Unterricht

Die zwei Lehrkräfte, Myrie und Merlin verließen den Raum. Auf den Fluren glomm nur ein schwaches Licht, das ihnen folgte. Das Gebäude war ausgestorben und Myrie wünschte sich, es könnte immer so sein. Nach zwei Biegungen trennten sich ihre Wege: Während Merlin mit Ara Seefisch zur weiteren Verarztung in die Krankenstation ging, brachte Henne Lot Myrie zum Raum, in den sie fliehen konnte, sollte sie wieder in die Bedrängnis kommen, schnell wegrennen zu müssen. Der Raum war größer als Myries Spielraum zu Hause. Myrie wunderte sich, warum der Raum für nichts anderes gebraucht würde und Henne Lot erklärte ihr, dass Fälle wie sie gar nicht so selten wären, und sie daher ein paar solcher Räume in der Schule für solche Fälle hätten. Myrie beschloss, bei Gelegenheit Omantra zu fragen, ob die Lern-KI die Schule für sie ausgewählt hatte, weil hier solche Vorkehrungen getroffen worden waren. Sie wäre sicher nicht böse darum. Nun, da endgültig alles geklärt war, verabschiedete Henne Lot sich von ihr. Sie wäre noch zu ihrem Zimmer begleitet worden, wenn sie es sich gewünscht hätte, aber natürlich tat sie das nicht. Und so trennten sie sich. Henne Lot wirkte nun erleichtert und sehr erschöpft und auch Ara Seefisch hatte zuletzt einen eben solchen Eindruck auf Myrie gemacht. Die Lehrkräfte hatten wohl die letzten Nächte sehr wenig geschlafen. Myrie kam das etwas ungerecht vor, wo sie doch so viel geschlafen hatte und die Ursache des Problems war.

Sie drehte sich um und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. Nun, da sie allein war, registrierte sie, dass das Gebäude nicht so ausgestorben war, wie es ihr ihr erster Eindruck vermittelt hatte. Vereinzelt konnte sie durch die Fenster sehen, wie in anderen Fenstern noch Licht brannte. Es war dennoch angenehm leise. Myrie überlegte, ob sie vielleicht noch etwas in den Gängen spazieren gehen sollte, bis Merlin eingeschlafen wäre, aber entschied sich dann dagegen. Vielleicht würde Merlin gar nicht einschlafen, wenn sie nicht käme, und sich Sorgen machen. Außerdem wollte sie auch endlich mal das Gefühl haben, an einem Ort angekommen zu sein, der auch ihr Ziel war. Und so beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie die Tür zu ihrem Zimmer erreichte, die leise aufsprang, als sie sich näherte und ein Handzeichen gab. Sie schlüpfte hinein und schloss sie ebenso leise hinter sich. Merlin lag bereits im Bett, das in der Ecke links neben der Tür stand. Hermen schnarchte leise in dem Bett auf der anderen Seite der Tür. Das Bett ihrem gegenüber auf der rechten Seite des Fensters war inzwischen auch belegt und Myrie holte erschrocken Luft. Langes, tiefschwarzes Haar, nun in einen Zopf geflochten, lag ordentlich auf der Wandseite des Gesichts auf der Bettdecke. Das Kind schlief nicht. Es war zwar zugedeckt, sodass nur Kopf und Haar herauslugte, aber seine Augen waren auf Myrie gerichtet, das Gesicht angespannt, soweit Myrie das beurteilen konnte. Sie zwang sich dazu ruhig zu atmen.

“Das ist Sarina. Wir hatten uns unterhalten, kurz nachdem du verschwunden warst, und Sarina wollte mit uns in ein Zimmer. Ich meinte, das ginge bestimmt in Ordnung.”, sagte Merlin sehr leise.

Myrie nickte zaghaft, ohne den Blick abzuwenden. Dann bemerkte sie, dass sie vielleicht wieder starrte. Ihr wurde ihr Guckverhalten unangenehm bewusst und sie fragte sich, nach welchen Regeln sie es tun musste, damit es sich für andere normal anfühlte. Und ob es nicht besser war, an etwas anderes zu denken.

Sarina. Myrie versuchte sich den Namen einzuprägen. Ob Sarina, als sie sich mit Merlin unterhalten hatte, bewusst gewesen war, dass es das Zimmer war, in dem auch Myrie war? Sie schlich zu ihr ans Bett, hockte sich hin und flüsterte:

“Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so angestarrt hatte. Wenn du lieber nicht mit mir in einem Zimmer sein willst, versuche ich noch zu wechseln. Möchtest du das?”

Sie räumte das schweren Herzens ein. Eigentlich war ihr wirklich wohler zumute, wenn sie schon ein Zimmer mit anderen teilen musste, dass Merlin dabei war. Aber sie wollte keinesfalls, dass es jemandem ihretwegen schlecht ging. Der Kopf bewegte sich vorsichtig hin und her, aber die Geste war eindeutig ein Kopfschütteln. Myrie richtete sich nicht sofort auf. Sie war noch etwas verwirrt. Es mochte daran liegen, dass eine Person, die auf sie einen optisch eindeutig coolen Eindruck machte, nicht bei erster Gelegenheit versuchte, nichts mehr mit Myrie zu tun zu haben. Das auch noch, nachdem sie schon eine Kostprobe von Myries Problemen mit anderen zu spüren bekommen hatte. Myrie wollte sich eigentlich gar nicht darüber wundern. Sie tat es auch nicht mit großer Klarheit. Sie war Ablehnung einfach zu gewohnt.

Sie bewegte sich zu ihrem Bett, aber ihr fiel ein, dass sie sich noch waschen wollte. Daher verließ sie den Raum wieder, und ging in eine der Waschkabinen, wo sie sich duschte und sich die Zähne putzte. Sie wusch auch die Handschuhe, die sie von ihrem EM-Anzug abgeschnitten hatte, und bestellte dabei über Omantra einen neuen.

“Du bekommst ihn morgen Abend zugestellt. Nett wäre, wenn du deinen alten in dem Paket zum Recyceln wieder abschickst. Du kannst es einfach bei der Poststelle im Eingangsbereich einschieben oder bei Ulka Brandenschmied abgeben.”, sagte Omantra.

“Omantra, gibt es eine Möglichkeit, wie ich mit dir kommunizieren kann, ohne zu sprechen. Also ohne einen Laut von mir zu geben.”, fragte Myrie.

“Einige. Die einfachste, aber auch verrufenste Möglichkeit für dich ist eine, bei der ich mit mehreren Elektroden an deinen Schädel verbunden werde und einiges deiner Gedanken lesen kann. Das möchte ich eher nicht.”, antwortete Omantra.

“Das klingt auch gruselig. Aber ich vertraue dir gut genug dafür, denke ich.”, überlegte Myrie.

“Das solltest du nicht. Zum einen glaube ich, dass ich dich dann selbst für deinen Geschmack zu genau kennen lernen würde. Du könntest nichts mehr vor mir geheim halten, und auch wenn du es nicht willst, so ist es zu können doch eine wichtige Fähigkeit. Aber auch schon aus dem Grunde, dass ich gehackt werden könnte, wäre die Idee sehr kritisch zu sehen. Zwar ist das schon recht unwahrscheinlich. Gerade Lern-KIs unterliegen strengen Sicherheitsrichtlinien. Aber dennoch ist es nie unmöglich.”, ermahnte Omantra.

“Was sollte jemand mit meinen Gedanken anfangen?”, wunderte sich Myrie.

»Personen, die dich sehr gut kennen, haben die Möglichkeit dir geschickt Informationen zukommen zu lassen, die dich manipulieren, ohne, dass es dir selbst auffällt. Darüber hinaus können die Messgeräte, die zum Messen der Ströme im Gehirn genutzt werden, auch, – wenn auch nicht so gut –, zur Beeinflussung von eben diesen Strömen verwendet werden. Jemand könnte auf diese Weise Experimente mit dir machen und es ist denkbar, dass jemand dich Verbrechen begehen lassen könnte.

Im Fall, dass diese Person eine große Menge Leute auf die ein oder andere Weise beeinflussen kann, kann die Politik maßgeblich durch eine Person bestimmt werden. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass das negative Folgen mit enormer Tragweite haben kann, dabei waren damals die Mittel gar nicht so weit.«

Myrie murmelte zustimmend. Sie war schon längst fertig mit allem, aber sie wollte noch nicht zurück gehen, wo sie nicht mehr einfach reden könnte. Da sie aber generell schneller beim Waschen war, als andere, würde es sicher auch nicht auffallen.

“Eine andere Möglichkeit”, fuhr Omantra fort, “ist eine Art Gebärdensprache.”

“Was ist das?”, fragte Myrie.

“Eine Gebärdensprache ist eine Sprache, die durch Gesten des Körpers, meistens der Hände funktioniert. Ich habe unter meinen vielen Sensoren auch einige, die die Spannung deiner Sehnen im Unterarm messen können und du könntest Gesten mit den linken Fingern lernen, die eine für mich messbare Sprache ergeben.”

“Das klingt gut, aber vielleicht langwierig.”, überlegte Myrie.

“Du könntest gleich noch einmal deine VR-Brille aufsetzen, und dir einen Eindruck davon verschaffen.”, schlug Omantra vor. “Bedenke aber, dass du auch ein wenig schlafen solltest, weil du morgen Vormittag zum Unterricht wach sein solltest.”

“Ich bin nicht müde. Ich mache das gleich.”, erwiderte Myrie.

