Schnee

Sie verharrten in der Virtualität, bis dort der Abend kam. Die Sonne versank glutrot im Meer mit mehr Farben, als ein Sonnenuntergang in der Natur geboten hätte. Der Himmel über ihnen hatte schon einen tief dunklen Farbton angenommen und war mit Sternen übersät, als die Sonne den Horizont erreichte. In der Realität wäre es noch länger dämmerig geblieben. Myrie bevorzugte die Variante der Realität. Nicht, weil sie sie visuell schöner fand, sondern wegen aller anderen Faktoren, dem Wind etwa, der draußen etwas anderes war, der Temperatur, der Feuchtigkeit und dem Mangel an Kontrolle. Dennoch sahen sie beide gebannt zu, wie der rot leuchtende Kreis hinter dem Meer verschwand. Merlin blieb unberührt, ohne Regung, wie zum Zeitpunkt, direkt nachdem sie die Nachricht gehört hatten.

Als die Sonne ganz verschwunden war, ließ er Myries Hand los und verließ die Virtualität. Myrie folgte ihm mit etwas Abstand.

Auch in der Realität war die Sonne untergegangen. Sie putzten gemeinsam die Zähne, wie sie es manchmal zusammen taten, und gingen zu Bett. Oben auf ihrem Bett hörte Myrie ihre Nachrichten ab und erfuhr, dass die Verhandlungen für heute ergebnislos beendet worden waren. Sie drehte sich um ihre Hüftachse auf den Bauch, sodass sie von ihrem Bett auf Merlins herabsehen könnte. Er lag auf dem Rücken und fixierte ausdruckslos die Decke.

“Ich bleibe noch eine Woche.”, sagte sie leise hinab.

“Oh, das macht Hoffnung.”, reagierte Sarina. “In der Trauermiene, in der ihr reinkamt, hatte ich schon etwas ganz anderes vermutet.”

“Bereust du, dass du das Wochenende über hierbleibst?”, fragte Merlin und ein leichter Ausdruck von Besorgnis schlich sich in seine Stimme, der Myrie sehr erleichterte, weil es eine Veränderung dieser Starre darstellte.

Sie schüttelte den Kopf.

“Kein bisschen.”, versicherte sie.

Es stimmte, auch wenn sie gern nun oder am nächsten Morgen nach Hause gefahren wäre. Aber an diesem Abend hatte sie es wichtig genug gefunden hier zu sein um diesen Preis dafür zu zahlen.


Merlin mochte einen großen Teil der Nacht wach gelegen haben. Zumindest jedes Mal, wenn Myrie hinuntersah, hatte er an die Decke gesehen, mit müden, aber geöffneten Augen. Er schien zu grübeln. Als Myrie am nächsten Morgen aufstand, schlief er. Nicht tief allerdings, denn als sie den Raum leise verließ, um sich zu waschen, linste er aus einem Auge, und drehte sich auf die andere Seite.

Zunächst druckte sie sich Frühstück und stapfte hinaus in den Schnee. Es gab eisigen Wind und der Schnee verwehte dadurch, sodass es tiefe Stellen gab, aber auch Stellen, an denen sie nur etwa knöcheltief in einer eisverkrusteten Schneeschicht versank. Sie arbeitete sich nach Osten vor bis zum Zaun, wo sie am Berghang vorbei die Sonne aufgehen sehen konnte. Sie bemühte sich, sich vom Anblick nicht zu sehr davon ablenken zu lassen, darauf zu achten, was sie eigentlich aß. Eine weiße Landschaft erstreckte sich vor ihr. Immer wieder fegte der Wind den losen, feinen Schnee durch die Luft. Der Himmel mochte wolkenlos sein, aber sie konnte es durch die Schneeverwehungen nicht klar erkennen. Es war so kalt, dass sie das erste Mal in diesem Winter ihre Ärmel an ihre Weste anbrachte. Die dünn gefütterten Ärmel waren gemütlich weich auf der Haut und wärmten sich sofort auf.

Als es hell war, drehte sie sich um, um wieder ins Schulgebäude zu gehen, und sah Daina auf sie zu gehen.

“Hier bist du.”, sagte Daina, als sie in Hörweite dafür war.

Sie trug wieder den geschlitzten Mantel, der bis in ihre Kniekehlen reichte und die vom Wind aufgescheuchten Schneeflocken legten sich in ihren Zöpfchen ab. Es gefiel Myrie.

“Was war das Ergebnis gestern?”, fragte Daina.

“Es gibt noch keins. Sie tagen Ende nächster Woche noch einmal.”, antwortete Myrie matt.

Sie fragte sich, ob sie einfach wieder ins Bett gehen sollte. Das, oder in einer Virtualität mit erhöhter Schwerkraft und Gepäck klettern. Das Gepäck würde vom EM-Feld nicht gemessen werden, wodurch sie mit noch mehr Gewicht klettern könnte.

“Immerhin besser, als stünde jetzt schon fest, dass du rausgeworfen würdest.”, beurteilte Daina. Sie blieb vor Myrie stehen und blickte sie mitleidig an. “Bist du mir böse?”, fragte sie leise und es wirkte so, als habe sie Angst davor gehabt, das zu fragen.

“Wieso sollte ich?”, fragte Myrie verwirrt.

“Nun ja, ich nehme an, dass dir wichtiger ist, auf diese Schule zu gehen, als mit mir in der Abenteuergruppe zu sein. Ich hätte auf Hermens Vorschlag eingehen können, dass er dich nicht verraten würde, wenn ich ihn an deiner statt mitspielen ließe.”, begründete sie kleinlaut ihre Angst.

“Hättest du.”, gab Myrie zu. Sie fragte sich in der Tat, warum sie Daina keinen Vorwurf machte, kam zu keinem klaren Ergebnis und antwortete trotzdem: “Ich weiß nicht ganz genau, warum ich dir nicht böse bin. Vielleicht ist es, weil immer noch Hermen mich verraten hat, was er nicht hätte tun müssen, egal wie du reagiert hast. Vielleicht auch, weil ich an deiner Stelle vielleicht sogar genauso reagiert hätte.”

Sie bemerkte, dass sie drei Mal vielleicht gesagt hatte und fragte sich, wie sie es hätte anders formulieren können.

“Auf jeden Fall bin ich froh, dass du nicht böse bist.”, sagte Daina.

Myrie kam plötzlich auf die Idee, dass es mit Dainas Hilfe ja gar nicht notwendig wäre, Gepäck zu haben, um mehr als doppelte Schwerkraft in einer Virtualität zu bekommen.

“Erinnerst du dich an unser erstes Mal Modellieren?”, fragte sie.

“Ja klar, das war lustig!”, antwortete Daina zurückhaltend begeistert.

“Können wir sowas wieder machen?”, fragte Myrie weiter.

“Jetzt?”, wollte Daina wissen.

Myrie nickte.

“Ich habe kurz nach besagter Unterrichtseinheit eine Virtualität gebaut, die dir vielleicht gefallen könnte.”, sagte Daina statt direkt zu antworten. “Es ist auch ein Berg, aber er hat Schwerkraftanomalien. Die Schwerkraft ist an manchen Stellen des Berges stärker, als an anderen.”

Myrie nickte. “Klingt gut.”, sagte sie und brach zum Haupteingang auf.

Daina folgte ihr und Myrie musste sich bremsen, weil sie Daina andernfalls davon gelaufen wäre.


Die Virtualität war schlimm, schlimm in einer Art, die gerade gut für Myrie war. Der Berg hatte steile, auch fast senkrechte Hänge und sogar Überhänge, mit nur sporadischen Möglichkeiten, sich gut festzuhalten. Sie waren für Myrie gerade so ausreichend. In der Realität hätte sie es nie gewagt, auf diese Weise zu klettern.

“Werde ich eigentlich weich aufgefangen, wenn ich falle?”, fiel ihr plötzlich ein zu fragen.

“Also,”, leitete Daina ein, “an sich schon. Aber ich habe diese Virtualität noch nicht durch einen Sicherheitstest gejagt.”

