Nora Bendzko – Wolfssucht

CN: Spoiler für “Wolfssucht”, Vergewaltigung und Sex als zentrales Thema, patriarchale Normvorstellungen, BDSM/Kink, Dubios Consent (Irina: Traumatischer Stress, Wolf: Sozialisiert unter Wölfen), Sodomie (reininterpretierbar), Sex mit und sexualisierte Gewalt an Minderjährigen, Menstruation, Erwähnter Sterbewunsch des Hauptcharakters.

“Wolfssucht” von Nora Bendzko ist eine Dark Fantasy Märchenadaption von Rotkäppchen, eine Novelle, die ein paar interessante Uminterpretationen der Vorlage tätigt. So ist der Wolf eigentlich kein Wolf, sondern ein Mensch, der im Wald lebt und viel Wölfisches an sich hat. Am Anfang der Geschichte tötet er Irinas (alias Rotkäppchens) Schwester Leonore vor Irinas Augen. Der Jäger(ssohn) Skandar rettet sie, aber er ist in der Geschichte menschlich betrachtet das wahre Monster (unter vielen). Jahre später, nachdem Skandar ihr gegenüber äußerst gewalttätig war, trifft Irina den wolfartigen Menschen im Wald wieder und fängt mit ihm eine leidenschaftliche, sexuelle Beziehung an, geprägt von einem Freiheitsgefühl, von Loslassen, davon, Dinge so geschehen zu lassen, wie sie sich richtig anfühlen.

Sex als zentrales Element und Gedanken zu BDSM

Aus meiner Sicht spielt in diesem Werk Sex und die Abgrenzung zu sexualisierter Gewalt eine sehr zentrale Rolle, – und das auf eine sehr interessante Weise. Es ist nicht bloß, dass viel Sex vorkäme, sondern dass der Text Sex aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Elementen zeigt, sodass wir viele Bedeutungsfacetten erleben können.

Der Hauptcharakter Irina soll an den Jäger(ssohn) Skandar verheiratet werden. Das will Skandar und das will auch ihre Großmutter. In diesem Zusammenhang wird auch von Besitz von Personen gesprochen und Sex wäre vielleicht so etwas wie ein Zeichen von Abhängigkeitsverhältnissen und Machtstrukturen, – was durchaus in manchen kulturellen und/oder historischen Kontexten wiederzufinden ist (aktuell steckt es z. B. in rassistischen Bewegungen, in denen mit “Wir müssen unsere Frauen beschützen” argumentiert wird), aber das ist in der Geschichte vielleicht mehr mein Gefühl als direkt vermittelt.

Auf einer Veranstaltung sieht Irina, wie zwei andere Personen rummachen. Sie erhebt sich über aufgetakelte andere Mädchen, beobachtet das Paar und fühlt sich gleichzeitig hingezogen und abgestoßen.

In dieser Szene, finde ich, spiegelt sich sehr schön, dass das Abstoßungsgefühl eher ein verinnerlichtes, anerzogenes ist, während Irina gleichzeitig anfängt zu realisieren, was sie eigentlich mag.

Sobald die Großmutter die Hochzeit zusagt und Skandar erfährt, dass Irina “zur Frau geworden ist” (ihre Menstruation eingesetzt hat) vergewaltigt er sie, – er hält sie fest, küsst sie nonkonsensuell und fasst sie sexualisiert an. Irina wehrt sich erst nicht, um einen Überraschungsangriff vorzubereiten, durch den sie sich schließlich befreien und weglaufen kann.

Sie flieht in den Wald, wo sie auf Wolf trifft. Wolf ist ein von Wölfen groß gezogener Mensch, der ihre Schwester ermordet hat. Sie reißt sich vor ihm die Kleider vom Leib und fleht ihn an, sie zu nehmen, zu bestrafen, zu vernichten und zu zerstören. (So völlig klar ist mir nicht, wie hier ‘nehmen’ gemeint ist.)

Auch bei ihm wehrt sie sich nicht, nie, aber aus anderen Gründen.

Später gibt sie sich Wolf hin und genießt den Sex. Aus einer Außensicht wäre es wohl (zumindest anfangs) nicht konsensuell, generell ist Konsens in dieser Beziehung auch von beiden Seiten nicht so klar, aber wir betrachten alles aus Irinas Sicht. Sie genießt das Wilde, das Ungestühme und Freie, und kann sich fallen lassen.

Ich finde in dieser Entwicklung folgende Aspekte interessant und gut getroffen:

  • Von einer Person genommen zu werden (zum Beispiel im Sinne von passiv Sex haben), kann je nach Kontext eine sehr schlimme Gewalterfahrung sein, aber auch ein empowerndes Erlebnis.
  • Dass eine Person es mag, sich passiv hinzugeben, macht es nicht automatisch in Ordnung, das zu tun. Damit es gut ist, braucht es den Konsens.
  • In der Erkenntnis, dass Irina mag, genommen zu werden, steckt etwas sehr Feministisches aus meiner Sicht. Sie macht es irgendwann für sich, nicht als Wunscherfüllungskonzert für den privilegierten Mann.
  • Kinks und BDSM können im Zusammenhang mit einem Heilungswunsch stehen. Die Akzeptanz der Wünsche allein kann bereits heilsam sein, und eine BDSM-Session kann eine kartasische Wirkung haben. Diese kartasische Wirkung kommt im Buch für mich auch gut rüber.