Sie ging zurück ins Zimmer, wo nun alle schliefen. Obwohl, bei ihrer Bettnachbarin, bei der der Zopf immer noch genau so sortiert auf einer Seite ihres Gesichts auf der Bettdecke lag, war sich Myrie nicht sicher. Zwar waren die Augen geschlossen, das Gesicht hatte aber die selbe Anspannung, wie vorhin, und der Atem war nicht ruhig und entspannt. Myrie beobachtete, wie sich die Bettdecke etwas zackig hob und senkte. Vielleicht träumte sie auch nur unruhig. Nun, Myrie ging das nichts an, doch sie hätte noch viel länger den Atembewegungen zugesehen, wenn sie sich nicht ihren neuen Vorsatz zu Herzen genommen hätte, nicht über einen längeren Zeitraum die gleiche Person anzustarren. Galt das eigentlich auch für schlafende Personen?

Und so zog sie sich aus, legte ihre Kleidung ordentlich gefaltet neben ihrem Bett ab und legte sich hinein. Jemand hatte Bettdecke und Kopfkissen bereits zu ihrem Bett getragen und die Decke hatte genau die richtige Länge für sie. Sie vermutete, dass sie geschickt worden waren, sobald bekannt war, wer das Zimmer belegte und dann genau für die Bewohnenden ausgesucht worden waren, und dass Merlin ihr Bettzeug gestern im Laufe des Tages auf ihr Bett verfrachtet hatte.

Myrie setzte sich die VR-Brille auf. Sie rief eine Tastatur auf und das erste, was sie tat, war, sie so zu verlegen, dass sie sie von außen betrachtet nicht mitten in der Luft vor sich bediente, sondern auf ihrem Bauch unter der Decke. Sie sah nun wie über einen Spiegel ihre Hände auf dem Bauch, die sie ohne Brille gar nicht gesehen hätte, weil sie unter der Decke waren. Aber etwas funktionierte nicht, die Hände, die sie sah, machten nicht das, was ihre wirklichen Hände taten.

“Die VR-Brille kann sie nur korrekt darstellen, wenn sie sie sieht. Du könntest zum Beispiel auf der Bettdecke tippen.”, erklärte Omantra.

Myrie holte ihre Hände wieder hervor und tippte auf der Bettdecke. Zunächst richtete sie ihre Matratze so ein, dass sie ihr gefiel. Sie schrumpfte sie ein bisschen zusammen, wobei Myrie den Rücken immer wieder wölben musste, weil er sonst auf der schrumpfenden Matratze haftete. Das wäre deutlich praktischer gewesen, wenn sie nicht gerade darauf gelegen hätte. Dann drehte sie etwas am Weichheitsgrad herum, bis sie zufrieden war. Sie betrachtete die anderen Regler, mit denen sie Zonen einstellen konnte, oder die Wärme der Matratze. Aber ihr war warm genug, beinahe zu warm, und zum Justieren der Zonen war sie zu faul.

Also ging sie dazu über sich die einhändige Gebärdensprache anzusehen, die Omantra angesprochen hatte. Es machte ihr Spaß. Sie konnte sich nicht lösen und übte, bis der Morgen graute, und Omantra sie nun eindringlich ermahnte zu schlafen. Myrie hätte es der KI verbieten können, aber im Grunde war sie froh, dass Omantra es fertig brachte, sie davon loszueisen. Die KI hatte ja recht. Und so verstaute sie auch ihre VR-Brille ordentlich zurück in ihrer Kleidung, und bemühte sich einzuschlafen. Aber ihr Kopf übte wie von selbst die neu erlernten Vokabeln und ihre rechte Hand formte sie. Sie waren für die linke Hand gedacht, aber an der linken war Omantra befestigt. Die KI hätte ihr sonst sicher wieder etwas gesagt, wenn sie davon mitbekommen hätte. Erst, als das Zimmer durch das Fenster in rötliches Licht getaucht war, schlief Myrie endlich ein.


Sie wachte von einem Schwall Wasser in ihrem Gesicht auf. Sofort war sie hellwach und stand federnd auf den Füßen, bereit sich zu wehren gegen wen oder was auch immer. Vor ihr stand Hermen. Er hielt einen Eimer in der Hand, den er offenbar gerade über ihr ausgekippt hatte, und sein Blick wanderte ihren Körper hinab.

“Du hast nackt geschlafen?”, fragte er mit erhobenen Augenbrauen, so sehr erhoben, dass es nicht höher ging.

Er hatte den nicht Kopf sondern nur den Blick gesenkt, um sie anzuschauen, was einen sehr überheblichen Eindruck machte. Er wirkte, als ob er über den Rand einer unsichtbaren Brille guckte.

“Wollte sie! Wo ist das Problem?”, fragte Merlin.

Hermen zuckte mit den Schultern und bewegte sich mit dem Eimer aus dem Zimmer.

“Also ich mag die Weckmethode nicht, aber du solltest tatsächlich langsam aufstehen. Ich habe dir Frühstück mitgebracht. Vorhin zum Frühstück warst du nicht wach zu kriegen.”, sagte Merlin.

Myrie schüttelte das Wasser von sich ab und zog sich an. Sie fühlte sich nicht ausgeschlafen, irgendwie, als wäre ihre Nase etwas eingedrückt und als könnte sie nicht richtig atmen. Aber natürlich war ihre Nase überhaupt nicht eingedrückt und ihr Gefühl, dass sie nicht richtig atmen könnte, kam daher, dass ihr Körper nun doch plötzlich wieder halb schlief.

“Omantra sollte mich doch eigentlich wecken.”, murmelte sie.

“Du hast sie ins Suspend geschickt und ihr Eigenaktivität verboten.”, sagte Merlin.

“Oh.”, sagte Myrie.

Sie wusch sich schnell das Gesicht und holte Omantra in ein gewöhnliches Suspend zurück. Dann besah sie sich skeptisch, was Merlin ihr mitgebracht hatte. Es war eine Reihe verschiedenfarbiger Stifte in einer essbaren Brotdose. Sie biss vorsichtig von einem ab, doch unterbrach sie Merlin, sie solle auf dem Weg essen, sie müssten los. Myrie packte die Brotdose in eine ihrer Westentaschen. Allerdings aß sie nicht auf dem Weg, denn das konnte sie zusammen mit dem Gehen und Ausweichen, wenn ihnen Leute entgegen kamen, nicht koordinieren.


Sie kamen erneut in den Raum, in dem sie schon in der vergangenen Nacht und am ersten Abend gewesen war. Vielleicht war der Raum für ihre Lerngruppe fixiert, überlegte sie. Auf der anderen Seite passte das nicht so ganz damit zusammen, dass sie laut Omantra eine flexible Lerngruppe mit einem festen Kern sein würden. Allen stand es frei, gewisse Fächer in alten Lerngruppen in Lernvirtualitäten zu besuchen, statt auf dieser Schule, oder auch gar nicht, wobei eine gewisse Reihe an Grundfächern stark empfohlen wurde. Myrie hatte auch einige Fächer über diese Empfehlung hinaus gewählt, etwa Geschöpfe, weil sie sich sehr für die heimischen Tiere interessierte und der Unterricht auch praktische Anteile haben sollte.

Als sie nach Hermen und Merlin den Raum betrat, die sich rasch Plätze suchten, war nur noch ein einziger Platz rechts außen in der vorderen Reihe frei. Es saßen bisher nur 3 Leute in dieser Reihe und in der dahinter noch einmal 4. Hermen, Merlin und Sarina saßen in der hinteren Reihe nebeneinander, Sarinas linken Platz besetzte ein Mädchen mit rundem Gesicht und Brille. Myrie fand, dass der gemütliche Ausdruck mollig sie recht gut beschrieb. Sie war ein Mensch, überlegte Myrie. Sie hatte glanzloses, braungraues Haar, dass sie im Nacken zu einem Zopf zusammen gebunden hatte. Es dünnte schon bei ihren Schulterblättern aus. Es mochte vielleicht keiner vorteilhaften Beschreibung genügen, aber Myrie mochte es trotzdem. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie wirkte es auf sie ehrlich. Auch wenn ehrlich nun nicht unbedingt eine Eigenschaft war, die Haare normalerweise hatten. Die Haare fielen über einen gestrickten, bunt geringelten Wollpullover, dem Myrie ansah, dass es Handarbeit war. Ein Herzwesen ihres Papas hatte gestrickt und hatte einen recht ähnlichen Stil. Ihre Hose war hellgrün und mit bunten Blumen bestickt. Hier war sich Myrie nicht so sicher, ob es Handarbeit war. Wenn es Handarbeit war, dann war es sehr ordentliche.

“Myrie!”, hörte sie Merlins Stimme, die sie erkannte, obwohl er bloß leise zischte.

Sie wartete ab, ob er mehr sagen würde, während sie langsam an dem Mädchen vorbeiging und ihr Gesicht studierte. Es verhielt sich mit dem Gesicht ähnlich wie mit den Haaren: Es entsprach keinem Schönheitsideal, sofern Myrie das beurteilen konnte. Sie wusste eigentlich gar nicht genau, was es mit Schönheitsidealen auf sich hatte, aber irgendwie hatte sie trotz ihres Desinteresses ein Gefühl dafür gewonnen, was die meisten in ihrer Umgebung durchschnittlich schön fanden. Und dieses Gesicht mit dem etwas breiteren Kinn und der knubbeligen Nase und der grobporigen Haut, gehörte sicher nicht dazu. Aber es wirkte auch irgendwie ehrlich. Das Mädchen schaute nun auf.

“Myrie! Du starrst schon wieder! Setz dich doch einfach.”, hörte sie jemanden in ihr Ohr flüstern, nicht direkt hinein, sondern aus einer durchaus akzeptablen Entfernung.