Myrie sah hinab, sie hing gerade spinnenartig unterhalb eines Überhangs, und schaute sich die Wiese unter ihr an. Sie war nicht sehr weit entfernt. In der Realität hätte sie so fallen können, dass sie keinen Schaden davon gehabt hätte. Hier wusste sie nicht vorher, wie doll sie beschleunigt werden würde, auf dem Weg bis nach unten. Aber selbst, wenn sie die meiste Zeit mit höchster Stufe der Schwerkraft, die Daina eingebaut hatte, beschleunigt würde, vermutete sie, den Sturz abfangen zu können. Es sei denn, die Wechsel kämen zu überraschend und sie wäre nicht vorbereitet.

“Ich teste mal.”, beschloss sie.

Daina holte schnappend Luft, um etwas zu sagen, aber Myrie hatte schon losgelassen und fiel. Sie merkte, wie sich die Kraft auf dem Weg zum Boden veränderte und es fühlte sich lustig an. Sie bereitete sich entsprechend darauf vor, sinnvoll abzurollen, aber bevor es dazu kam, wurde sie weich von der Virtualität aufgefangen.

Daina atmete erleichtert auf. “Du wärst auch ohne Auffangen zurecht gekommen, oder?”, fragte sie sicherheitshalber.

Myrie nickte.

Sie machte keine Pause, sondern begann gleich den Anstieg von Neuem.

“Du solltest dich trotzdem nicht darauf verlassen!”, rief ihr Daina noch zu.

“Ist es nicht eigentlich so, dass Virtualitäten, die nicht durch einen Sicherheitstest gelaufen sind, gar nicht benutzt werden können?”, wunderte sich Myrie plötzlich.

“Du hast vollkommen recht.”, erwiderte Daina. “Es sei denn, man heißt Daina Dietrich und kann Haupttorberechtigungen zusammenfriemeln. Naja, und die Umgebung hier in der Schule erleichtert den Hack auch.”


Daina stand einfach unten am Hang und sah ihr beim Klettern und Erkunden zu. Sie schien es aufregend zu finden, obwohl sie nicht aktiv wurde. Myrie konnte es gut nachvollziehen. Sie hätte beispielsweise Olge auch einfach ausgiebig beim Aufwärmen zusehen können. Aber sie erlebte so etwas selten bei anderen.

Weiter oben am Berghang wurde die Virtualität noch aufregender. Hier veränderte sich die Schwerkraft sogar mit der Zeit. Sie veränderte sich in Mustern, zum Beispiel ein schlichtes Pulsieren, aber an einigen Orten verschwand sie auch plötzlich kurz in bestimmten Abständen.

Myrie brauchte mehrere Stunden, um den Berg vollständig zu erklimmen, und sie war anschließend schweißgebadet und erschöpft. Es hatte sie nicht nur Kraft, sondern auch viel Konzentration gekostet. Dennoch sprang sie nicht einfach ganz hinunter, obwohl der Boden in der Realität sicher nicht so weit weg war, wie in dieser Virtualität, sondern hangelte sie sich einen Pfad entlang, auf dem sie sich auch kurze Strecken fallen ließ, von denen sie beim Aufstieg gelernt hatte, dass dort nur wenig Schwerkraft war.

“Danke.”, sagte sie.

“Ich bedanke mich bei dir.”, gab Daina zurück. “Ich finde es immer gut, wenn Leute meine Virtualitäten ausprobieren.”

Myrie verließ den Spielraum, ohne darauf einzugehen. Es war fast Mittag und sie wollte herausfinden, wie es Merlin ging. Sie ging in ihr Zimmer, doch Merlin war gar nicht da. Sein Koffer lag gepackt auf seinem Bett. Myrie blickte eine ganze Weile verständnislos auf den Koffer. Warum war er dort? Wenn Merlin heimfahren wollte, würde sie erwarten, dass er bei seinem Koffer wäre. Aber er lag einfach einsam dort. Vielleicht war Merlin nur kurz weg und würde gleich wiederkommen. Und tatsächlich öffnete sich die Tür, aber statt Merlin kam Hermen herein. Sie sah ihn fragend an.

“Merlin ist gefahren. Zu seinen Eltern. Er meinte, es habe einen Todesfall in der Familie gegeben.”, erklärte er.

Er klang nicht traurig oder bedrückt dabei, aber wenigstens auch nicht fies wie sonst oft.

Myrie fragte sich, ob es zusätzlich einen Todesfall in der Familie gegeben hätte, oder ob er Fadja Hermen gegenüber als Familie definierte.

“Warum ist sein Koffer hier?”, fragte sie stattdessen.

“Er wird ihm hinterhergefahren, wenn er entscheidet, länger fort zu bleiben.”, antwortete Hermen.

“Ach so.”, sagte Myrie und nickte verstehend.

Es traf sie, dass Merlin sich nicht bei ihr verabschiedet hatte. Aber sie wusste selbst, wie selten die Züge fuhren. Wahrscheinlich hatte er keine Möglichkeit gehabt. Er hätte sie anrufen können. Sie entschloss sich, ihn anzurufen, obwohl sie gar nicht so richtig wusste, was sie sagen sollte, aber Merlin hatte seinen Anschluss so eingestellt, dass er derzeit gar keine Anrufe entgegen nahm.

Vielleicht wollte er einfach mit niemandem reden. Und das war auch in Ordnung.


Etwas ratlos kletterte sie auf ihr Bett. Es war noch an seiner Position, aber Merlins Musikanlage darunter war verschwunden. Sie legte sich auf den Rücken und sah an die weiße Zimmerdecke, sah Muster in den Unebenheiten der Decke. Sie konnte sich immer schwer davon abhalten, aber es strengte sie auch an, weil die Umrisse nie perfekt waren und sie das Bedürfnis unterdrückte, sie nachzumalen.

Sie vermisste den Wald und das Gefühl, hinter dem Gitter zu sein. Es wäre sicher gerade sehr gemütlich in ihrer Hütte. Aber würde sie nun dahin gehen, wäre ihr Rauswurf sicher, das wusste sie.

Dann überlegte sie, ob es sich überhaupt lohnte, zu hoffen, dass sie weiter hier zur Schule gehen könnte. Vielleicht hatte Merlin die Schule für immer verlassen. Dann würde einer ihrer Hauptgründe fehlen, sich hier wohl zu fühlen. Natürlich wäre Daina noch da. Aber ihr Zusammensein mit Daina fand vor allem in Virtualitäten statt und das würde ihr nicht genommen. Vielleicht hätte sie sogar mehr Ruhe und Gelassenheit dabei, wenn sie wieder die übrige Zeit zu Hause verbringen würde. Der Gedanke fühlte sich gut an in ihrem Kopf.

Aber noch war nicht klar, das Merlin fern bleiben würde. Dann fiel ihr auch Olge und das Training ein, das sie sicher vermissen würde. Sie war auch gespannt, wie ihre Bekanntschaft mit Olge sich weiterentwickeln würde. Sie hatte keine Vorstellung davon.

Außerdem hatte sie alle drei in einer so kurzen Zeit kennen gelernt, dass sie daraus schloss, dass es gar nicht so unwahrscheinlich wäre, auch noch weitere Leute kennen zu lernen, die sie mögen würde in dieser Schule.

Es war Unsinn, so etwas jetzt dadurch zu entscheiden, dass sie in den Wald flöhe. Vielleicht wäre Merlin auch am Mondtag schon wieder da.

Sie schloss die Augen, um die Formen an der Decke nicht mehr zu sehen. Sie überlegte, ob sie eine Übungseinheit in ihrer Gebärdensprache machen wollte, doch mitten in diesem Gedanken, schlief sie ein. Vielleicht war es auch nur so etwas in der Art, wie Schlaf. Sie nahm viele ihrer ungeordneten Gedanken halb bewusst wahr, aber sie konnte sie nicht steuern. Sie dachte an die Gebärdensprache, an die Verhandlungen, sie dachte darüber nach, was sie nächste Woche sagen könnte, und fühlte sich in ihre Gefühle hinein, die sie haben könnte, wie immer es ausginge.

