Ausrüsten

Die andere einschneidende Erkenntnis, die ihr Leben veränderte, als Myrie fünfeinhalb war, betraf ihre Erscheinung. Dass ihre Großmutter begonnen hatte, sich zu rasieren, lag ein knappes Jahr zurück und Myrie hatte noch immer kein einziges Barthaar. Und nun war sie außerdem wieder allein im Dorf damit. In einem Dorf, in dem die Kinder üblicherweise bereits mit Flaum im Gesicht auf die Welt kamen. Und der fehlende Bart blieb nicht ihr einziges Alleinstellungsmerkmal. Außer einer einzigen Strähne, die ihr in der Mitte, dort wo bei anderen der Scheitel war, aus dem Kopf wuchs, hatte sie keinerlei Kopfbehaarung. Die Haare waren anfangs grün gewesen, aber im Alter von fünfeinhalb begannen sie zu ergrauen. Sie war auch schlicht nicht in der Lage, diese eine Strähne so zu pflegen, dass sie länger als bis zu ihrem Ohr wachsen würde. Einige Zentimeter darüber begannen sie auszudünnen und nur einige Haare schafften es ab und an, ihr Ohr zu kitzeln.


Myrie beschloss, sie immer auf eine Seite zu kämmen. Ihr kam es so vor, hätte sie sie zu beiden Seiten gleichmäßig aufgeteilt, als hätte sie ihren ansonsten kahlen Kopf verbergen wollen, und so sehr sie sich auch wünschte, dass ihr vielleicht irgendwann einmal eine Mähne wie allen anderen wachsen würde, und es einfach eine Wachstumsstörung wäre, sie wollte dennoch nicht so tun, als wäre etwas da, was eben nicht da war.

Sie kämmte sie jeden Tag in die andere Richtung als am Vortag, damit die Seiten ihres Schädels gleich behandelt würden. Diese Eigenart fanden einige der Dorfkinder urkomisch und machten sich darüber lustig. Myrie ließ das keineswegs kalt, aber ihre Schädelseiten ungerecht zu behandeln fand sie noch unangenehmer, als die Bemerkungen der Kinder. Und was auch immer sie mit ihrem Haar machte, ihre Familie fand das alles in Ordnung. Und so mied Myrie einfach die anderen Kinder.


Nur wenige Monate nach Oma Lornas Tod stellten Myrie und Ahna fest, dass Myrie ihre Schwester überragte, dabei war diese doppelt so alt wie sie.

Sie hatte ihren Papa und Oma Lorna schon oft gefragt, was mit ihr nicht stimmte, aber beide waren überzeugt davon, dass mit ihr alles in Ordnung sei. Sie sei halt anders, aber das sei völlig in Ordnung. Als sie aber nun ihre Körpergröße mit der von Ahna verglich und feststellte, dass sie 2cm größer war als Ahna, rannte sie in die Werkstatt hinunter und baute sich mit in die Hüften gestützten Händen vor ihrem Papa auf.

“Bin ich adoptiert?”, fragte sie.

Ihr Papa schaltete das Schleifgerät aus, legte es zur Seite und murmelte in seinen Bart: “Eigentlich sollte ich endlich mal den Tisch in Angriff nehmen. Eigentlich.”

Dann legte er die Ohrenschützer ab und blickte auf.

“Nochmal bitte.”, sagte er.

“Bin ich adoptiert?”, fragte Myrie noch einmal.

“Bist du nicht, nein. Also deine Mutter hat dich hier abgeliefert, als du ganz klein warst, und ich habe dich dann großgezogen, aber du bist schon meine leibliches Kind. Auch wenn ich denke, dass das eigentlich keine Rolle spielt. Ich hatte dich lieb vom ersten Augenblick an und das hängt überhaupt nicht damit zusammen, dass ich dein leiblicher Papa bin oder nicht.”

“Vielleicht hat sie dich angelogen.”, sagte Myrie.

Das war eigentlich gar nicht ihre Art, irgendwelche Leute des Lügens zu bezichtigen.

“Sie hätte keinen Grund dazu gehabt. Warum denkst du das?”, ihr Papa runzelte die Stirn, die dabei etwas dunkler wurde.

“Weil ich so anders bin.”, murmelte Myrie und ließ den Kopf hängen, “Kein Bart, kaum Haupthaar, und ich bin riesig! Ich bin bestimmt bald größer als du! Ich bin größer als Ahna!”

Ihr Papa hörte auf, die Stirn zu runzeln, und lächelte plötzlich. Myrie sah das aus dem Augenwinkel und blickte irritiert auf.

“Das kommt, weil Heddra ein Ork ist. Ich gehe ihr bis zur Hüfte. Du bist also Zwerg und Ork. Es ist sehr wahrscheinlich, dass du größer wirst als ich. Aber wahrscheinlich auch nicht so groß wie Heddra. Wahrscheinlich nur so ein oder zwei Köpfe größer als ich, schätze ich. Aber genau kann man das nicht sagen. So viele Kinder mit einem Zwerg- und einem Orkelternteil gibt es nicht.”