Merlin war sogar aufgestanden um ihr das zu sagen. Da sich ein paar von ihnen im Gespräch befanden, hatten wahrscheinlich die meisten nicht verstanden, was er gesagt hatte und Myrie war froh darüber. Sie löste nun endlich ihren Blick von dem Mädchen, flüsterte Merlin ein “danke” zu und setzte sich. Irgendetwas beim Hinsetzen auf die Stühle in diesem Raum war ungewohnt. Ihr war das gestern schon aufgefallen, aber sie hatte es sofort wieder verdrängt, weil anderes ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hatte. Nun aber beugte sie sich zur Seite, um sich den Stuhl, auf dem sie saß, genauer anzusehen. Und milde überrascht stellte sie fest, dass er gar keine Beine hatte. Er wurde durch eine ähnliche Technik materialisiert, wie die Betten, überlegte sie. Lehne und Sitz waren jeweils ein Spannbezug. Sie nahmen vermutlich genau so durch ein EM-Feld Form und Weichheitsgrad an, wie der Spannbezug ihres Betts. Der große Unterschied war die leichte Beweglichkeit.

“Kennst du diese Art von Stühlen gar nicht?”, fragte eine neugierige Stimme neben ihr leise.

Myrie drehte sich um und sah in ein Gesicht, das in ihr einen selbstbewussten Eindruck erweckte, und sie fragte sich, wodurch. Sie schüttelte den Kopf.

“Ich bin mit den Dingern groß geworden. Gut, meist hatten wir bunte Polster und nicht schlicht blaue. Aber das Prinzip war dasselbe. Kann mir kaum vorstellen, dass es noch so rückständige Orte gibt, wo es noch was anderes gibt. Haben eure Stühle Stuhlbeine?”, fuhr sie neugierig fort.

Myrie erlaubte sich, in die lebendigen, braunen Augen zu blicken. Sie saßen unter leicht krausen, auffällig dunklen Augenbrauen in einem sonst eher sehr hellbraunen Gesicht. In einer ähnlichen Farbe hatte das Mädchen glatte, braune Haare, die knapp oberhalb der Schultern endeten. Auf beiden Seiten hatte sie jeweils einige Strähnen geflochten. Sie war deutlich kleiner als Myrie, und soweit Myrie das beurteilen konnte, ein Lobbud.

Myrie sah schnell auf den Tisch, um nicht wieder zu starren, erinnerte sich an die Frage und nickte nun.

“Quietschen Stuhlbeine nicht furchtbar laut? Und machen dabei auch noch den Boden kaputt?”

Bei ihr zu Hause hielten sich die Störgeräusche durch Stühlerücken einigermaßen in Grenzen. Aber in Bwalins Bar war schon oft durch die Gespräche allein eine unangenehme Geräuschkulisse, die durch das Quietschen der Stuhlbeine noch verstärkt wurde.

“Schon.”, antwortete Myrie.

Allerdings war in Bwalins Bar der Boden aus Stein und nahm überhaupt keinen Schaden von den Holzstuhlbeinen. Der Dielenboden in ihrem Haus war eher betroffen, aber Myrie wusste gar nicht, wie er ohne Abdrücke und feine Rillen und ähnliche Beschädigungen ausgesehen hätte, dass sie ihn damit nie als beschädigt wahrgenommen hatte. Aber vielleicht war er das wohl. Warum überhaupt nutzten sie denn Holzstühle, wenn das so rückständig war? Die Frage war einfach.

“Mein Papa ist Tischler.”, sagte sie.

“Und deshalb macht er Stühle aus Holz für alle?”, fragte der Lobbud.

“Ja.”, sagte Myrie, dankbar, dass sie diesen Schluss selbst zog und laut aussprach.

Sie hatte sich gerade gefragt, ob der Lobbud wohl aus ihr schlau würde. Myrie blickte wieder auf in das ovale Gesicht. Eine kurze Weile sagten sie beide nichts und der Lobbud betrachtete Myrie genauso gespannt, wie Myrie den Lobbud.

“Du warst wirklich letzte Nacht im Wald?”, flüsterte der Lobbud schließlich.

Myrie nickte langsam.

“Und ich mag daran erinnern, dass das verboten war und ist, und allen anraten, nicht Myries Beispiel zu folgen.”, sagte eine strenge, hohe Stimme und augenblicklich redete niemand mehr.

Myrie blickte nach vorn, um zu schauen, wem die Stimme gehörte. Die Geschichtslehrerin war ein hochgewachsener Elb und entsprach dem Stereotyp von Elben aus den typischen Lerneinheiten über Völker. Die Körperhaltung wäre aufrechter kaum vorstellbar gewesen, die Haare waren blond, lang, glatt und dick, die meisten fielen nach hinten, aber auf beiden Seiten verlief jeweils eine Strähne auf der Gesichtsseite an den spitzen Ohren entlang nach vorn. Sie waren gößtenteils offen, aber kleine Zöpfchen ergaben feine, feste Muster an den Seiten ihres Kopfes. Sie trug ein Leinenkleid in beigen, hellgrünen und dunkelblauen Farben, dessen Ärmel zu den Handgelenken hin weiter wurden, und auf der Rückseite bis in ihre Kniekehlen hingen.

“Ich bin Enuriell Stein, für euch einfach Frau Stein, und für das kommende Jahr und vielleicht länger eure Geschichtslehrerin.”, stellte sie sich vor. “Vielleicht gehen wir einmal eure Namen durch, damit ihr sie noch einmal gehört habt und ich sie auch kenne?”

Sie sprach diesen Satz, als wäre er eine Frage, aber ihre Gestik machte daraus eine Aufforderung. Sie zeigte mit einer Kopfbewegung auf die Person ganz links in der ersten Reihe. Myrie reckte sich und lehnte sich leicht nach hinten, um besser sehen zu können. Es war eine sehr kleine Person, mit kurzen, schwarzen Haaren und einer langen Nase. Ein Gnom überlegte Myrie. Das musste ein Gnom sein! Seine Stimme hatte fremd geklungen. Recht hoch und mit einer etwas zackigen Aussprache. Aber den Namen hatte sie nicht behalten. Auch nicht den des Zwergs, der danach dran kam. Sie musste sich dringend besser konzentrieren.

“Daina Dietrich.”, hörte sie ihre Nachbarin sagen.

Daina also. Daina sah sie erwartungsvoll an und sie war nicht die einzige. Myrie sah nach vorn und fragte sich, was sie wohl falsch gemacht hatte, bis sie realisierte, dass sie einfach nur dran war.

“Myrie Zange.”, sagte sie zaghaft.

Ihr wurde seltsamerweise ganz warm. Und genauso schnell verdunstete der frische Schweiß auf ihrem Gesicht und ihr wurde kalt. Und so verpasste sie auch den Namen des rundlichen Mädchens hinter sich. Die restlichen drei kannte sie ja schon.

“Zunächst möchte ich mit euch eine Erkenntnis erarbeiten, die ich persönlich für die wichtigste im Umgang mit der Geschichte halte. Manche andere Geschichtslehrkräfte meinen, ihr wärt dafür überwiegend zu jung. Ihr würdet Konsequenzen aus dieser Erkenntnis nicht in die Tat umsetzen können und es würde euch lustlos an Geschichte werden lassen, die Motivation verlieren lassen. Lasst euch nicht entmutigen. Ihr werdet euch nach dieser Stunde wahrscheinlich nicht ultimativ mit Historie auskennen. Aber dieser Baustein, den ihr heute beginnt zu lernen, ist grundlegend und schon ein Teilerfolg darin wird euch viel weiterbringen.” Enuriell Stein hielt diese Rede mit deutlichem Ausdruck und guter Betonung, sodass Myrie ihr problemlos zuhören konnte. Sie hatte eine gute Erzählstimme.

“Nun habe ich immer noch nicht gesagt, worum es eigentlich geht und das werde ich auch nicht.”, fuhr sie fort. “Das ist nun eure Aufgabe.”

Mit diesen Worten schloss sie und mit einem Wink ihrer Hand erschien ein Text vorn an einer dunklen Leinwand, sowie auch auf ihren Tischen in klein.

“Lest bitte diesen Text in Ruhe durch, auch gern mehr als einmal und macht euch erstmal eure eigenen Gedanken dazu. Wenn ihr fertig seid, und ihr euch mit euren Sitzbenachbarten austauschen wollt, dürft ihr das gern tun.”


Im Raum entstand eine Art fiebrige Anspannung. Die meisten sahen hinab auf ihre Tische, aber ein paar bevorzugten es, den Text an der Leinwand zu lesen. Myrie wollte zunächst letzteres tun, um den Klassenraum weiter im Blick zu behalten, aber dann entschied sie sich um. Sie konnte sich nicht konzentrieren und es fiel ihr auch, als sie herabsah, sehr schwer, sich auf den Text zu fokussieren. Zum Glück war er nicht sehr lang.

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Ich frage Fatima, wie sie in Saurumons Labor gelangt ist.

“Wir hatten einen Zauberer in unserer Crew, der einen magischen Eingang aufspüren konnte. Er konnte ihn als Lichterbogen mit Verzierungen und Runen erkennbar machen, ganz ähnlich wie in Moria damals. Wir hatten außerdem Frodulin dabei, der erriet, dass das Passwort angelehnt an das von Moria nicht Freund sondern Feind ist. Der Zauberer konnte das Wort in die Orksprache übersetzen und der Eingang öffnete sich.”

Ich frage Fatima, wie groß das Labor war und was sie darin fanden.

“Es war ein riesiger Raum, so groß, wie eine Arena. An den Wänden hingen Karten, aus denen hervorging, wo Saurumons Urukaaj ihre geheimen unterirdischen Stützpunkte hatten. An der Rückwand hing die größte und detaillierteste Karte. Du wirst mir nicht glauben, aber sie zeigte eine mächtige Basis der Urukaaj, die sich auf der Rückseite des Mondes befindet.”

Auf der Rückseite des Mondes, frage ich.

“Sie ist von hohen Mauern umgeben. Einer äußeren aus gehärtetem Mondstein mit Wachttürmen und Schießscharten und einer inneren Mauer aus massivem Stahl, 100m hoch und mit scharfen Klingen an ihrer Oberkante. Darin befindet sich Saurumons Festung, in der er die Kriegspläne für die Urukaaj schmiedet.”