(Anmerkung: Ob hier Kink oder BDSM als Thema beabsichtigt war, weiß ich nicht, aber ich bringe das Buch damit sehr in Zusammenhang.)

Später wird Irina in den Sex-Szenen mit Wolf aktiver. Beide Charaktere entwickeln sich durch den Sex miteinander. Aus meiner Sicht wächst Irinas Selbstwertgefühl. Sie erlaubt sich, mehr haben zu dürfen, und sie akzeptiert sich mehr. Sie findet heraus, was sie sexuell eigentlich will. Das geht im Wald, wo sie niemand sieht, wo sie einen Safe Space hat, aber zerbricht, als andere es herausfinden.

Solange es geht, besteht ihre Freiheit also in wildem Sex. Das finde ich selbst aus heutiger Sicht eine mutige und starke Aussage. (Als selbst asexuelle Person. Es geht mir nicht darum, dass Leute Sex feiern sollen, sondern dass es eine starke und wichtige Aussage ist, dass die freie Entfaltung einer Person in sexuellem Kontext eine solche Bedeutung für sie haben kann und darf.)

Wolf lernt dabei, besser zu kommunizieren, teils überhaupt, sich menschlicher zu verhalten. Er wirkt ruhiger dadurch.

(Im Zusammenhang mit den Sexszenen wird auch auf die großen Zähne und den großen Mund von Wolf hingewiesen, was zum einen eine Anspielung auf die Vorlage ist und zum anderen, nun, eventuell kinky!)

Diskrepanz zwischen Wunschwelt und Normativität

Wie schon im Abschnitt zuvor angedeutet baut sich Irina mit Wolf im Wald sozusagen ein Safe Space auf. Eine Wunschwelt. (Was im Wald (im Märchenwald?) mit dem “bösen Wolf” vielleicht eine interessante Symbolik hat.) Diese zerbricht in dem Moment, als sie entdeckt wird. Es löst in mir ein ähnliches Gefühl aus wie der Moment in oft realen Geschichten, in denen queer- oder kink-feindliche Eltern vom Queersein oder von den Kinks ihrer Kinder mitbekommen (oder auch bezogen auf andere Marginalisierungen). Dieses: Wir wissen eigentlich, dass diese Art zu leben für uns genau richtig ist, aber dann passiert die Welt außen herum, die dafür keinen Raum hat, und es tut so weh.

In der Novelle “Wolfssucht” war für mich besonders diese Diskrepanz stark gezeichnet zwischen Wunschwelt und Normativität. Logisch ist klar, was richtig wäre, aber die Umwelt rollt da einfach mit ihrer Hass- und Normativitätswalze drüber, bis wir alle innerlich tot sind. In Irina führt das mehrfach zu einem Selbstzerstörungs- oder Todeswunsch, und schließlich am Ende zur Freiwilligkeit, sich zu fügen und dem Tod entgegen zu blicken.

Im Laufe der Handlung sagt Irina auffällig direkt, was jeweils schlimm mit einer Situation ist, und analysiert ganz gut. Das finde ich erfrischend. Ich mag, dass die Dinge dann weniger im Subtext sind, und dass aber auch der Charakterzug zu Ablehnung führt. (Ich fühle mich interessanterweise im Zusammenhang mit Autismus gesehen, aber vermute, dass das nicht beabsichtigt war. Egal.)

Wer sind die waren Monster?

Viele der Charaktere im Buch könnten vielleicht als grau bezeichnet werden? So rettet Skandar am Anfang Irina, aber später vergewaltigt er sie. (Für mich macht das Skandar keineswegs grau, denn zum Retten können auch rein egoistische Gründe vorliegen.) Hingegen tötet Wolf Irinas Schwester und bietet später Irina den einzigen Halt in der Welt, den einzigen Ort, an den sie freiwillig geht, an dem sie akzeptiert wird, wie sie ist. Und eben auch ihn akzeptiert.

Es stellt sich später raus, dass Wolf Kind einer im Krieg vergewaltigten Frau ist und von ihr im Wald ausgesetzt worden ist, wo er von Wölfen groß gezogen worden ist. Im Lichte des Verhaltens der ganzen Leute in diesem Buch, abgesehen von Irina selbst, kommt mir das wie ein besseres Umfeld zum Großwerden vor. (Vielleicht ist das Quatsch, aber ich mag die Interpretationswege.)

Das Buch endet sehr infernös, und jenes Inferno ist Menschen gemacht. Nicht nur wollen sie Wolf und Irina vernichten, weil sie sie für schlimm halten, sondern auch der Krieg, der über sie hinwegrollt, ist eben menschengemacht.

Aus meiner Sicht hat das Buch eine angenehme Misanthropie und einen kartasischen Bogen. Es geht darum, sich gönnen zu dürfen, eigentlich, und dann unbegründet, einfach weil Normativität, eben nicht einmal sein zu dürfen.

Fazit

Ich habe diese Novelle gelesen, um Figuren daraus in eine Fanfiction zu entführen. Die Lektüre hat mir gefallen. Ich mochte den Kampf um Freiheit, die Hingabe und das Loslassen darin. Und den Trotz der Hauptfigur.

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Tröt