Ihr Papa zerstörte mit dieser Erläuterung alle Bilder, die sie sich je von ihrer Mutter gemacht hatte. Nun, an sich waren das auch eher verschwommene gewesen. Sie hatte sich ihre Mutter auch oft haarlos vorgestellt, irgendwoher musste das ja bei ihr kommen. Aber es fiel ihr nicht leicht, sich eine Person als Mutter vorzustellen, der ihr Papa nur bis zur Hüfte ging. Nach einigen Anstrengungen gelang es ihr endlich.

“Hast du ein Bild von ihr?”, fragte Myrie.

Sie war irgendwie erleichtert nun endlich zu wissen, was mit ihr los war. Ihr Papa schüttelte den Kopf.

“Sie ist sehr scheu und wollte das nicht. Ich hatte mal überlegt, ob ich ihr Gesicht schnitzen sollte, aber habe das auch nie getan, weil ich nicht sicher war, ob sie das gut fände.”, er grübelte ein wenig. “Aber wenn ich es recht bedenke, wenn ich es nur für mich mache und dir einmal zeige, weil du ihr Kind bist, und es sonst nirgends hinhänge, dann sollte sie da wahrscheinlich nichts gegen haben.”


Jahre vergingen. Myrie hatte auf ihrer neuen Erkenntnis aufbauend versucht, sich in Virtualitäten zunächst mit Orks anzufreunden, aber ohne viel Erfolg. Sie lernte, dass sie in Virtualitäten ihren Körper nach ihren Wünschen anpassen konnte. Sie konnte sogar Zwerge treffen, ohne, dass diese wussten, dass sie kaum Haare hatte oder viel größer war. Sie konnte sich einen Bart ihrer Wahl kreieren. Sie konnte ihre Körpergröße beliebig anpassen.

Sie lernte von Omantra, wie die Virtualitäten im Wesentlichen funktionierten. Durch die Drähte in der Wand wurde ein elektromagnetisches Feld erzeugt, das wie Magneten Kräfte auf Eisen auswirkte. Ihr EM-Anzug hieß EM-Anzug, weil auch durch ihn ein dünnes Drahtgeflecht gelegt war, in dem Gegenfelder erzeugt wurden, sodass von ihrem Anzug anziehende oder abstoßende Kräfte auf das Feld um sie herum erzeugt wurden. Auf diese Weise konnten physische Widerstände und unsichtbare Wände erzeugt werden. Ihre VR-Brille zeigte ihr dann synchron das passende Bild dazu, sodass sie die Wände nicht nur fühlte, sondern auch sah.

Trafen Leute sich in Virtualitäten, so übertrug der EM-Anzug der Personen am einen Ort Ortsdaten, wo sie sich im Raum befanden und wie sie sich bewegten, zu den Personen am anderen Ort. Das elektromagnetische Feld im anderen Raum erzeugte dann dort Widerstand, wo die Körper für die anderen erschienen. Auf dem Weg dorthin konnte das Körperabbild nach Wunsch skaliert und anders verändert werden.

Aber obwohl Myrie auf diese Art auf andere treffen konnte, die nicht wussten, dass sie sich äußerlich unterschied, gelang es ihr nicht, sich mit anderen anzufreunden. Schlimmer noch, es passierte überall in jedem Kontext früher oder später, dass sie sich durch irgendetwas unbeliebt machte. Ihr war oft nicht klar wodurch. Manchmal waren es Dinge, die ihr Omantra hinterher erklärte, die sie nicht einsah oder nicht ändern konnte. Etwa, dass sie zu lange zum Antworten brauchte. Oder dass sie, wenn jemand etwas Interessantes sagte, erst lange darüber nachdenken musste und dabei den Gesprächsfaden verlor.

Und so blieb Myrie meist für sich. Oder beobachtete kleine Wildkatzen und die ein oder andere Bergziegenherde im Gebirge. Denn dort zog es sie immer öfter hin.

Nach und nach legte sie sich eine Ausrüstung zu und blieb manchmal den ganzen Tag draußen, hing in irgendwelchem Geäst, während ihr Omantra die Welt erklärte. Langsam und mit vielen Pausen und gründlich. Zunächst hörte sie Omantra über Kopfhörer. Daran störte sie, dass sie das Vogelgezwitscher, das Rauschen des Windes und andere Dinge weniger gut wahrnahm. Und wenn Omantra über Lautsprecher sprach, so erschreckte es die Tiere in der Umgebung. Die Lösung, für die sie sich schließlich entschied, waren Hinterohrhörer. Diese konnte sie hinter den Ohren am Schädel befestigen, und sie erzeugten durch passend gesetzte sanfte Impulse auf den Schädel Schwingungen direkt in ihrer Hörschnecke. Auf diese Weise konnte nur sie Omantra hören, selbst wenn jemand sein Ohr direkt an die Hörer drücken würde.