Gehe ich also richtig in der Annahme, dass ihr im Labor dann keine der Kriegspläne finden konntet, frage ich.

“Leider nur sehr wenige konkrete Hinweise dazu.”

Ich frage, wie Saurumon mit den dort stationierten Urukaaj in Verbindung tritt.

“Er hat zu diesem Zweck einen mächtigen Quantencomputer im Labor stehen. Dazu war die gesamte vordere Wand mit gekühlten Schränken vollgestellt, die in einem neongrünen Licht schimmerten. Von jedem dieser Schränke führte ein dickes Kabel zu der Bedienoberfläche, die in der Mitte zwischen ihnen stand.”

Ich erkenne resigniert, dass Saurumon uns technisch einiges voraus hat. Das erklärt, warum unsere bisherigen Versuche uns in seine Computer zu hacken, misslungen waren. Ich frage mit wenig Hoffnung, ob sie sich Zugang zu dem Gerät hätten verschaffen können.

“Zu meinem Bedauern, nein. Der Computer war zu gut geschützt. Wir kannten uns auch mit der Hardware nicht aus. Borimir hat bei dem Versuch einen Schlag bekommen und kann jetzt drei Finger der linken Hand nicht mehr bewegen. Er ist deswegen in Behandlung, keine Sorge.”

Im Verhältnis zu dem, was hätte passieren können sind drei gelähmte Finger im Rahmen, überlege ich laut.

“Sollte man meinen. Wir hätten schließlich erwischt werden können. Wir sind beim Verlassen des Labors sogar beinahe einer Horde Urukaaj in die Arme gelaufen und konnten unser Versteck nur knapp erreichen, bevor sie uns entdeckt hätten. Aber die Lähmung der Finger hat uns doch Sorgen gemacht, weil sie sich zunächst drohte auszubreiten. Wir mussten provisorisch Isolationsdrähte in Borimirs Handgelenk befestigen, um es aufzuhalten.”

\SzenentrennerLeer

Myrie fand, dass der Text mitten drin angefangen hatte und mitten drin aufhörte. Außerdem war er sehr verwirrend. Der Text widersprach in einigen Punkten dem, was sie gelernt hatte. Sie hatte über den Eingang von Moria gehört, dass dieser nach neuestem Erkenntnisstand reichlich wenig mit Magie zu tun gehabt hatte. Und Quantencomputer, wenn auch nicht unter dem Namen, waren doch eine Entwicklung der letzten 100 Jahre. Saurumon dagegen war eine historische Figur, die über 1000 Jahre tot war. War ein anderer Saurumon gemeint? Oder sollte sie hier lernen, dass Saurumon in Wirklichkeit doch nicht tot war? Oder waren Quantencomputer in Wirklichkeit viel älter?

War es eine dieser Erkenntnisse, die Enuriell Stein sie erkennen lassen wollte? Aber wenn ja, welche?

Auch die Beschreibung eines Quantencomputers kam ihr seltsam vor. Ratlos sah sie sich zu ihrer Tischnachbarin, Daina, um. Aber Daina schien mit sich selbst beschäftigt zu sein. Sie grinste vor sich hin, inzwischen mit einem Monokel vor ihrem rechten Auge und sie tippte hin und wieder mit den Fingern sachte auf die Tischplatte. Wahrscheinlich suchte sie Texte und las sie. Myrie überlegte, ob sie versuchen sollte mit Omantra zu sprechen. Aber für die Gestensprache kannte sie noch zu wenige Vokabeln und ihre VR-Brille wollte sie nicht hervorkramen. Es war so ruhig im Raum, dass sie sich störend vorgekommen wäre. Und so blieb ihr nichts anderes übrig, als weiter zu warten. Hinter ihr unterhielten sich Hermen und Merlin leise, und auch der Gnom tuschelte mit dem Zwerg, aber sie konnte kein Wort verstehen. Sarina und der mollige Mensch sprachen nicht, aber sie waren nicht Myries Tischnachbarinnen und so wagte Myrie es nicht, ein Gespräch mit ihnen anzufangen. Sie sah also nach vorn zu Enuriell Stein, die aufmerksam von einem zum anderen blickte. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, den Myrie mit Weisheit verband. Als es sich ihr zuwandte, blickte Enuriell Stein überrascht. Sie trat zu Myrie und ging in die Hocke.

“Bist du schon fertig mit allem? Hast du schon Einfälle zu dem Text?”, fragte sie leise. Myrie zögerte kurz, um sich zu sammeln.

“Darf ich dir eine Frage stellen?”, fragte sie schließlich.

“Gleich? Zunächst wollen wir eine kleine andere Regel besprechen.”, sagte Enuriell Stein und ihre Stimme ging am Ende jedes Satzes nach oben, wie bei einer Frage. “Ich hätte gern, dass du mich siezt. Magst du das tun?”

“Ich soll also sagen, darf ich Ihnen eine Frage stellen?” Das war für Myrie etwas sehr Ungewohntes.

“Genau.”, bestätigte Enuriell Stein.

“Wenn Sie es auch tun?”, bot Myrie an.

Enuriell Stein hob die Brauen und zog das Kinn ein, sie wirkte skeptisch. “Ich soll auch sagen, sind Sie schon fertig mit allem?”, fragte sie.

Myrie nickte.

“Und möchtest du, möchten Sie dabei gern weiter Myrie genannt werden oder lieber Frau Zange?”

Auf das Problem war sie gestern schon gestoßen. Als Frau identifizierte sie sich nicht. Zumindest noch nicht. Sie konnte sich zwar auch nicht vorstellen, dass sich das einmal ändern würde, aber wer wusste das schon.

“Einfach nur Zange?”, fragte sie.

Enuriell Stein nickte bedächtig. “Gut, Zange. Allerdings würde ich mir von Ihnen wünschen, dass sie nicht einfach Stein, sondern Frau Stein, zu mir sagen.”

“Frau Stein. Einverstanden.”, antwortete Myrie.

Das würde vermutlich mit sich bringen, dass sie den Namen Enuriell vergessen würde, aber sie würde ihn ja wahrscheinlich nie wieder brauchen. Vielleicht half es, wenn sie ihn eine zeitlang weiter dachte. Wenn sie dann nicht beim Sprechen durcheinanderkäme. Sie würde es ausprobieren.

“Nun dürfen Sie Ihre Frage stellen?”, sagte Enuriell Stein.

“Ist in dem Text von dem Saurumon aus den Ringkönig-Chroniken die Rede?”, fragte sie.

“In der Tat.”, antwortete Enuriell Stein.

“Ist der nicht seit über tausend Jahren tot?”, fragte Myrie zaghaft.

“Was meinen Sie? Ist er das?”, gab Enuriell Stein zurück. “Eine hervorragende Frage.”

Sie wandte sich ab und ging wieder an den Platz vor der Lerngruppe, wo sie hergekommen war.

Hatte sie die Frage nicht beantwortet, weil es eine zweite war und Myrie nur gefragt hatte, ob sie eine Frage stellen dürfte? Myrie zog ihr linkes Bein mit auf den Stuhl und umfasste es. Dann sah sie wieder nach vorn. Vielleicht stand im Text auf der Leinwand ja etwas anderes? Aber da stand wortgenau das gleiche, wie auf den Tischen. Enuriell Stein blickte sie etwas unzufrieden an, und Myrie fragte sich, was jetzt schon wieder los sei. Der Elb tippte auf sein Bein. Myrie nahm ihr Bein vom Stuhl und Enuriell Stein nickte lächelnd.

Auch das war ungewohnt. Nicht einfach sitzen zu dürfen, wie sie wollte.

Als mehrere andere auch nach vorn blickten, und alle den Text mindestens einmal gelesen zu haben schienen, sprach Enuriell Stein zur Gruppe:

“Nun, was sind eure Gedanken dazu? Wir haben schon eine hervorragende Frage von Zange zu dem Thema erhalten: Ist Saurumon wirklich tot?”

“Zange”, hörte sie Hermen leise hinter sich sagen und kichern. Er kassierte einen bösen Blick von Enuriell Stein und war augenblicklich wieder still.

“Zumindest ist er wohl nicht dann gestorben, als wir das glaubten, denn sonst hätte er nicht zeitgleich mit Quantencomputern leben können.”, sagte das mollige Mädchen.

“Quantencomputer wurden nie Quantencomputer genannt, und sie waren von Anfang an kleiner als Computer, die mit Elektronenstrom funktionierten. Sie leuchten nicht grün und es brauchte nie dicke Kabel.”, entgegnete Daina.

“Und warum meinst du, dass es da steht? Warum Frau Stein uns das zu lesen gegeben hat?”, sagte das mollige Mädchen energisch.

“Keine Ahnung.”, antwortete Daina gelassen und zuckte die Schultern.

“Ich dachte auch, dass nach neuerem Erkenntnisstand der geheime Eingang von Moria mehr mit sehr komplexer Mechanik zu tun hatte und Magie da nicht weitergeholfen hätte. Und dass Freundschaft als Passwort nur eine Versinnblidlichung dessen ist, dass keine Einzelperson ihn öffnen kann, sondern, dass mehrere gut zusammenarbeitende Leute gleichzeitig die richtigen Auslöser betätigen mussten. Aber vielleicht ist das ja falsch. Lernen wir heute, dass irgendwas, was wir glauben, sicher zu wissen, doch falsch ist?”, fragte Myrie.

“Wer hat das eigentlich geschrieben, wer ist die Ich-Person?”, fragte Merlin.

“Das ist eine sehr gute Frage.”, antwortete Enuriell Stein, wobei sie das ‘sehr’ betonte und dehnte.

“Es ist ein Abschnitt aus der Fanfiction über die Ringkönig-Chroniken von vor 150 Jahren mit dem Titel ‘Die Festung von Wolfstein, Urukaaj hinterm Mond’ von Haran Nerfenschlottel.”, antwortete Daina.