Als die Gedanken zu absurd wurden, sie zu merkwürdige Diskussionen für die Verhandlung erspann, kam sie zu sich. Es war immer noch hell draußen, aber sie fühlte sich sehr müde. Manchmal half ihr Kälte, um ruhiger zu werden. Es war niemand im Raum, und so öffnete sie das Fenster, zog sich aus und legte sich nur halb unter die Decke. Es brauchte nicht lang und sie schlief wieder ein und dieses Mal etwas fester. In ihrer Traumwelt folgte sie Merlin als eine unbeteiligte Person ohne Körper. Sie sah ihn, wie er im Zug saß, die Trauer im Gesicht, die daraus die ganze Nacht nicht hatte weichen wollen. Es folgte, wie er zu Hause ankam, wie er von seinen Eltern begrüßt und getröstet wurde, und dann auf seinen Dachboden hinaufstieg. Aber der Teil des Traums wollte nicht so recht funktionieren. Da stimmte etwas nicht. Er würde nicht zu seinen Eltern gehen, wenn er traurig wäre.


Myrie schlug die Augen auf und war hellwach. Es war inzwischen dunkel draußen, aber auch noch nicht sehr lange. Fahles Mondlicht des gerade aufgehenden Mondes fiel ins Zimmer. Sie hatte also den ganzen Nachmittag in ihren seltsamen Halbtraumwelten verbracht. Sarina lag bereits im Bett. Er lag auf dem Bauch und las ein digitales Buch auf einem dünnen Bildschirm. Sein Haar hatte er in ein Tuch gewickelt. Seit er die neuen Hinterohrhörer bekommen hatte, die speziell für ihn eingestellt worden waren, schlief er nicht mehr unbewegt auf dem Rücken, sondern zeigte stattdessen das entspannter wirkende Schlafverhalten aus dem Wald.

Hermen war noch nicht im Zimmer.

Myrie drehte sich um ihre Hüftachse und linste auf Merlins Bett hinab. Es lag unverändert der Koffer darauf. Er war zu dünn. Es war Myrie vorhin aufgefallen, aber nicht bewusst geworden.


Sie glitt vom Bett sich auf die Stange unter der Bettkante stützend und ließ sich hinab. <!--Handschuhe-->{=html}Sarina sah vom Buch auf und folgte ihr mit dem Blick. Myrie trat an Merlins Bett und öffnete den Koffer. Er war vollgepackt mit Kleidung und einer Wolldecke.

“Was machst du da?”, fragte Sarina.

“Olja fehlt.”, antwortete Myrie auch sich selbst und klappte den Koffer wieder zu.

“Er hat den Hai wahrscheinlich einzeln mitgenommen.”, vermutete Sarina.

Er mochte recht haben. Aber Myrie konnte sich nach all dem, was Merlin von seinen Eltern erzählt hatte, einfach nicht vorstellen, dass er zu sich nach Hause gefahren wäre.

War er zu der Schwester geflogen, die er mochte?

Myrie vermutete, dass er schon sehr viel Glück gehabt haben müsste, heute so plötzlich einen Flug über den Ozean nach Arelis bekommen zu haben. Das kam ihr unrealistisch vor. Aber wo sollte er sonst hingefahren sein?

Unwillkürlich kam ihr ihre Gefühlswelt in Erinnerung, als Oma Lorna gestorben war. Sie hatte wegrennen wollen, in den Schnee. Sie hatte die Extreme spüren wollen, weil der Tod gewissermaßen auch etwas extremes war. Sie war auch froh gewesen, dass sie danach mit ihrer Familie zusammen sein gekonnt hatte. Aber das war erst danach gekommen, nachdem sie Kälte bis tief in ihren Körper gespürt hatte.

Merlin musste nicht genauso sein. Aber es war denkbar.

Wenn er aber ein solches Bedürfnis gehabt hatte, dann war er diesem auf gefährlichere Art gefolgt, als sie damals. Er hatte sich schließlich verabschiedet und hatte eine Zugverbindung zu sich nach Hause genommen. Hatte es überhaupt eine gegeben?

Myrie fragte Omantra, ob Merlin heute zwischen Morgen und Mittag hätte nach Hause fahren können und die KI, die noch wusste, wo er damals in ihr Abteil zugestiegen war, gab die Auskunft, dass es mit einem Umstieg eine Möglichkeit gegeben hätte.

Also hatte es eine gegeben.

“Ich gehe telefonieren.”, teilte sie Sarina mit und verließ das Zimmer.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, bat sie Omantra eine Verbindung zu Merlins Schwester aufzubauen. Sie fürchtete sich davor, mit einer fremden Person zu reden, und sie hatte außerdem Angst, Merlin zu doll nachzuspionieren. Aber wäre er nicht in irgendeiner Form nach Hause gefahren, dann befand er sich vielleicht im Schnee und das schon den ganzen Tag.

“Hallo Myrie.”, sagte eine Stimme in ihrem Ohr, die so klang, als würde sie zu einem noch viel jüngeren Kind gehören.

Myrie rief sich in Erinnerung, dass Merlins Geschwister im Alter weit auseinanderlagen und die Schwester jünger war als er. Ihr war es nicht so bewusst gewesen, als Merlin darüber gesprochen hatte, aber nun wurde ihr klar, dass seine Schwester in einem Alter das zu Hause bei den Eltern in so weite Ferne verlassen hatte, in dem Myrie gerade ihre schlechten Erfahrungen mit Lernvirtualitäten gesammelt hatte.

“Hallo.”, sagte sie vorsichtig.

Ihre Stimme zitterte etwas vor Nervosität.

“Mein Bruder hat mir von dir schon ein bisschen erzählt. Was möchtest du? Ich habe es etwas eilig. Gleich habe ich wieder Unterricht.”, sagte die Stimme.

“So spät am Abend noch?”, wunderte sich Myrie.

“Hier sind die Tageszeiten anders und es scheint die Sonne.”, widersprach die Stimme. “Aber ich habe auch abends Unterricht.”

“Hast du heute was von Merlin gehört?”, fragte Myrie, nun zum Punkt kommend.

“Nein, sollte ich?”, fragte die Stimme zurück.

“Er hat etwas Trauriges erlebt, und sein Herzwesen meinte, er sei zu seiner Familie gefahren.”, erklärte Myrie.

“Du spionierst ihm nach?”, fragte die Stimme, die nun einen kiebigen Unterton hatte.

“Ich möchte nur wissen, ob er in Sicherheit ist.”, sagte Myrie leise. “Das ist alles.”

“Hast du ihn schon angerufen?”, fragte die Schwester wieder etwas sanfter.

“Ja. Er mag keine Telefonate entgegen nehmen.”, entgegnete Myrie.

“Vielleicht will er auch einfach nur seine Ruhe haben und versteckt sich irgendwo. Aber wenn er sich bei mir meldet, sage ich ihm, dass du dir Sorgen machst, und dass er dir kurz eine Mitteilung machen soll, dass er in Sicherheit ist.”, erklärte sich die Stimme bereit. “Ich bin nun erstmal im Unterricht. Mach es gut!”

Myrie hatte keine Zeit, sich auszudenken, wie sie sich verabschieden sollte, bevor die Stimme die Leitung unterbrochen hatte und verschwunden war. Nachdenklich blieb sie auf dem Flur stehen und fragte sich, was sie tun sollte. Er konnte nach Hause gefahren sein, oder sich auch einfach in der Schule versteckt haben. Aber dann hätte er den Koffer vermutlich mitgenommen. Dann wäre seine Behauptung, abgefahren zu sein, noch realistischer.

