unkontrolliert von alleine zufällt, und wenn es offen ist, sich die Iris am inneren oberen Rand davon befindet. Ich wische sie trocken, um die Lider in grünen, grauen und schwarzen Farbtönen zu schminken. Aber mitten in dem Vorgang kommen mir neue Tränen. Dieses Mal vielleicht, weil ich für Pfläumchen so viel Dankbarkeit empfinde, schon damals diese wahren Worte ausgesprochen zu haben. Pfläumchen ist immer weit für ihr Alter gewesen, hat Mutter gesagt, was nicht unbedingt immer von Vorteil für sie gewesen ist.

Nun gut. Dass die Aro-Pride-Farben verschmieren würden, damit war zu rechnen gewesen, und es gefällt mir trotzdem. Ich trage einen Sidecut auf der Seite, auf der das Ohr nur halb gewachsen ist. Es ist schön. Ich trage ein schwarzgrünes Lackkostüm mit einer Gerte an der Seite. Heute steht eine BDSM-Party an. Pfläumchen hat mir viel Spaß dafür gewünscht – sie kommt nicht mit, weil sie nicht so der Party-Mensch ist –, und mir prophezeiht, dass sich sicher mindestens sieben Menschen finden werden, die sich mir zu Füßen legen wollen. Pfläumchen hat erklärt, dass Menschen auch zugleich dominant sein und weinen können. Deshalb habe ich heute nichts verdrängt. Alle Gedanken zugelassen, die mich zerfetzen möchten, aber gegen die ich nun anstehe und trotze.

Ich wende mich vom Spiegel ab und weiß, dass ich die Schönste im Land bin.

Tröt