Enuriell Stein wirkte überrascht. “Nun, so schnell kam die Auflösung noch nie in einer Gruppe. Woher weißt du das denn?”, fragte sie schließlich.

“Auf der Fanfiction aufbauend ist ein Ego-Shooter entstanden, der erste, den es überhaupt gab. Ich habe mal mit alten Computern rumgespielt und dieses Spiel mühevoll zum Laufen bekommen. Furchtbar schlechtes Spiel. Ich kannte die Fanfiction zwar nicht, aber der Inhalt kam mir bekannt vor, also habe ich danach im Netz gesucht und das rausgefunden.”

“Aber vor 150 Jahren gab es doch noch keine Quantencomputer und nichts, was man hätte so nennen können, oder?”, warf Hermen ein.

“Deswegen sehen die ja auch so komisch aus und hießen so. Es waren in der Zeit gerade die ersten Grundideen für Spinstromcomputer entstanden und man nannte sie Quantencomputer, damit es cool klingt. Und große Teile der Science-Fiction waren halt Geschichten mit den damaligen Vorstellungen von Spinstrom- beziehungsweise Quantencomputern.”, erklärte Daina.

“Da kennt sich jemand gut mit der Geschichte der Informationstechnologie aus.”, stellte Enuriell Stein anerkennend fest.

“Heißt das,”, überlegte Merlin nachdenklich, “wir haben eine ausgedachte Geschichte aus der Vergangenheit gelesen, die wiederum echte geschichtliche Begebenheiten aus ihrer Vergangenheit nimmt, und über sie in der hypothetischen Zukunft berichtet, aber in einer Zukunft, die noch in unserer Vergangenheit liegt?”

“Ja, so kann man das ausdrücken.”, bestätigte Enuriell Stein.

“Aber warum geben Sie uns Ausgedachtes zum Lesen und nicht Fakten?”, fragte Hermen. Er wirkte beinahe verärgert.

“Eine durchaus angebrachte Frage.” Enuriell Stein beantwortete sie aber nicht.

Diese Angewohnheit gefiel Myrie nicht. Manchmal hatte Omantra sie gebeten, sich vielleicht selbst erst einmal Gedanken zu einem Thema zu machen. Aber sie hatte es ablehnen können. Vielleicht sollte sie in diesem Unterricht immer alle Fragen notieren, die sie nicht beantwortet bekam. Immerhin schwebten bereits mehrere im Raum. Ist Saurumon wirklich tot? Wahrscheinlich. Aber ist alles, was wir heute glauben, richtig? Diese Frage regte etwas in ihr, das mit dem zusammenhing, was sie gerade besprachen.

“Wir sollen vielleicht lernen, dass wir immer untersuchen sollen, woher die Informationen kommen, bevor wir sie glauben?”, mutmaßte Merlin.

“Genau. Das ist im Kern die wichtigste Lektion, die ihr bei mir lernen werdet.”

“Werden wir jetzt in jeder Stunde über einen Text feststellen, dass er totaler Unsinn ist?”, fragte Hermen.

“Zum einen, nein. Ich werde euch hin und wieder mal zum Testen etwas derartiges oder vielleicht auch weniger Offensichtliches dazwischen mogeln, damit ihr wachsam bleibt. Aber zum anderen, ist dieser Text wirklich totaler Unsinn?”

“Das haben wir doch gerade festgestellt, dass er das ist. Alles am Text ist falsch: Die Darstellung der Quantencomputer, der Zugang, dass Saurumon oder Urukaaj überhaupt noch lebten zu einer Zeit von Computern, oder allein, dass irgendwer hinter dem Mond lebt! Wie soll das gehen?”, sagte Hermen.

“Nun, zum einen lernen wir auch häufig etwas aus im Wesentlichen erfundenen Texten. Und zum anderen, womit belegst du deine Behauptungen?”, gab Enuriell Stein zurück.

“Naja, aus meinem bisherigen Geschichtsunterricht.”, antwortete Hermen etwas zurückhaltender.

“Zur ersten Anmerkung: Haben wir nicht gerade Informationen aus dem Text gezogen, wie Leute vor 150 Jahren die Zukunft eingeschätzt haben?”, warf Merlin ein.

“Genau. Nun ja, fast. Es geht da nur um eine Sicht aus der Perspektive von einer Person. Aber wir könnten nun anfangen zu diesem Thema zu recherchieren und herausfinden, was andere dazu schrieben.”, bestätigte Enuriell Stein. “Und zu deinem Geschichtsunterricht: Woher stammt das dir vermittelte Wissen? Nehmen wir an, jemand hat vor, sagen wir, drei Jahrzehnten einen ähnlichen Text gelesen, wie diesen, hat dessen Inhalt aber für Geschichtsfakten gehalten. Kann es nicht sein, dass dieser jemand die so errungenen falschen Vermutungen dann weitervermittelt hat, etwa im Rahmen von Unterricht zum Beispiel, weil die Person Lehrkraft war vielleicht. Die Lernenden haben es dann wieder weitererzählt und so weiter und so fort und nun ist es zu einem Teil deines Geschichtsunterrichts geworden?”

Myrie schwirrte der Kopf. Enuriell Stein hatte recht. Alles konnte falsch sein. Sie wusste nicht einmal wo genau sie anfangen sollte, was sie für richtig halten sollte. Vielleicht bei ihrer eigenen Existenz und dem, was sie mit eigenen Augen sah. Aber schon im Netz konnte alles falsch sein. Und das war ihre Hauptinformationsquelle. Wenn sie es genau betrachtete, dann konnte selbst Omantra sie ihr Leben lang, womöglich unwissentlich, mit Fehlinformationen zugespült haben.

Myrie drückte ihre Hände mit gespreizten Fingern an ihren Kopf um sich zu beruhigen.

“Hey, so schlimm ist es nicht.”, sagte Daina auf einmal neben ihr. “Es gibt Zertifizierungsmethoden und Vertrauenssysteme, die zumindest sehr wahrscheinlich machen, dass Hermens Behauptungen richtig sind.”

“Korrekt.”, antwortete Enuriell Stein. “Über diese werdet ihr mehr in Mathematik, Technik und Programmierung lernen, wenn ihr die Fächer belegt habt. Aber ein paar grundlegende Dinge, vor allem für das Anwenden der Techniken, auch bei mir.”

“Ist es schonmal vorgekommen, dass etwas aufgrund von verbreiteten Fehlinformationen für einen Fakt gehalten wurde?”, fragte der Gnom mit seiner zackigen Stimme.

“In der Tat ist das einige Male in der Vergangenheit sehr gezielt passiert. Unser Zeitalter zeichnet sich dadurch aus, dass wir versuchen jede einzelne Person gegen diese Problematik zu wappnen. Heute passiert so etwas selten. Ab und an schon, aber vor allem mit nebensächlichen Informationen. Auch diese Thematik werden wir in diesem Unterricht behandeln. Wir fangen mit dem Zeitalter des Ringkönigs an. Das eignet sich dazu tatsächlich ziemlich gut.”


In der übrig gebliebenen Zeit der Unterrichtsstunde trugen sie zusammen, was die einzelnen Lernenden über das Zeitalter des Ringkönigs wussten oder zu wissen glaubten, um alle auf einen Stand zu bringen und Stoff zu wiederholen. Myrie beruhigte sich erst langsam und nahm kaum am Unterricht teil. Immerhin war sie in der Lage, gut zuzuhören. Zum Ende des Unterrichts fing ihr Magen an zu knurren. Sie vermutete, wenn Füße nicht auf Stühle durften, dann durfte sie auch nicht im Unterricht essen, also wartete sie bis zur Pause, in der sie die Stäbchen aß. Sie fand, Merlin hatte ihr etwas Gutes ausgesucht. Sie mochte nicht alle Stäbchen, aber sie schmeckten wenigstens in sich einheitlich und hatten eine einheitliche Konsistenz, eine angenehm zähe, sodass sie doch ihren Magen dazu bewegen konnte nicht mehr zu knurren. Auch die Brotdose schmeckte ganz gut, aber sie aß nur ein kleines bisschen davon, um die übrigen Stäbchen weiter transportieren zu können.

Die nächste Stunde fand in einem anderen Stockwerk statt. Sie verließ den Unterrichtsraum zuletzt, weil sie noch ein bisschen das allein sein darin genießen hatte wollen. Nun kamen aber andere Lernende, die sie nicht kannte, in ihren Raum, veranlassten sie aufzubrechen. Auf den Gängen wuselten andere Kinder und einige ältere umher und das machte ihren Weg ins Erdgeschoss der Schule nicht ganz einfach. Ständig stieß sie fast mit anderen zusammen und der Geräuschpegel war unangenehm. Sie bog in einen Gang ein, der doppelt so hoch war wie die bisherigen, der also über zwei Stockwerke ging. Er war mindestens 6m hoch. Myrie kam sich ein wenig verloren vor. Sie gelangte zur Tür ihres Zielklassenraums und staunte. Die Tür war riesig, reichte fast bis zur Decke. Sie hatte Klinken in verschiedenen Höhen, bestand aus dunklem, stabil wirkendem, aber erstaunlich leichtem Material. Das bemerkte Myrie beim Öffnen derselben. Der Raum war ebenso hoch, wie der Korridor davor und als Myrie nach vorn blickte, wusste sie warum.

Ein Riese lächelte sie zur Begrüßung an. Die anderen saßen schon und schrieben mit einem Stift auf den Tisch, immer wieder das gleiche Wort offenbar, aber in einer Sprache und Schrift, die Myrie nicht kannte. Der Raum war nicht nur höher, sondern auch seine Grundfläche war erheblich größer und es gab mehr Sitzplätze, als im vorherigen. Myrie blickte sich um. Die Sitzordnung hatte Ähnlichkeiten zu der im anderen Raum.