Wenn er trotzdem in der Schule war, war er vielleicht im Musikraum. Sie rannte den Flur entlang und dann mehrere Stufen auf einmal nehmend die Treppen hinauf. Die Bewegung tat gut und auf diese Weise war sie sehr leise. Dann öffnete sie sehr vorsichtig die Tür zum Musikraum, um nur kurz hineinzulinsen. Falls er dort wäre, wollte sie sofort wieder verschwinden. Aber der Raum war leer. Sie trat ein. Es hatte immer etwas Andächtiges, wenn sie diesen Raum betrat, und sie tat es langsam, schloss die Tür leise hinter sich. Sie war hier bisher nur einmal ohne Merlin gewesen, wenn man davon absah, dass sie hier manches Mal früher da gewesen war und einige Augenblicke auf ihn hatte warten müssen. Dann hatte sie sich schon einmal an die Wand gesetzt und gewartet, bis er auftauchte, manchmal seine kleinere Musikanlage aus dem Schrank holte, aufbaute, und dann spielte, oder aber direkt und ohne Begleitung spielte. Sie mochte beides.

Dieses Mal setzte sie sich nicht. Sie waren nicht verabredet, Merlin würde nicht kommen. Stattdessen ging sie einer Idee folgend, die ihr kam, zum Schrank und öffnete ihn. Im unteren Fach, in dem Merlin seine kleine Musikanlage liegen hatte, lag dieses Mal nicht nur diese, sondern auch die große, die sonst unter ihrem Bett gestanden hatte.

Myrie schloss die Augen. Der Gedanke, dass er niemals seine Musikanlage in der Schule gelassen hätte, während er selbst gefahren wäre, drängte sich ihr mit Gewalt auf, und sie versuchte, sich dagegen zu wehren. Sie wollte logisch darüber nachdenken und nicht instinktiv. Letzteres scheiterte zu oft. Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Merlins Gepäck sollte ihm nachgeliefert werden und lag auf seinem Bett. Aber alles, was ihm wichtig war, war nicht dabei. Olja konnte er direkt mitgenommen haben. Myrie durchsuchte spontan den Musikraum auch nach Olja, aber fand den Hai nicht. Die Musikanlagen aber waren hier und würden ihm nicht nachgeschickt. Dann aber hatte er entweder etwas sehr Wichtiges zurückgelassen, oder er hatte es einfach vergessen. Aber dann wäre nur die kleine Anlage hier. Die große hatte heute morgen noch unter ihrem Bett gestanden. Die hatte er also sehr bewusst hier untergebracht. Es konnte allerhöchstens sein, dass er sie hier hergebracht hatte, um auch mit der großen und dem Flügel zu musizieren, dann beschlossen hatte, aufzubrechen, und es dann so eilig gewesen war, dass er keine Zeit mehr gehabt hatte, sie zu holen. In diesem Fall hätte er vielleicht jemandem Bescheid gesagt, oder hatte dies noch vor.

Myrie verließ den Musikraum und schaute vom oberen Stockwerk, in dem sie sich befand, durch die Fensterfront in die zugeschneite Landschaft. Inzwischen schneite es wieder feine kleine Flöckchen, die wild umhergewirbelt wurden. Es war kein dichtes Schneetreiben und es sah sehr schön aus, sehr kalt. Verlockend kalt, fand Myrie, aber sie wusste auch, dass sie nicht unbedingt gewöhnlich war in dieser Hinsicht, die Kälte zu mögen.

Sie rannte all die Treppen wieder hinab und verließ das Schulgebäude zum Haupteingang und hinaus. Die Flocken schmolzen sofort auf ihrer warmen Haut und zwickten leicht und angenehm.

Sie sah sich um. Wenn Merlin nach draußen gelaufen wäre, wohin wäre er gegangen? Durch das Haupttor führten viele alte Spuren, auf die sich der frische Schnee nun langsam legte. Das Haupttor war den ganzen Tag durch die Schneeverwehungen schlecht vom Haupteingang zu sehen gewesen und niemand war hier. Merlin hätte sogar dort hinüberklettern können, ohne dass er bemerkt worden wäre.

Wenn er in den Schnee gelaufen war, hielt es Myrie für unwahrscheinlich, dass er noch auf dem Gelände war. Er wäre nun durchgefroren und sie schätzte ihn so ein, dass er dann wieder zurück ins Warme gekommen wäre.

Wenn er weggelaufen war, dann wohl eher weiter weg. Aber wohin?

An dieser Stelle konnte sie nur noch spekulieren. An sich tat sie nichts anderes die ganze Zeit schon, aber bis gerade waren ihre Befürchtungen aus ihrer Sicht ausreichend begründet.

Sie vermutete, dass Merlin eher auf den Ehrenberg versucht hatte zu steigen, als dass er in den Wald gelaufen wäre. Der Wald war schön und gut erreichbar, und sicher wäre es auch attraktiv gewesen, ihre Hütte zu finden, oder ein ähnliches Hüttenprojekt nachzuahmen. Aber er war weggelaufen, weil er um Fadja trauerte, und Fadja mochte Berge.

Jedes Mal, wenn sie mit der Wandergruppe am Ehrenberg entlang spaziert waren, hatte er sich die Felsspalten oben auf dem Ehrenberg angesehen, und manchmal auch laut darüber nachgedacht, dass er gern einmal dort übernachten wolle.

Sie waren viel zu weit oben gelegen. Selbst Myrie traute sich nicht zu, bei dem Schnee dort mit ihrer Ausrüstung heile anzukommen.

Sie wandte sich um und ging wieder hinein. Was sie nun vorhatte, ängstigte sie. Das Schulgelände erneut zu verlassen, hätte sie weniger geängstigt, aber es wäre auch fahrlässig gewesen. Es wäre fahrlässig bei den Witterungen in den Berg zu klettern, ohne dass jemand Bescheid wüsste.

Aber das wusste sie, und Merlin wusste das vielleicht nicht, oder es wäre ihm egal gewesen.

Myrie rief sich den Plan der Schule in Erinnerung und machte sich zum Lehrkraftzimmer auf. Die Flure waren dort ausgestorben, leer.

Auf der Tür zum Lehrkraftzimmer war ein Schild mit Sprechzeiten angebracht, aber diese endeten am frühen Nachmittag. In Notfällen dürfte man sich aber immer melden, stand darunter. Myrie war sich stets unsicher, wie Notfälle definiert waren, und grübelte ein wenig nach, ob sie eine andere Möglichkeit sah, eine Lehrkraft zu erreichen ohne zu entscheiden, dass dies ein Notfall wäre. Auf der anderen Seite hatte sie es eilig, also klopfte sie. Adrenalin strömte ihr dabei durch den Körper und er fühlte sich dadurch unangenehm labberig an.

Eine elektronische Stimme erklang in ihrem Ohr.

“Sie klopfen außerhalb der Sprechzeiten. Liegt ein Notfall vor?”, sprach diese.

“Definiere Notfall.”, bat Myrie.

“Ich werde Fragen stellen, um es einzugrenzen. Wenn Sie eine Frage verneinen müssen, heißt es dadurch nicht zwangsläufig, dass es keiner ist.”, leitete die Stimme ein. “Besteht Gefahr für Leib und Leben mindestens einer Person?”

“Vielleicht.”, antwortete Myrie.

“Dann ist es ein Notfall. Haben Sie einen Vorzug, mit welcher Lehrkraft Sie gern darüber sprechen möchten? Es kann hilfreich sein, wenn Sie mehrere zur Auswahl nennen.”, fragte die Stimme.

Myrie war erleichtert darüber, dass die Fragen zur Definition so schnell abgeschlossen worden waren.

“Henne Lot oder Ara Seefisch.”, sagte Myrie.

“Bitte warten Sie einen Moment.”, gab die Stimme Anweisung.

Myrie wartete. Sie fühlte sich verloren im schwach erleuchteten Flur. Das Einzige, was ihr Sicherheit gab, war der Steinfußboden unter ihren nackten Füßen. Sie spürte die Rillen zwischen den Fliesen in den Sohlen und platzierte sich so um, dass sie ganze Steine unter sich hatte und nur ihre Zehen die Rillen berührten.

