Gräte

Eine Tintenzeichnung mit dünner Feder: Ein Kind zeigt in eine Richtung. Im Hintergrund angedeutete Bäume. Der Titel steht zwischen den Zweigen, und darüber skalabyrinth. Unter dem Titel ist eine Gräte, die auch für einen Ast gehalten werden kann.

Andere Formate

Genre

Das Genre ist vielleicht Horror? Psychologischer Horror? Was meint ihr? Eine Kurzgeschichte mit einem interessanten Twist.

Für Content Notes bitte hier entlang.


Die Geschichte

»Gräte!« Der Wald schluckte Lores Rufen wie eine hungrige Leere. Der Abend dämmerte schon. Hinter den ersten Baumreihen lauerte die Dunkelheit. Lore würde es nicht wundern, wenn dahinter jene alles schluckende Leere wartete. »Gräte!« Lores Hals schmerzte bereits vom Schreien. Die Kleine war einfach dort hineingelaufen, in dieses Nichts, und verschwunden. Lores Knie zitterten. In ihrem Inneren ballte sich eine Kreuzung aus Angst vor dem Wald und Wut auf ihre kleine Schwester zusammen. Es half nichts. Sie musste das Kind finden.

Lore überwand sich, verdrängte all ihre innere Abwehr und betrat den Wald. Der weiche Boden gab unter ihren Füßen nach. Schon jetzt fühlte sie sich, als würde sie etwas von sich an ihn abgeben müssen, als Pfand, ihn betreten zu dürfen. Ihr hochgestecktes Haar verfing sich in feinem Geäst, als wolle es sie auseinanderrupfen. Es roch modrig. Alt, auf eine tote Art lebendig.

Sie konnte nicht laufen und kam deshalb viel zu langsam voran. Die Verlorenheit fraß sich in ihre Wahrnehmung, ließ sie vergessen. Nur was? Sie musste Gräte finden. Mit jedem Schritt in den Wald hinein verschwamm mehr, was hinter ihr lag. Die Zeit zerfaserte. Und als sie vor dem Kinde stand, war ihr nicht mehr klar, ob sie träumte oder wach war.

Grätes Blick war starr, das Haar wirr, die Haltung so gerade, als wäre sie eine Puppe. Sie rührte sich nicht. »Geh!« Ihre Lippen bewegten sich kaum, als ihnen der Laut flüsternd entwich. Als wäre es keine Absicht.

»Ich lasse dich nicht allein«, versicherte Lore. Sie überwand sich, zu der Schwester zu gehen, die so unnatürlich dastand, als hätte der Wald ihre Seele schon gefressen, und nahm sie in den Arm. Einen kurzen Moment konnte sie klarer denken. »Wir müssen hier raus.«

»Nur du«, flüsterte das Wesen mit dieser fremden Stimme. »Lass mich allein.«

Lore überging die Aufforderung. Die Schwester war nicht bei sich, da war sie sich sicher. Trotzdem fragte sie: »Weißt du den Weg hinaus?« Denn sie kannte ihn nicht.

Sie hoffte, dass ihre traumartige Wahrnehmung ein Resultat aus ihrer Angst und ihrer Trauer war. Sie verlor nach Abenden in der Taverne, in der sie an ihren Vater dachte, oft die Orientierung. Sie hoffte, dass ihre innere Überzeugung, der Wald wäre ein Ungeheuer, nur ein Hirngespinst war.

Die kleine Schwester löste ihre Starre nur wenig, um mechanisch einen Arm zu heben und eine Richtung zu deuten. »Da entlang. Du musst alleine gehen, dann kommst du hinaus.« Die Stimme so variationslos wie ein Orgelton, der im Wald verklang.

Lore hob die Schwester hoch und schlug die Richtung ein. Gräte wehrte sich nicht. Sie war ein braves Kind, immer gewesen. Aber in letzter Zeit war sie oft weggelaufen, wenn Lore nicht in der Nähe gewesen war. Lore hatte die Veränderung der Schwester schon früher bemerkt, musste sie sich eingestehen. Eine Verlorenheit, die etwas in ihr auffraß, wie dieser Wald.

Sie mussten schleunigst hier raus, bevor es zu spät war.

Aber je weiter sie ging, desto fremder, desto untoter wirkte der Wald. Die Äste wie knochige Hände, die nach ihrem Inneren griffen. Irgendwo sang ein Wind unheimlich sein sehnsuchtsvolles Lied. Ein Nebel kroch zwischen den alten Wurzeln entlang, sammelte sich an den Rändern eines ansonsten nicht auszumachenden Weges dichter. Vielleicht zeigte der Wald ihr den Weg hinaus? Er wollte sie nicht. Er wollte nur ihre Schwester. Aber sie würde ihm ihre Schwester nicht überlassen.