“Setz dich.”, sagte der Riese freundlich. Es war eine Stimme, die nicht freundlicher und wärmer hätte sein können. Diese Lehrerin wäre sicher gut als Vertrauenslehrkraft geeignet, schoss es Myrie durch den Kopf.

“Du musst Myrie Zange sein. Du warst gestern noch nicht da.”, stellte sie fest.

“War gestern auch schon Schreiben?”, fragte Myrie irritiert. Sie hatte den Stundenplan und zugehörigen Raumplan eigentlich auswendig gelernt.

“Nein, gestern habe ich Malen und Zeichnen unterrichtet. Für das Fach hast du dich auch eingetragen.”, entgegenete der Riese mit der freundlichen Stimme.

“Es tut mir leid, ich war in den Wald weggerannt.”, murmelte Myrie. Daina hielt inne, blickte neugierig auf und lauschte. Sie schien wirklich mehr über die Geschichte wissen zu wollen.

“Das macht nichts. Du kannst sicher aufholen, was wir gemacht haben. Möchtest du lieber stehen? Wir können einen Tisch in ein Stehpult verändern.”, schlug sie vor.

Myrie schüttelte den Kopf. Sie fragte sich, ob sie sich zu Merlin oder zu Daina setzen sollte und entschied sich schließlich für Daina. Die Lehrerin trat zu ihr und musterte ihre Hand. Dazu musste sie sich weit herunterbeugen und eine Brille aufsetzen. Eine enorm riesige Brille. Myrie mochte Dinge, die andere Größen hatten, als sie in ihrem Alltag hatten. Dinge die viel zu groß oder viel zu klein für sie wären. Also mochte sie diese Brille. Ein Glas war etwa so groß, wie Myries ganzer Kopf. Natürlich nicht so kugelig. Aber sie konnte die Wölbung genau sehen. Sie vergrößerten. Das Gestell war aus einem Karbonmaterial vermutete Myrie. Es war glatt und schwarz und sie hätte es am liebsten angefasst, aber sie wusste, so etwas war nicht in Ordnung, wenn man nicht sehr vertraut miteinander war.

Der Riese kramte in einer Tasche seines Kittels, die im Verhältnis zum Kittel winzig war, und in der der Riese gerade so gut zwei Finger hineinstecken konnte, und holte drei Stifte hervor, die Myrie ausprobieren sollte.

“Ich bin Lyria Rune, Pronomen ‘sie’. Du kannst mich gern nennen, wie du willst, aber wenn weder Lyria noch Rune drin vorkommt, solltest du mir sagen, worauf ich reagieren soll.”, sagte die Lehrerin mit einem Lächeln.

Sie hatte im Verhältnis zu ihrem Gesicht riesige Augen und das lag nicht nur an der Brille. Diese packte sie wieder ein, als Myrie sich einen der Stifte ausgesucht hatte, der gut in der Hand lag. Die Augen waren graugrün, das Haar im wesentlichen hellbraun und nur etwa so lang, wie Lyria Runes Hand, aber es waren bunte Strähnen darin, und es war unsortiert und zerzaust. Lyria Rune trug außerdem einen gelben Hosenanzug, der mit Farbflecken vollgeklext war, und den Kittel, der eigentlich vor den Flecken auf der Kleidung darunter schützen sollte. Die Grundfarbe des Kittels war nicht zu erkennen, er war von oben bis unten mit verschiedenen Farbschichten bedeckt, einschließlich Glitzerbeschichtung und irgendwelchen Flusen, die festklebten, oder Werkmaterial, wie Ton. Er hatte viele verschieden große Taschen. Aus einigen ragten Pinsel. Alles in allem wirkte sie trotzdem sehr sauber und gepflegt, und als wäre sie hier unten zu Hause.

Sie musste Myrie ihre Aufgabe mehrfach erklären, weil Myrie durch die neue Umgebung so abgelenkt war. Es gab einfach so viel in diesem Raum zu sehen. Es gab Bilder an den Wänden und in den Schränken waren Materialien, wie Pinsel oder Modelliermasse oder Leinwandstapel und auch Geräte, die Myrie nie gesehen hatte und nicht wusste, worum es sich handeln könnte.

In diesem Unterricht lernten sie Schriften verschiedener Länder oder Völker zu lesen und zu schreiben. Der Unterricht hatte regelmäßige Ruhephasen, in denen sie still vor sich hin Schreibübungen machten, aber auch Phasen, in denen sie sich ruhig unterhalten durften, während sie die Buchstaben malten. Und in einer dieser Phasen frage Daina Myrie endlich über ihr Erlebnis im Wald aus.

Insgesamt kam Myrie dieser Unterricht viel entspannter vor, als die letzte Stunde. Sie traute sich sogar zu fragen, ob sie den Fuß mit auf den Stuhl tun dürfe, weil sie den Eindruck hatte, dass dies ein anderer Kontext war, als es im Geschichtsunterricht der Fall war. Und sie behielt recht, sie durfte. Sie durfte sogar zwischendurch ab und zu aufstehen und sich ein bisschen bewegen. So konnte sie kurz bei Merlin vorbeigehen und sich noch einmal über das Mitbringen des Essens bedanken. Aber tatsächlich blieb sie die meiste Zeit an ihrem Platz und schrieb. Es entspannte sie, ihrer Hand bei der Bewegung zuzusehen und es zu perfektionieren. Kreise wirklich rund hinzubekommen war eine Kunst, und sie übte es. Obwohl das gar nicht unbedingt verlangt war. Sie durften ein Programm benutzen, dass die vorgezeichneten Buchstaben erkannte und in eine perfekte Form brachte. Aber es war Myries persönlicher Ehrgeiz, dass das Programm ihre Buchstaben so wenig wie möglich verbessern musste.


Auf diesen Unterricht folgte, und es traf Myrie völlig unvorbereitet, die Pause, die für eine Hauptmalzeit vorgesehen war. Myrie hatte keine Ahnung, wie lange sie dafür brauchen würden, und beschloss daher, gleich mit den anderen mitzugehen. Sie kamen an der Anmeldung vorbei, an der immer noch Ulka Brandenschmied saß und freundlich winkte, aber sie gingen weiter in den Speisesaal. Er war riesig und voller Leute und laut. Zwar waren die Wände mit Stoffbahnen abgehängt, um den Geräuschpegel etwas zu dämpfen, aber gegen die Menge an Leuten kam die Vorkehrung nicht an. Dieses Stimmengewirr und die Lautstärke allein wirkten lähmend auf Myries Gedanken. Sie bekam sich nicht mehr sortiert, wusste nicht so richtig, was als nächstes dran war. Wahrscheinlich eine Form von Orientierung. Der Raum war etwa doppelt so hoch, wie Lyria Rune, schätzte Myrie. Überall standen Tische und Stühle und auf den Stühlen saßen Leute und noch mehr Leute waren dabei sich hinzusetzen. Die Stühle waren die gleichen, wie in den Unterrichtsräumen und die Tische waren ebenfalls nur schwebende Tischplatten, aber die Oberflächen waren nicht aus Stoff, sondern aus einem glatteren Material. Auf den Tischen stand Geschirr mit Essen und es wurde davon gegessen, aber statt eines hellen, etwas schrillen Klappern, das Myrie erwartet hätte, klapperte es irgendwie dumpfer und anders und Myrie konnte es nicht einordnen. Der Fußboden war hell gefliest. Überhaupt war der Raum zu hell. Die rechte Seite des Raums war komplett verglast und Sonnenlicht schien herein. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine Treppe in einen weiteren Bereich mit Tischen. Ein zweiter Stock, der etwa ein Viertel des Raums überdeckte. Darunter war etwas anderes als Tische und der Bereich wurde von Kunstlicht von oben beschienen.

“Myrie!”, hörte sie Merlins Stimme.

Er schrie ihr quasi ins Gesicht und gestikulierte mit einer Hand in ihrem Sichtfeld herum. Sie nahm ihn trotzdem bloß wie durch einen Nebel wahr. Alles war so unwirklich. Starrte sie schon wieder? Eigentlich schon, aber sie starrte doch keine Person an. Und wie sollte man sich hier ohne Starren zurechtfinden? Sie sah Merlin ängstlich an.

“Darf ich dich an den Schultern an einen Ort führen, wo du weniger im Weg stehst?”, fragte er.

Myrie sah über ihre Schulter. Eine Schlange genervter Leute hatte sich hinter ihr gebildet, die anfingen, sie zu beleidigen. Sie stand mitten im Eingang. Sie sah zurück zu Merlin und nickte. Ihr wurde heiß und sie fragte sich, ob sie nicht einfach wegrennen sollte. Aber davon würde sie auch nichts zu essen bekommen. Und dann würde ihr Magen in der nächsten Stunde Lärm machen und das würde ihr dann auch unangenehm sein. Merlin verscheuchte einige Leute hinter ihr, die sich zusammendrängten und noch mehr fluchten, was das denn solle, fasste Myrie von hinten an den Schultern und schob sie vor sich her. Er tat es mit festem aber nicht schmerzhaftem Griff. Während sie durch den Raum geführt wurde, sah sie im Wesentlichen nur auf die Tische und Stühle direkt vor sich, um nicht zu stolpern. Leere Stühle huschten ihr aus dem Weg, sodass sie mehr Platz zum Gehen hatte. Merlin führte sie neben einen Tisch mit zwei Stühlen, die so riesig waren, dass sie sich aufrecht unter die Sitzfläche hätte stellen können. Hier war es ein wenig leerer, aber auch nur ein kleines bisschen.

“Grob zur Orientierung: Dort sind die Drucker. Sie drucken jeden Tag 11 Gerichte, und wenn dir alle nicht schmecken, kannst du eine Druckvorlage an einen zwölften schicken, müsstest dann aber vielleicht länger warten.”, erklärte Merlin rasch und deutete in einen Bereich etwas abseits der Tische.