Ara Seefisch kam nicht aus dem Lehrkraftzimmer. An sich hätte Myrie das klar sein müssen, aber es überraschte sie. Sie kam stattdessen aus einem Treppenhaus schräg hinter ihr. Myrie hörte die Tür aufgehen und drehte sich zu ihr um. Ihre Haare waren verwuschelt, als hätte sie gerade gelegen, und sie trug gemütlichere Kleidung, als jene, in der sie Myrie bisher gesehen hatte.

Ara Seefisch musterte sie mit gerunzelter Stirn, als sie auf sie zukam und vor ihr anhielt. “Du bist nackt.”, sagte sie.

Myrie sah an sich herab und stellte fest, dass Ara Seefisch recht hatte. Sie hatte lediglich immer noch die Handschuhe in den Händen, die sie benötigt hatte, um die Stange unter ihrem Bett zu benutzen. Sie zuckte mit den Schultern.

“Darum geht es sicher auch nicht. Worum geht es?”, fragte Ara Seefisch.

“Merlin.”, antwortete Myrie.

Ara Seefisch seufzte. Nicht in der Art, wie sie es in ihrem letzten Gespräch mit Henne Lot und Amon Krknschnock so oft getan hatte, sondern sanft und traurig. “Es hat einen Todesfall in seiner Familie gegeben und er ist daher nach Hause gefahren.”, sagte sie, den Kopf senkend und mit einem einfühlsamen Tonfall, den Myrie noch nie bei ihr erlebt hatte.

“Ich zweifle daran.”, entgegnete Myrie.

Ara Seefisch hob abrupt den Kopf und sah Myrie fragend ins Gesicht, wieder wie sie es sonst tat.

“Sein Hai ist nicht in seinem Gepäck, und seine Musikanlage war im Musikraum versteckt. Und ich weiß ein paar Details über die Familie und vielleicht über den Todesfall, die zu privat sind, als dass ich sie einfach erzählen würde, die aber nahe legen, dass die Familie aufzusuchen nicht seine erste Wahl wäre.”, erklärte sie.

Sie hatte sich auf dem Weg und in der Wartezeit überlegt, wie viel sie sagen dürfte. Sie wusste nicht, wie viel von dem, was Merlin ihr erzählte, im Vertrauen darauf war, dass sie niemandem davon weitererzählte.

Ara Seefisch wirkte nachdenklich. Es erleichterte Myrie ein wenig. Sie hatte Angst gehabt, dass ihre Vermutungen einfach weggewischt würden.

“Wir werden die Eltern anrufen, und herausfinden, ob er zu Hause angekommen ist.”, kam Ara Seefisch zum Schluss.

Auf den Gedanken war sie auch bereits gekommen, aber das hatte sie sich nicht getraut.

“Bekomme ich Bescheid, wenn es Neuigkeiten gibt?”, bat Myrie.

Ara Seefisch dachte erneut kurz nach bevor sie antwortete: “Wir sagen Bescheid, sollten wir herausfinden, dass Merlin in Sicherheit ist.”

Myrie bedankte sich. Sie hatte sich dieses Gespräch viel komplizierter vorgestellt. Etwa hätte die Lehrkraft argumentieren können, dass wenn er nicht nach Hause gefahren wäre, es noch lange nicht hieße, dass er sich in Gefahr befinden könnte.

Sie verabschiedete sich von Ara Seefisch und ging wieder zu Bett. Inzwischen war auch Hermen aufgetaucht und lag im Bett und Sarina schlief. Myrie konnte nicht schlafen. Sie legte sich auf den Bauch, sah dem umherwirbelnden Schnee vor dem hohen Fenster zu und wartete. Es dauerte nicht lange, bis Ara Seefisch sie anrief und sie bat, in den Unterrichtsraum zu kommen, in dem sie sich auch sonst immer zu Problemgesprächen getroffen hatten. Myrie hielt sich mit nichts auf und eilte dorthin. Sie traf fast zeitgleich mit Ara Seefisch und Henne Lot dort ein.

Ara Seefisch schmunzelte, als sie Myrie erblickte. “Immer noch nackt. Hier!”, sagte sie und reichte Myrie ein Handtuch, das sie unterlegen sollte, bevor sie sich setzte.

“Ich habe versucht Merlins Eltern zu erreichen und hatte Erfolg bei seiner Mutter. Sie meinte, sie sei gerade gar nicht zu Hause und könne nichts darüber sagen, ob Merlin dort aufgetaucht wäre oder nicht. Sie versicherte uns aber auch, dass es sie nicht wundere, dass Merlin sich nicht angekündigt habe, und es wäre nicht ungewöhnlich für ihn, allein heim zu kehren und sich auf sein Zimmer zu verziehen. Seinen Vater konnte ich nicht erreichen.”, klärte Ara Seefisch sie über den neuesten Stand auf.

Myrie war keineswegs beruhigt, aber sie vermutete auch nicht, dass dieses Treffen einberufen worden war, ohne dass Ara Seefisch ebenfalls besorgt gewesen wäre.

“Wir können also deine Vermutung, er könne nicht nach Hause gefahren sein, nicht widerlegen.”, fuhr Ara Seefisch fort. “Hast du eine Idee, wo er alternativ abgeblieben sein könnte?”

“Ich vermute, er ist in der Nähe des Schulgeländes geblieben, weil er sonst wahrscheinlich seine Musikanlage mitgenommen hätte. Ich habe weitere Ideen, aber die sind sehr vage. Er könnte versucht haben, auf den Ehrenberg zu klettern.”, sagte Myrie.

“Denkst du das, weil du meinst, ihn gut zu kennen, oder weil du das an seiner Stelle vielleicht gemacht hättest?”, fragte Henne Lot sachlich.

“Vielleicht etwas dazwischen. Wobei ich heute sicher nicht bei den Witterungsbedingungen versucht hätte, auf den Ehrenberg zu klettern, ohne jemandem Bescheid zu sagen.”, antwortete Myrie unsicher.

“Du hast bei solchen Witterungsbedingungen im Wald geschlafen.”, erinnerte sie Ara Seefisch.

“In einer isolierten Hütte, einen Weg entlanggehend, den ich gut kenne. Zusammen mit Sarina.”, ergänzte Myrie.

“Und wusste jemand Bescheid, der hier war?”, fragte Ara Seefisch.

Myrie antwortete nicht. Sie wollte keine Person verraten, die sich durch Mitwissenschaft schuldig gemacht hätte.

“Also entweder nein, oder du möchtest es nicht sagen.”, folgerte Ara Seefisch richtig und Myrie nickte.

“Das ist auch gerade nicht das Thema.”, ermahnte Henne Lot. “Es existiert die Möglichkeit, dass Merlin sich in Gefahr begeben hat, und wir sollten auf jeden Fall das Umfeld der Schule absuchen.”

Myrie atmete erleichtert auf.

“Das beinhaltet, dass wir die Muhme fragen, ob er im Wald verschwunden ist. Die Antwort sollten wir relativ zügig haben. Wenn er aber auf den Berg versucht zu steigen, haben wir größere Probleme. Dafür wird wohl mal wieder der Drohnenschwarm eingesetzt werden müssen. Was meinst du?”, wandte sich Henne Lot an Ara Seefisch.

Diese nickte und stand auf. “Ich gehe sofort zur Muhme und bleibe erreichbar. Klärst du mit Myrie alles weitere?”, fragte sie.

“Natürlich.”, bestätigte Henne Lot.

Ara Seefisch eilte zur Tür, doch sie sah sich noch einmal um, bevor sie ganz verschwand. “Myrie,”, sagte sie, “danke, dass du mit dem Problem zu uns gekommen bist.” Dann schloss sich hinter ihr die Tür.

Henne Lot war ihr mit dem Blick gefolgt, holte Luft und drehte sich nun wieder zu Myrie um. “Damit du Bescheid weißt, was passieren wird, fasse ich das eben zusammen.”, sagte er. “Die Muhme, wie du inzwischen vielleicht auch schon mitbekommen hast, kennt den Wald gut. Sie hat guten Kontakt zu den meisten Wesen, die dort hausen. Sie überwacht den Wald nicht, sodass sie nicht unbedingt weiß, wenn Personen dort hineinlaufen, die eigentlich nicht dort sein sollten. In deinem Fall wusste sie es sogar, aber sie hat ihre eigenen Vorstellungen davon, was richtig ist und was falsch und wenn keine akute Gefahr droht, mischt sie sich nicht unaufgefordert ein. Sie weiß auch nicht, wer Ausgangsberechtigung hat und interessiert sich auch nicht dafür. Aber wenn wir jemanden vermissen, hilft sie beim Aufspüren. Üblicherweise finden wir dann im Wald Verschwundene binnen Stunden.”