Stattdessen führte der Pfad sie zu einem Haus. Ein Wasserrad, das sie hätte hören müssen, drehte sich von einem Bach angetrieben. Auch das Plätschern des Baches hörte sie erst jetzt. Und eine leise Musik, als würde jemand ein Schlaflied auf einem verstimmten Glockenspiel schlagen. Der Schornstein rauchte. Es war ein hübsches altes Haus, die Holzstreben moosig, die Fassade hatte Sprünge unter den Ranken, und doch wirkte es auf Lore unheimlich. Als würde es sie nie wieder gehen lassen, wenn sie es einmal betreten hätte. Oder als würde sie darin in halb zersplitterten Spiegeln Schreckensbilder sehen, die sie nicht ertragen könnte. Und gleichzeitig kam es ihr so vertraut vor. Als hätte sie es schon oft gesehen und schon oft gemieden.

Sie stellte Gräte auf ihre kleinen Füße, sie brauchte eine kurze Pause. Und mit einem Mal, als würde Lore ein Stück Zeit fehlen, stand Gräte direkt vor der Tür des Hauses. »Gräte!« Das Glockenspiel war verklungen. Lore wusste nicht, wann es zu spielen aufgehört hatte. Das Grauen packte sie.

Die Tür öffnete sich mit einem hohlen Knarzen. Hatte Gräte geklopft oder wusste man von ihrer Anwesenheit?

Lore näherte sich widerwillig. Im Eingang stand ein Wesen, das nur vage Ähnlichkeiten mit einem Menschen hatte. Alt und jung zugleich, – dieses Stereotyp, aber Lore wusste es nicht anders zu beschreiben. Aschgraue Haut, aschgraues Haar, leicht wie aus Weben, kerzengerade Haltung, ein alter, löchriger, zu großer Hoodie über einem Nachtkleid.

»Eine Nacht kannst du bleiben, Hannelore«, sprachs. »Aber das Haus wird dir zeigen, wer du bist. Es wird dich nicht schonen. Und nach einer Nacht musst du gehen.«

»Und Gräte?« Etwas klemmte Lore die Luft ab.

»Ann wohnt hier.«

Und schon schlüpfte die kleine Schwester durch die Tür ins Haus an der Kreatur vorbei, deren Nachtkleid an ihrem steifen Körper unnatürlich leicht flatterte.

»Hat der Wald ihre Seele gefressen?«, flüsterte Lore.

»Sie ist der Wald. Wir sind der Wald«, antwortete die Hexe.

Es war der Moment, in dem Lore alle Hoffnung für die Schwester verlor. Sie wusste es nun. Sie hatte keine Möglichkeit Gräte zu retten. Sie musste der Hexe diesen Pfand lassen, um selbst herausgelassen zu werden. Die Schwester hatte es schon lange gewusst, aber Lore hatte es nicht wahrhaben wollen.

Die Hexe deutete einen Weg, als hätte sie Lores Gedanken gelesen. »Es ist besser, wenn du jetzt gehst.«

Lore rannen Tränen übers Gesicht, eh sie es merkte. Die Trauer um die Schwester fraß sich bereits in sie hinein, bevor sie akzeptiert hatte, dass es endgültig war. Aber sie konnte nicht in dieses Haus. Sie konnte nicht.

Sie drehte sich um und ging.

Und der Wald flüsterte ihr ins Ohr: »Ich heiße Ann.«

Annegret, dachte Lore. Hannelore und Annegret hatten die Eltern sie genannt. Zu lange Namen, die eine Abkürzung wollten. Und Annegret war immer ihre Gräte gewesen. So würde sie ihr in Erinnerung bleiben.


Irgendwo tief im Wald war das Haus. Innen verwinkelt, um viele Geheimnisse aus Schmerz zu hüten und um sie lieben zu lernen. Um sie nur zu offenbaren, wenn es sicher war. Niemand kam unerwartet. Niemand fand das Haus ohne Einladung. Und es sollte Jahre brauchen, bis jemand verstand, dass dies ein Zuhause sein konnte. Der zerfasernde Nebel, der die Zeit zersetzte, die klare Kälte, die die Hässlichkeit sichtbar machte, das leise verstimmte Singen und Klingen. Die Einsamkeit des dunklen Waldes, die schützenden Arme der kargen Bäume. Die heimische Verlorenheit und die zerfetzte, untote Kreatur.

Ann kuschelte sich in eine Sofaecke im Haus in eine löchrige Decke. Danke, flüsterte sie an die Hexe gewandt, dass du mich vor Lore schützt. Die Hexe, die auch sie war, aber die sie in dieser Form brauchte, um sich zu schützen, summte disharmonisch. Und es war gut so, denn Ann verstand Harmonie nicht.

Danke, dass du gekommen bist, flüsterte die Hexe. Sieh dich hier um, wenn du bereit dafür bist. Aber jetzt, jetzt ruh dich erstmal aus.