Es war der Bereich unterhalb des zweiten Viertelstockwerks. Da dieser riesige Tisch, an den Merlin sie geführt hatte, ein Randtisch war, konnte sie direkt in diesen Bereich hineinsehen. Sie konnte das Muster, das Merlin erklärt hatte, wiedererkennen. Einige Schlangen bewegten sich zügig ohne Essen hinein und mit wieder hinaus, und die letzte war erheblich langsamer. Allmählich wurde sie etwas ruhiger.

“Ich werde mich in die dritte Reihe stellen. Spinatkäsestreifen klingt, finde ich, sehr lecker. Wenn du möchtest, können wir uns hinterher wieder hier treffen. Ja?”, bot er an.

“Ich, äh,”, sagte Myrie, “ich habe keine Ahnung, wie lange ich brauchen werde.” Das Sprechen fiel ihr schwer.

Sie wusste nicht so genau, welche Informationen er brauchte, um zu entscheiden, ob er sich wirklich hinterher hier mit ihr treffen wollen würde. Sie könnte ewig brauchen.

“In Ordnung.”, erwiderte er. “Sagen wir, ich gehe mir essen holen und warte hier bis halb? Und wenn du dann noch nicht da bist, suche ich mir mit Hermen einen Platz und vielleicht findest du uns?”

Myrie nickte langsam. Als Merlin in die Schlange verschwunden war, fing Myrie leise an zu summen, um sich zu beruhigen. Dann fragte sie Omantra, was es gab. Sie entschied sich für eines der regulären Essen, ein Steinpilzeinerlei, und kam tatsächlich noch vor Merlin wieder an ihren Treffpunkt zurück, weil offenbar kaum andere große Steinpilzfans waren. Das hatte gut geklappt. Als nächstes trat Lyria Rune an sie heran, beugte sich zu ihr herab und bat sie, ein wenig Platz zu machen, denn sie wollte mit einer anderen Person an diesem riesigen Tisch Platz nehmen. Die andere Person, – ebenfalls ein Riese, der viel jünger als Lyria Rune wirkte, vielleicht eine Person, die hier lernte –, kam auch wenig später und Myrie war vorbereitet. Dann kam Hermen und schließlich Merlin. Sie suchten sich einen Tisch zum gemeinsamen Essen, nun, eigentlich suchten mehr Merlin und Hermen einen. In der Geschwindigkeit, in der die beiden zwischen den Tischen hindurch Slalom liefen, konnte Myrie nichts suchen, sondern lediglich darauf achten, gegen niemanden zu laufen, nicht zu stolpern und ihr Essen nicht fallen zu lassen. Im Nachhinein fragte sie sich, ob es nicht so am besten gewesen war, dass sie nach der Ankunft erst einmal eine Nacht im Wald verbracht hatte. Sie hätte womöglich die Schule sofort abgebrochen, wäre ihr dieser Speisesaal schon am ersten Abend nach der Zugreise passiert.

Sie fokussierte sich nur auf ihr Essen, dass sie in einigermaßen gleichmäßige Würfel schnitt, damit sie das Schneiden hinter sich hätte, und die linke Hand unterm Tisch zwischen die Knie stecken konnte, während sie nur mit der rechten essen könnte.

“Brauchst du?”, fragte Hermen.

Myrie sah auf. Er drückte auf ein Knöpfchen an einem breiten Ring an seinem Finger und schraubte an einem Rädchen, und ein rotes Gitternetz leuchtete auf ihr Essen mit etwa so großen Maschen, wie sie Stücke geschnitten hatte. Das Rädchen verstellte die Feinheit des Gitters.

“Eigentlich nicht, aber na gut.”, murmelte Myrie und begann an den Linien entlang zu schneiden.

Doch Hermen verdrehte die Hand, sodass das Gitter nun nicht mehr parallel zum Schnittmuster war. Myrie sah irritiert auf in Hermens Gesicht, auf dem ein Grinsen breit geworden war. Wollte er ihr einen Gefallen tun, oder wollte er sie ärgern? Myrie schaute wieder hinab auf ihr Essen, wo sie nun versuchte, Schnittmuster und Gitter als Muster aufzufassen und es fortzusetzen. Aber Hermen schnaubte und bewegte das Gitter langsam hin- und her und verstellte die Größe. Nun war es offensichtlich. Er wollte sie ärgern. Und das ärgerte Myrie. Es war so unnötig.

“Lass es bitte.”, sagte sie.

“Lass es bitte!”, äffte sie Hermen nach. “Selbst schuld wenn du mit so einem Unsinn anfängst.”

“Warum?”, fragte Myrie gequält.

“Hey, lass sie doch in Frieden.”, bat nun Merlin.

“Spielverderber.”, entgegnete Hermen, aber er schaltete das Netz aus.


Myrie behielt den Blick beim Essen zunächst gesenkt und versuchte zur Abwechslung auf Merlins und Hermens Gespräch zu lauschen. Es fiel ihr sehr schwer. Die Geräuschkulisse darum herum war einfach zu laut. Sie hob schließlich den Kopf, um vielleicht durch Beobachtung der Münder auszugleichen, was sie nicht verstand, aber gab es bald auf. Sie sprachen über irgendwelche Spielvirtualitäten, in denen sie gespielt hatten. Spiele, die gerade angesagt waren wohl. Ein Gespräch, dem sie wohl auch sonst nicht hätte folgen können, denn sie hatte das Spiel nicht gespielt, und es schien auch nicht so ihrs zu sein, nach dem zu urteilen, was sie mitbekommen hatte.


Als sie fertig gegessen hatte, verabschiedete sie sich und verließ das Gebäude auf dem schnellsten Weg um etwas Ruhe zu bekommen. Es war herrlich. Draußen regnete es leicht und fast niemand war hier, nur ein einsamer Ork saß an einen Baum gelehnt mit geschlossenen Augen und einem etwas deprimierten, aber entspannten Gesichtsausdruck. Myrie mochte das Gesicht sofort. Es war ledrig, wie bei Orks üblich, und vernarbt und es wirkte verletzlich, fand sie. Der Ork hatte, ähnlich wie sie, nur etwa auf der Scheitellinie Haare, die auch nur wenig länger waren, als Myries, aber sie waren schwarz und stramm nach hinten gezogen und in einem Zopf befestigt, der oben auf dem Hinterkopf saß. Er trug einen schwarzen, weiten Hosenanzug aus Leinen und ein weißer Stoffstreifen war durch einige Laschen am Anzug gezogen um seinen Bauch gebunden.

Myrie setzte sich in einiger Entfernung an einen anderen Baum und beobachtete den Ork, seine Atembewegungen, und beschloss, sie durfte starren, wenn die Gegenseite die Augen geschlossen hielt und es so nicht merkte. Als die Pause sich dem Ende neigte und Omantra sie daran erinnerte, zurück ins Gebäude zu gehen, öffnete auch der Ork die Augen und sprang auf die Füße. Die Bewegung war so wunderschön fließend, dass Myrie kurz die Luft wegblieb. Der Ork sah zu ihr herüber und hob die Brauen.

“Ist was?”, fragte der Ork.

Die Stimme war rau, aber relativ hoch, sodass Myrie mutmaßte, dass es wohl ein Mädchen war. Aber sicher war man ja nie.

“Nein.”, antwortete Myrie.

Mit ähnlich kontrollierten, fließenden Bewegungen wie beim Aufspringen lief der Ork zurück in die Schule, aber nicht durch einen der Haupteingänge, sondern durch einen etwas versteckteren Eingang neben einem Gebüsch in ihrer Nähe. Myrie war so neugierig, dass sie kurz wartete, bis sie sicher war, nicht gleich auf den Ork zu treffen, wenn sie hinterherhuschte, und schritt dann durch die selbe Tür. Der Gang war ausgestorben, kühl und dunkel. An den Seiten waren gleichaussehende Türen, alle geschlossen, und am Ende führte eine Treppe hinauf. Da Myrie wusste, dass sie für ihr Ziel an Höhe gewinnen musste, stieg sie hinauf. Nun aber wusste sie nicht, welches der Ausgang war. Aber es hatte ihr in dieser Schule schon ein paar mal etwas gebracht, mit Türen oder Fenstern zu kommunizieren, also fragte sie, wo es hinausginge und am Ende des Ganges öffnete sich eine Tür. Sie war im ersten Obergeschoss der Schule und trat in ein Gemenge von Leuten, die alle nun auch in irgendeinen Unterricht zurückkehrten. Sie hielt sich am Rand, langsam, um nicht mit anderen zu kollidieren, und kam gerade so pünktlich an.

Technik hielt Kalia von Stork. Sie hatte starke Ähnlichkeiten mit Enuriell Stein, nicht äußerlich. Sie war ähnlich streng und der Unterricht erforderte vergleichbar viel Aufmerksamkeit. Er war praktischer: Sie hatten alle schon zuvor gelernt, wie im Wesentlichen ein Stromkreis funktionierte, wie man eine kleine Lampe an eine Batterie anschloss. Hier taten sie das gleiche, nur dieses Mal nicht in einer Virtualität, sondern praktisch. Nur fühlte es sich viel theoretischer an, denn sie taten dies, indem sie einen speziell dafür geeigneten Drucker benutzten und Druckschablonen mit einem Programm dafür herstellten. Das Ergebnis war winzig klein, gerade so groß, wie ein Daumennagel, aber mit einem kleinen Schiebenippel konnten sie am Ende alle das Licht an- und ausschalten. Es war sehr befriedigend, fand Myrie.