Er pausierte und wartete, ob Myrie vielleicht etwas einwenden oder fragen wollte. Myrie tat nichts dergleichen. Sie hatte sich tatsächlich nach ihrer Unterhaltung mit Olge gefragt, ob die Muhme vielleicht schon früher von ihrer Hütte gewusst hatte, und war nicht überrascht. Nur eine Neugierde war nun gestillt.

“Für den unbewaldeten Ehrenberg haben wir keine solche Möglichkeit. Die Muhme kennt nur den Wald. Früher hätten wir wahrscheinlich einen Suchtrupp zusammengestellt. Manchmal wird das heute noch zusätzlich getan, obwohl die Chancen, Personen zu finden, mit der heutigen Technologie erheblich höher sind, und üblicherweise jene Erfolg hat. Bei diesen Witterungsbedingungen und mitten in der Nacht wäre das Unfallrisiko aber sehr hoch und wir haben auch nur wenige genügend ausgebildete Lehrkräfte unter uns, die sich über schwierige Passagen sicher bewegen könnten. Dabei gingen wir eher das Risiko ein, noch andere Personen zu suchen. Stattdessen schicken wir einen Drohnenschwarm bestehend aus etwa 1000 mit Wärmebildkameras und olfaktorischer Sensorik ausgerüsteten Drohnen los. Anders als im Wald haben wir auf dem Ehrenberg bei Schnee eine hohe Wahrscheinlichkeit auf Erfolg, weil der Ehrenberg nicht so viele ebenfalls warme Geschöpfe beherbergt und auch nicht von Blattwerk abgedeckt ist.”, fuhr Henne Lot fort und wartete erneut auf Gegenfragen.

“Macht ihr das nacheinander oder gleichzeitig?”, fragte Myrie.

“Du meinst die Muhme fragen und den Drohnenschwarm losschicken? Das machen wir gleichzeitig.”, antwortete Henne Lot. “Ara Seefisch teilte mir soeben mit, dass der Drohnenschwarm gestartet sei.”

Myrie nickte. “Kann ich diese Nachrichten auch haben?”, fragte sie mit matter Hoffnung.

“Ja, das können wir einrichten.”, versprach Henne Lot.

Er aktivierte einen der Bildschirme auf dem Tisch vor sich und eine sehr seltsame Oberfläche erschien darauf mit vielen Zeichen und Diagrammen, mit denen Myrie nichts anfangen konnte. Er wischte seine Finger in gekonnter Weise kurz und flink darüber und schaltete das Gerät wieder aus.

“Ich habe dich dafür autorisiert. Du musst dafür natürlich einstellen, dass jeder Anruf bei dir durchkommt.”, erklärte er.

“Das habe ich schon.”, sagte sie.

Sie hatte es getan, nachdem sie mit Merlins Schwester gesprochen hatte, falls diese sich meldete.

“Wenn du keine Fragen mehr hast, wäre es nun gut, wenn du mir alles erzählst, was du weißt, was uns einen Hinweis darauf geben könnte, wo sich Merlin aufhalten könnte. Auch wäre es gut, wenn wir an eine Geruchsprobe für die Drohnen gelangen könnten. Soweit ich informiert bin, ist sein Koffer noch da?”, bat er.

Myrie nickte und als Henne Lot nicht sofort Aufstand, dachte sie darüber nach, was sie Hilfreiches wissen und sagen könnte. Sie wusste einfach nicht, ob Merlin ihr seine Wünsche eher im Vertrauen erzählte, oder ob sie sie weitererzählen dürfte. Und sie fragte sich, wenn ersteres der Fall war, wie weit sie dieses Vertrauen für einen möglichen Notfall wie diesen ausweiten dürfte. Es war ja auch gar nicht klar, ob Merlin wirklich in Gefahr schwebte, oder ob er einfach zu anderen Vertrauten gefahren war, die er als Familie bezeichnete, ähnlich wie er Fadjas Tod als Todesfall in der Familie bezeichnet haben mochte. Vielleicht war er auch in den Alterswohnsitz gefahren, in dem Fadja gelebt hatte. Aber das kam ihr unwahrscheinlich vor. Soweit sie wusste, hatten Fadja und Merlin voneinander nicht gewusst, wer sie jeweils in der Realität waren oder wo sie gewohnt hatten.

“Ich denke, sein Ziel könnten höhlenartige Felsspalte recht weit oben auf dem Ehrenberg sein.”, entschloss sich Myrie für eine Variante.

Es war ein begründeter Verdacht, der die Suche beschleunigen könnte, und sie erzählte nicht, warum sie das dachte.

“Magst du mir sagen, wie du darauf kommst?”, fragte Henne Lot.

“Nein.”, antwortete Myrie.

“Hmm.”, machte Henne Lot nachdenklich.

Er drängte sie nicht, es war kein an sie gewandter Laut.

“Kannst du einschränken welche und sie genauer beschreiben?”, fragte er weiter.

“Ja, ich könnte sie auch zeigen.”, sagte sie und fügte hinzu. “Also von unten, von wo man sie sieht.”

“Ah, ich glaube, ich weiß, welche du meinst.”, wurde Henne Lot klar und er beschrieb ihr den Wanderweg, auf dem sie sie das erste Mal gesehen hatten, und ihre ungefähre Form. Er konnte es gut, besser als Myrie es hätte in Worte fassen können. Sie nickte bestätigend.

“Gut.”, sagte er und schaltete erneut den Bildschirm ein. Dieses Mal konnte Myrie genauer verfolgen, was er tat. Er betrachtete ein 3D-Modell des Ehrenbergs, das auf den zweidimensionalen Bildschirm projiziert wurde, drehte ihn, bis er die Höhlen sah, kringelte sie ein und bediente dann ein Menü, dass Myrie wieder nicht verstand.

“Hast du weitere Ideen?”, fragte er sie.

“Nein. Höchstens, dass er wahrscheinlich bei dem Versuch dort anzukommen, scheitern würde.”, sagte sie.

“Ja, das halte ich auch für wahrscheinlich.”, überlegte Henne Lot und stand auf.

Sie folgte ihm zu ihrem Zimmer, wo er stehen blieb.

“Magst du mir Kleidungsstück herausbringen? Ich darf euren Raum aus Gründen der Privatsphäre nicht einfach betreten. Wobei wir diese natürlich gerade schon ein bisschen strapazieren, was in so einem Fall okay ist.”, bat er.

Sie nickte und betrat leise den Raum. Als erstes sah sie zu Sarinas Bett hinüber. Es wäre ihr unangenehm gewesen, nun mit ihm zu reden. Sie hätte nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen. Aber sie hatte Glück. Er schlief. Sie schlich zu Merlins Koffer und nahm ein paar Socken daraus, die sie ordentlich gefaltet am Rand vorfand, ohne viel zu suchen. Dann verließ sie wieder den Raum.

Sie folgte Henne Lot in einen kleinen Raum mit allerlei Geräten, die sie nicht auf einen Blick erfassen konnte. Die Lehrkraft legte die Socken in einen dunklen Kasten, der ein bisschen Wärme abstrahlte und erklärte, dass hier die Geruchskomponenten analysiert und an die Drohnen übermittelt würden.

“Die Idee stammt daher, dass Hunde gut darin sind, verloren gegangene Personen anhand ihres Geruchs aufzuspüren. Ihre Technik wurde weiterentwickelt. Sensoren und Verarbeitungschips zu speziell diesem Zweck sind seit einigen Jahren weit entwickelt und sind inzwischen zuverlässiger als jeder Organismus. Natürlich ist die Methode immer noch nicht unfehlbar.”, erklärte er.

Sie schauten sich einen Augenblick besorgt an. Dann wurde Myries Schweißband warm und sie empfing eine Nachricht, die ihr mit elektronischer Stimme vorgelesen wurde: “Das ausgewählte Ziel enthält kein Zeichen auf menschliches Leben.”, sagte sie.

“Hast du die Nachricht bekommen?”, fragte Henne Lot sie.

Myrie nickte.

“Zwei der Drohnen haben die Höhlen ausgeforscht und bestätigen, dass Merlin dort nicht angekommen ist. Noch nicht zumindest.”, erklärte Henne Lot die Bedeutung der Nachricht.

“Können wir den Weg dahin absuchen?”, fragte Myrie hoffnungsvoll.

“Den habe ich gleich anschließend in Auftrag gegeben. Das wird ein wenig länger brauchen. Es ist allerdings fraglich, ob Merlin den Weg kennt, oder ob er auf gut Glück versuchen würde, dort anzukommen.”, sagte Henne Lot.

Er hatte natürlich Recht und das ließ Myries frisch gewonnene Hoffnung wieder in sich zusammenfallen. Henne Lot bemerkte es und Mitleid spiegelte sich in seinem Gesicht wieder.

“Der Drohnenschwarm wird von einer ziemlich weit entwickelten KI gesteuert und stellt die vielversprechendste Suchmethode dar. Wenn er auf dem Berg ist, wird sie ihn sicher finden.”, versicherte Henne Lot.

Myrie sah ihn finster an. Das war nicht die Wahrheit, das wusste sie.

Henne Lot runzelte die Stirn. “Habe ich etwas Falsches gesagt?”, fragte er.

Myrie nickte und wurde wütend. Es geschah selten, dass sie wirklich wütend wurde. “Es gibt so viele Möglichkeiten wie selbst eine solche KI scheitern kann. Etwa ist es dunkel, und sie sind mit Wärmebildkameras unterwegs. Wenn er aber eine Möglichkeit gefunden hat, sich gut isoliert einzupacken in einen isolierten Schlafsack etwa, und zusätzlich noch unterkühlt ist, sehen sie nichts. Er hat das gleiche Schlafsackmodell wie ich.”, fuhr sie auf. “Und das ist noch die harmloseste Möglichkeit. Er kann gestürzt sein, und tot. Er kann schlicht erfroren sein. Er kann von einem Tier angegriffen worden sein und sich nicht richtig verhalten haben. Noch dazu bieten Berge so unglaublich viele Möglichkeiten sich zu verstecken, dass ich auch 1000 Drohnen nicht zutraue, die alle zu finden.”

Sie verknotete ihre Finger und zitterte etwas.

“Du hast recht.”, sagte Henne Lot, bemühte sich nicht einmal beschwichtigend zu sein. “Ich habe mich nicht richtig ausgedrückt. Ich sprach mehr von dem Fall, dass er lebt und den Ehrenberg erklimmt. Das ist natürlich nur ein Sonderfall, aber ich halte ihn zunächst für am wahrscheinlichsten.”

“Ich würde vermuten, dass er das seit ein paar Stunden nicht mehr tut.”, widersprach Myrie.

“Wann glaubst du, mag er das Schulgelände verlassen haben?”, erkundigte sich Henne Lot überrascht.

“Zwischen dem Morgengrauen und der Mittagszeit.”, schränkte sie das Zeitfenster ein.

“Warum bist du erst jetzt zu uns gekommen?”, fragte Henne Lot.

Myrie ahnte, dass er entgeistert oder wütend oder besorgt war, aber er war zu Weilen doch meisterhaft darin, sachlich und ohne Gefühlsreaktion zu bleiben, und das schätzte sie sehr an ihm.

“Ich bin erst vorhin darauf gekommen, dass etwas an der Geschichte mir unstimmig vorkam und habe dann erst den Musikraum begutachtet. Beinahe mehr durch Zufall. Ich bin dann sofort zum Lehrkraftzimmer gelaufen.”, erklärte sie.

“Sollte er nicht nach Hause gefahren sein, hat er seine Flucht gut vertuscht.”, verstand Henne Lot.

Myrie nickte.

“Nun, ich denke, wir haben soweit alles besprochen. Wenn du möchtest, können wir die Wartezeit gern wieder im üblichen Unterrichtsraum zusammen verbringen. Sonst kannst du auch ins Bett gehen, oder wenn du wo anders hinmöchtest, auch dahin. Melde dich, wenn dir noch was einfällt, und es wäre lieb von dir, wenn du erreichbar bleibst.”, sagte Henne Lot.

“Bleibe ich.”, versprach Myrie, überlegte einen Moment, ob sie tatsächlich die Zeit mit Henne Lot verbringen wollte, entschied sich dann aber dagegen. “Wenn ich irgendwann zu nervös werde, kann ich dann immer noch fragen, ob wir zusammen warten können?”, fragte sie.

“Natürlich.”, bestätigte Henne Lot.

“Vielen Dank.”, sagte sie und ging.


Wieder lag sie auf ihrem Bett und sah durchs Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien und der Wind hatte sich etwas gelegt. Der Himmel war von einer dünnen, durchsichtigen Wolkenschicht überzogen, die der Mond erleuchtete. Myrie öffnete das Fenster einen Spaltbreit mit einer Geste und kalte Luft kam herein. Sie genoss sie einen kurzen Moment, bevor sie es wieder schloss. Die anderen im Zimmer würde die Kälte sonst wecken.

Sie hatte vielleicht eine Stunde wach gelegen, als der erste Anruf kam. Henne Lot teilte ihr mit, dass Merlin nicht im Wald war. Auch wenn sie es von vornherein nicht geglaubt hatte, wuchs ihre Sorge dadurch.


Myrie hätte nicht geglaubt, dass sie hätte einschlafen können, aber eben das musste passiert sein, denn ihr Schweißband weckte sie, indem es warm wurde. Es war Merlins Schwester.

“Hi Myrie. Hast du was über Merlins Verbleib herausgefunden?”, fragte sie.

“Nein.”, flüsterte Myrie.

“Oh je. Ich hoffe, es geht ihm gut. Vielleicht ist er einfach wirklich nach Hause gefahren und verweilt da auf dem Dachboden. Meine Eltern sind gerade nicht zu Hause. Meine Mutter war auch ein bisschen überrascht heute schon zum zweiten Mal nach Merlin gefragt zu werden, als ich sie anrief. Habt ihr wohl auch?”, berichtete Merlins Schwester eilig.

“Ja.”, flüsterte Myrie.

“Dann kommt die Sorge immerhin aus der gleichen Quelle. Ich melde mich, wenn ich was weiß. Du auch, ja?”, bat die Schwester.

“Ja.”, flüsterte Myrie wieder und die Schwester beendete das Gespräch.

Darauf vertrauend, dass sie schon geweckt würde, wenn es Neuigkeiten gäbe, nutzte Myrie aus, dass sie nicht richtig wach geworden war, um wieder einzuschlafen. Nur wenig später wurde sie erneut geweckt. Es war die Meldung des Drohnenschwarms, dass Merlin sich auch auf dem ganzen Weg zu den Höhlen nicht befände.

Dieses Mal konnte sie nicht wieder einschlafen. Das war auch kein Wunder. Sie hatte ja auch schon fast den gesamten Nachmittag über geschlafen. Sie drehte sich auf den Rücken und dachte nach.

Wenn Merlin versucht hatte, die Höhlen zu erreichen, in denen er immer Mal hatte übernachten wollen, dann lag es nahe, dass er das von einem Ort aus beginnen würde, von wo er sie sehen konnte. Er hätte vielleicht auf jenem Wanderweg gestartet den Berg zu besteigen, den Henne Lot ihr beschrieben hatte, und den sie selbst sich heute schon so oft in Erinnerung gerufen hatte.