Technik war außerdem das erste Fach gewesen, in dem die Lerngruppe nicht genau gleich zu der in den vorherigen beiden Fächern war. Sarina war nicht dabei gewesen. Stattdessen begegnete Myrie in dem Fach das erste Mal in ihrem Leben wissentlich einem anderen Halbzwerg, nur, dass das andere Elternteil im Fall der anderen Lerndenden Elb und nicht Ork gewesen war, wie bei Myrie. Sie wusste das so genau, weil sie daneben gestanden hatte, als Daina die Person am Ende der Stunde beim Zusammenräumen ausgefragt hatte. Als letztere den Begriff Zwelb für sich verwendet hatte, hatte Merlin Myrie einen Blick zugeworfen und gelächelt auf eine Weise, die sich warm anfühlte.


Nach dem Unterricht gab es eine Viertelstunde Pause, ehe sie in einer weiteren Gruppe wandern gehen würden, für die Myrie sich angemeldet hatte. Sie fragte sich, ob sie sich damit nicht doch überladen hätte. Aber auf der anderen Seite war das zurzeit ihre einzige Möglichkeit, das Schulgelände erlaubterweise zu verlassen, und es war nur einen Nachmittag, sowie, wenn man wollte, ein weiterer Morgenspaziergang vor dem Unterricht in der Woche. Alle anderen Nachmittage hatte sie frei.

Und so traf sie sich mit sieben anderen Kindern an diesem Nachmittag vor dem Haupteingang. Sie kannte aus dem bisherigen Unterricht nur drei oder vier. Sie war sich nicht mehr ganz sicher, ob es der gleiche Gnom war, wie im Unterricht zuvor. Er sah anders aus, aber es konnte auch einfach sein, dass er die Kleidung gewechselt hatte. Aber zu ihrer Freude stellte sie fest, dass der Ork dabei war, den sie in der Pause beobachtet hatte. Er stand etwas abseits der restlichen Gruppe und nach kurzer Zeit fiel Myrie auf, dass sie das auch tat. Und dann bemerkte sie, dass Merlin sie ansah und dass Hermen gar nicht dabei war. Sie atmete erleichtert aus. Das würde alles besser machen.

“Tut dir noch was weh?”, fragte sie Merlin.

“Puh, ja, schon. Die Hände vor allem, wenn ich Dinge anfasse. Aber es ist viel besser geworden. Was die da drauf getan haben, war schon extrem gut.”, antwortete er.

“Und der Muskelkater?”, fragte sie weiter.

“Weggelaufen, das Tier.”, sagte er heiter.

Ein sehr alter, runzliger Lobbud kam nun durch die monströsen Schiebetüren zu ihnen. Er hatte einen Wanderstock und bewegte sich gemächlich, wie alte Leute es taten, deren Körper müde wurde. Gleichzeitig wirkte er, als sei er durchaus fit und in der Lage, körperlich viel zu leisten, wenn er musste oder wollte. Er lächelte. “Ah, die neue Wandergruppe, beziehungsweise teilweise die alte, wie ich sehe.”, sagte er.

In seiner Stimme war deutlich Freude und das Lächeln zu hören, das er im Gesicht hatte.

“Für die neuen, ich bin Amon Krknschnock und für die alten, die es vergessen haben, ich bin Amon Krknschnock.”, sagte er.

Es war hilfreich, dass er seinen Namen zweimal aussprach, denn der Nachname war nicht einfach auszusprechen. Es war ein K, wie sie es kannte, gefolgt von einer Mischung aus r und einem ch wie das in Buch. Es wurde ein kn angehängt und zum Schluss die Silbe schnock angefügt.

“Woher kommt der Name?”, fragte Merlin neugierig.

“Ja, der kommt von meinem Herzwesen. Er ist ein Kobold, und die haben oft etwas unaussprechliche Namen.”, erklärte Amon Krknschnock.

Dabei klang es fast, als würde er in das, was er sagte, eine Melodie einbauen.

“Die Bezeichnung ‘mein Herzwesen’ und Pronomen ‘er’ lassen das natürlich nicht eindeutig schließen, aber ich bin interessiert: Meinst du Lebensgefährten?”, fragte Daina neugierig.

“Das geht dich zwar nichts an, junge Dame, aber ich beantworte das trotzdem mal mit ‘ja’.” Es hatte sich nur ein Hauch Strenge in seine Stimme geschlichen. “Oh, Verzeihung, ich hätte genau so gut fragen können: Ist ‘junge Dame’ in Ordnung als Bezeichnung für dich?”

“Eine Dame bin ich nicht. Ein Mädchen bin ich, denke ich. Dame klingt viel zu rein, sauber und penibel, finde ich.”, sagte Daina.

Myrie fühlte diese Einstellung sofort mit. Vielleicht sollte sie versuchen, sich neben Merlin auch mit Daina anzufreunden.

“Akzeptiert!”, sang Amon Krknschnock. “Wenn auch ich leicht anderer Meinung bin, was deine Ansichten, was Damen zu sein haben, angehen. Nun denn, wir wollen am besten gleich losgehen, aber vorher müsste ich vier neue Namen lernen und manche von euch ein paar mehr. Fangen wir bei dir an.”

Er deutete auf Daina, dann auf Myrie, dann auf Merlin, dann auf den Gnom, der Ponde hieß. Für Ponde war das Pronomen ‘sie’ richtig. Das hatte Amon Krknschnock gleich mitgefragt, auch bei Myrie. Myrie wusste, dass sie sich nie alle neuen Namen merken können würde, und so konzentrierte sie sich auf den Namen des Orks, den sie sich ausgesucht hatte. Sie hieß Olge. Die anderen waren zwei Lobbuds und der Zwelb und im Nachhinein wunderte sich Myrie, dass sie sich den Ork zum interessant Finden ausgesucht hatte und nicht den Zwelb.


Sie wanderten einen festgetretenen Pfad entlang, der so breit wie eine Straße war, aber unbefestigt. Er führte am Fluss, dem Kelden, entlang zur Stadt Thale, die am Fuß des Berges lag. Es war ein breiter, schöner Fluss, auf diese Art beeindruckender, als die Glukka. Doch Myrie nahm von ihrer Umgebung erstaunlich wenig war, was sie schade fand. Sie sammelten sich regelmäßig an Plätzen, damit niemand verloren ginge, und Myrie hatte tatsächlich eine für sie ungewöhnliche Angst davor, verloren zu gehen. Wenn sie verloren ginge, dann wäre sie allein außerhalb des Schulgeländes und vielleicht drohte ihr dann ein Rauswurf. Diese Gedanken und Interaktionen lenkten sie davon ab, wahrzunehmen, wo sie eigentlich war.

Thale war für eine Stadt nicht groß, aber sie war natürlich die größte Stadt, die Myrie in der Realität gesehen hatte. Da sie von oben kamen, bekamen sie, bevor sie die Stadt erreichten, einen Überblick über sie, oder zumindest über Teile von ihr. Sie hatte einige Mehrfamilienhäuser mit bis zu 6 Stockwerken in ihrem Zentrum, Doppelhäuser am Rand und kein klares Ende. Stattdessen schienen einfach endlos weiter hier noch ein kleines Häuschen und dort ein Hütte zu stehen. Auch an ihrem Pfad waren zunächst zwei einzelne Holzhütten, bevor ein riesiger Steinbogen in die Stadt hereinführte. Das Stadtzentrum war nicht weit von ihm entfernt. Hier gab es überwiegend zwei- bis dreistöckige individuelle Reihenhäuschen mit kleinen Handwerksbetrieben, Restaurants, Cafés, Eisdielen oder Bäckereien im Erdgeschoss. Es konnte, wer wollte, ein Gebäck zum Essen bekommen, und dann ging es auch schon wieder zurück.

Auf dem Rückweg fiel Myrie auf, dass ihr der Weg nicht sonderlich gefiel. Er war zu belebt. Es gab zu viele, die ihnen darauf entgegen kamen. Er war außerdem beleuchtet, als sie zurück gingen, wenn auch nicht so hell wie die Wege in Byrglingen. Dennoch raubte es der Umgebung einiges an der Wildheit, die Myrie so mochte. Den Fluss allerdings mochte sie gern. Er floss direkt aus einer mächtigen Felsöffnung hervor, erzählte Amon Krknschnock. Es wäre allerdings ein Mehrtagesausflug, die Höhle zu erreichen, in der er entsprang.

Der Kelden war auch zweifellos ein Fluss und kein Bach. Er roch gut und rauschte schnell dahin und vereinte sich nahe der Stadt mit einem weiteren Fluss, der, wie Amon Krknschnock erzählte, aus dem Wald kam. Der Wald war auf ihrer ganzen Wanderung höchstens teils am Bergrand zu sehen gewesen und natürlich nahe des Schulgeländes. Ansonsten verlief der Fluss zwischen Felsen und Steinen hindurch und war absolut klar an den Stellen, an denen die Strömung nicht so stark war. Sie machten sogar kurz an einer solchen Stelle Pause, um den Fischen zuzusehen. Myrie hatte große Lust zu baden, aber sie traute sich nicht.

Die ganze Zeit während des Spaziergangs war der Himmel wolkenverhangen und Feuchtigkeit lag in der Luft, aber es hatte aufgehört zu nieseln.

Am frühen Abend schafften sie es in die Schule zurück. Amon Krknschnock versprach, dass die Wanderungen komplizierter, anstrengender und länger werden würden, aber dass er das langsam steigern wollte, um ihre Fähigkeiten vorher einschätzen zu lernen.


Myrie, die eigentlich hatte Kontakt mit ihrem Papa aufnehmen wollen, verkroch sich stattdessen ins Bett und schlief fast sofort ein. All die neuen Leute und Eindrücke hatten sie sehr angestrengt, und sie spürte deutlich, dass sie in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte. Das Bett und die Decke waren so wohlig und gemütlich, dass sie vermutete, nie wieder die Kraft zu haben, aufzustehen. Ein besonders glücklicher Umstand, der sie freier atmen ließ, war, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem sie einschlief, niemand anderes im Zimmer war.