Myrie kam zu einem Ergebnis, das sie nicht so recht mochte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie dort hingehen und sich umschauen wollte. Merlin hatte viel Energie darein gesteckt, verborgen zu bleiben. Myrie vermutete, dass die Drohnen nicht auf so einen Fall spezialisiert wären. Sie könnte zum Weg gehen, von wo man die Höhlen aus sah, und wenn sie nichts, keine Spuren, sehen würde, könnte sie umkehren. Ihr würde nichts passieren. Aber wenn sie verborgene Spuren fände, dann könnte sie ihnen folgen.

Es hätte sicher einen Rauswurf zur Folge, würde sie erwischt, aber wenn es Merlin helfen würde, wäre es ihr egal. Wenn es sie selbst gefährden würde, natürlich nicht.

Sie überlegte, ob sie eine der Lehrkräfte fragen sollte, sie zu begleiten. Etwa Amon Krknschnock, weil er ihren letzten Ausflügen in den Wald gegenüber aufgeschlossener gewirkt hatte. Aber sie befürchtete zweierlei. Zum einen befürchtete sie natürlich, dass man ihr dies ausreden wollen würde. Aber die größere Angst war, dass niemand der Lehrkräfte ihre Erfahrungen mit Sicherung und Klettern in Bergen gemacht hatte, und sie auf diese Weise keine Begleitung bekommen würde.

Allerdings konnten ihre Erfahrungen auch ein Nachteil sein, überlegte sie. Merlin hatte nicht die selben Fähigkeiten, die sie hatte. Einige Hindernisse, steile Hänge etwa, konnten ihn aufhalten, während sie sie nicht einmal mehr als Schwierigkeit wahrnehmen würde.

Auf der anderen Seite war vermutlich gerade sein Angstempfinden kaputt und er mochte dazu neigen, sich zu überschätzen.

Sie sollte höchstens bis zu der Stelle gehen und nachsehen, ob sie Spuren fand. Aber sie wusste, wenn sie welche finden würde, dann würde sie nicht umkehren, sofern ihr die Suche nicht zu gefährlich vorkäme.

Sie würde ungefährlicher werden, wenn sie einer Person Bescheid geben würde, die hier bliebe und sie sollte vielleicht eine weitere darum bitten, mitzukommen, die einschätzen könnte, welche Hürden Merlin nicht aufgehalten hätten und welche schon.

Sie durchdachte ihr Vorhaben noch ein paar Mal gründlich, vor allem in Hinsicht auf die Sicherheit und Zumutbarkeit für die weitere Person, die sie begleiten sollte. Sie fragte sich auch, wer dazu geeignet wäre, und kam zu dem Schluss, dass Daina sie schon beim letzten Mal gefragt hatte, warum sie sie nicht gefragt hätte, und dass Daina sicher taugte. Sie war kleiner als Merlin aber auch etwas kräftiger. Und Myrie mochte sie.

Dann entschied sie sich, dass sie doch niemandem Bescheid sagen würde. Sollte ihr etwas passieren, wäre auch so ziemlich ersichtlich, wohin sie gegangen wäre, sobald sie vermisst würde. Und sie hatte Omantra dabei. Die KI war wie immer so eingestellt, dass, wenn sie in akute Not geraten würde, sie aktiv würde und ihren Aufenthaltsort sofort an ihren Papa schicken würde und gegebenenfalls an Rettungsdienste. Diese Sicherheit hatte ihr bisher immer gereicht und sie würde auch jetzt reichen, solange sie nicht vorhatte, tatsächlich den ganzen Ehrenberg hinaufzusteigen. Und sollte dieser unwahrscheinliche Fall eintreten, könnte sie immer noch eine Nachricht verschicken.

Schließlich ließ sie sich leise von ihrem Bett herab und zog sich an. Sarina schlug, vom Geräusch ihrer Kleidung geweckt, die Augen auf und beobachtete sie.

“Was hast du vor?”, flüsterte er.

Darauf war Myrie nicht vorbereitet. Sie zögerte, bevor ihr eine Halbwahrheit einfiel, die sie in Ordnung fand, zu sagen.

“Ich möchte Daina treffen.”, murmelte sie.

“Mitten in der Nacht?”, fragte Sarina.

Myrie nickte einfach und trat auf den Flur.

Es war ungewöhnlich für sie, Leute mitten in der Nacht zu treffen, aber auch nicht noch nie geschehen. Hermen dagegen war oft nachts noch unterwegs in irgendeiner Virtualität. Sie hoffte einfach, dass Sarina es akzeptierte und weiterschliefe.

Dann forderte sie Omantra mit Gebärdensprache auf eine Verbindung zu Daina herzustellen. Sie hoffte, dass im Gegensatz zu ihr, Daina ihre Anrufe nachts entgegen nehmen würde und hatte Glück.

“Myrie?”, fragte Daina sehr verschlafen.

“Können wir uns treffen?”, bat Myrie.

“Jetzt?”, vergewisserte sich Daina.

“Ja.”, antwortete Myrie.

“Wo bist du?”, fragte Daina und klang nun endlich etwas wacher, aber auch leiser.

Vielleicht hatte sie registriert, dass noch nicht Morgen war und dass noch andere im Raum schliefen.

“Derzeit vor meinem Zimmer auf dem Flur. Wir könnten uns bei unserem häufigst genutzten Unterrichtsraum treffen.”, schlug Myrie vor.

“Moment.”, sagte Daina.

Eine Tür am Ende des Flurs öffnete sich und Daina trat auf den Flur. Sie trug einen karierten, weichen Filzschlafanzug, dessen Beine knapp oberhalb ihrer Knöchel endeten und ihre großen Füße lugten daraus hervor. Ihre Haare waren an einer Seite etwas zerzaust und zum ersten Mal, seit Myrie sie kannte, zopflos.

Sie rieb sich die Augen, während sie auf Myrie zuging.

“Ein Notfall nehme ich an.”, sagte sie.

“Ich vermute, dass Merlin nicht nach Hause gefahren, sondern auf den Ehrenberg geklettert ist.”, erklärte Myrie.

“Warum?”, fragte Daina neugierig.

Myrie erklärte ihr in knappen Worten was bisher geschehen war und was sie sich überlegt hatte und Daina hörte aufmerksam zu, stellte hier und da Rückfragen. Myrie mochte Dainas Umgang mit der Situation. Sie war ernst, sachlich und analysierte, so gut sie konnte, wie wahrscheinlich Myries Einschätzungen zutreffen mochten, und wie wahrscheinlich es war, dass sie wirklich eine Chance hatten, Merlin zu finden, während die Drohnen es nicht schafften.

“Die Drohnen könnten auch uns finden.”, gab sie zu bedenken.

“Das stimmt wohl.”, gab Myrie zu. “In dem Fall sind sie entweder so schlau, dass sie erkennen, dass wir beide keine Menschen sind, oder aber ich bekomme die Meldung, dass jemand gefunden worden ist, und würde mich zurückmelden und sagen, dass wir das sind.”

Daina nickte. “Klingt soweit alles vernünftig. Ich geh mich warm anziehen. Warte hier.”, beschloss Daina.

In der Zeit, in der sie auf Daina wartete, packte Myrie ihre Ärmel aus und montierte sie an ihrer Weste. Es war etwas frickelig. Myrie hatte sich für diesen eher schwierigen Anschluss entschieden, weil er sehr gut hielt und trotzdem weich war. Dennoch dauerte es nicht sehr lange, aber Daina war ebenfalls zügig. Und so machte sich Myrie ein weiteres Mal auf, das Schulgelände zu verlassen.

Sie verließen es durch das Haupttor. Daina hatte vorübergehend Myries Haupttorberechtigung aufgehoben, damit Myrie oder sie nicht auch dafür Schwierigkeiten bekommen würden, sollte es auffliegen. Aber nun, da sie wusste, wie sie diese erlangen konnte, richtete sie Myrie und sich die Berechtigungen schnell wieder ein.

Das Haupttor schloss sich hinter ihnen. Das Gefühl der Freiheit aber, das Myrie sonst immer gehabt hatte, wenn sie diesen Punkt erreichte, blieb dieses Mal aus.