Ihr Schweißband war mit hervorragenden kleinen Solarzellen ausgestattet. Dank der noch relativ neuen Entdeckungen und Entwicklungen mit Spinströmen, die wesentlich ernergieeffizienter waren als der früher meist verwendete Elektronenstrom, weil sich nicht ganze Ladung verschieben musste <!--wie beschreibt eins das richtig?-->{=html}, sondern nur magnetische Ausrichtungen von Molekülen drehen mussten, konnte sie sich den ganzen Tag mit Omantra unterhalten. War Myrie mal nachts unterwegs, so war Omantra dennoch aus Stromspargründen meist im Standby und Myrie weckte sie nur selten auf.

Myrie sammelte im Laufe der Zeit auch eine ganze Reihe praktischer Haken und Karabiner an, eine kleine Pfeilschussvorrichtung zur Befestigung von Haken an entfernten geeigneten Stellen, selbstaufplusternde Schlauchseile, einen ebenfalls selbstaufplusternden Schlafsack, eine kleine, leicht steuerbare Drohne, einen ferngesteuerten Steinbohrer, ein kleines Fernglas mit Kamerafunktion und Kleidung mit vielen Taschen, in die das alles hineinpasste, und die dank moderner Lotustechnologie immer trocken blieb. Auch eine Wärmebatterie war dabei, die sie notfalls an ihren EM-Anzug anschließen konnte, um sich einmal aufzuwärmen, ein gutes, einfaches Feuerzeug und ein wirklich vielfältiges Taschenmesser.


Es war ein schöner Nestag Morgen und einer der ersten Tage des Frühlings ohne Frost, als Myrie das erste Mal eine Felswand hinaufkletterte, die mehr als dreimal so hoch war wie sie, und die sogar leichten Überhang hatte. Als sie sich endlich über den Rand auf eine nur leicht abschüssige Plattform zog, war sie aus der Puste und ihre Armmuskeln taten angenehm weh. Sie zitterte etwas vor Anstrengung, rollte sich auf die Plattform und ruhte sich aus. Die Sonne schien ihr auf den Rücken und ein leichter Wind trocknete ihren Schweiß. Die leichte Verdunstungskälte tat gut. Myrie drückte ihre Arme gegen den kühlen Fels, auf dem sie lag, und genoss es. Sie genoss außerdem die Zeit, die sie hatte. Alle Zeit der Welt nämlich. Sie roch ihren eigenen Schweiß, das Moos vom Fels, und den Geruch, den ein Frühling so mit sich brachte. Sie schloss eine Weile die Augen.

Dann, als sie wieder ganz ruhig atmete und sich völlig entspannt hatte, richtete sie ihren muskulösen Oberkörper auf, ließ die Beine von der Kante baumeln und sah hinunter ins Dorf. Von so weit oben hatte sie es noch nie gesehen. Sie stellte fest, dass es gar nicht so klar zu sehen war, wie Dörfer von so weit weg in den Virtualitäten. Ihr war das früher schon in den Sinn gekommen, aber nun sah sie es ganz deutlich. Eine gewisse Diesigkeit ließ die Farben im Dorf etwas verblassen.

“Omantra, sind da vielleicht sehr dünne Wolken zwischen hier und Byrglingen?”, fragte sie.

“Es gibt eine gewisse Feuchtigkeit in der Luft, also ließe sich das tatsächlich so ausdrücken. Aber das Phänomen, das du beobachtest, würde auch andernfalls auftreten. Luft ist nicht unsichtbar, sondern nur sehr transparent.”

“Stimmt, Luft besteht aus etwas, sonst würde ich ja keinen Wind spüren. Woraus besteht Luft eigentlich genau?”

Omantra begann Myrie mit ruhiger, weicher Stimme über die Zusammensetzung von Luft aufzuklären und über die Prozesse, die beim Atmen geschahen, während sie ins Tal schaute und sich fragte, ob ihr die Sicht auf das Dorf in einer Virtualität besser gefallen würde. Sicher hätte man dort die freie Wahl, auch eine Diesigkeit einzustellen. Genau nach den persönlichen Bedürfnissen. Aber auf der anderen Seite mochte sie es auch, nicht über alles bestimmen zu können.

Omantra war längst in Schweigen übergegangen, Myrie ließ immer noch die Beine baumeln und spürte einen kalten Windhauch, der den Abend ankündigte. Sie sollte vielleicht langsam aufbrechen, bevor es feucht würde, und das Klettern dadurch gefährlicher.

Ihr Schweißband, in dem Omantra wohnte, wurde warm. Das tat es, wenn Omantra ein Gespräch eröffnen wollte, weil Myrie sich erst darauf einstellen können wollte.

“Omantra?”, sagte sie.

“Du hast großes Interesse an den Naturwissenschaften. Du wirkst da sehr wissbegierig. Womöglich kann eine KI dir auf dem Gebiet nicht alles beibringen, was du wissen möchtest und du stellst irgendwann Fragen, die noch keiner beantwortet hat.”

Omantra machte eine Denkpause für Myrie und sprach dann weiter:

“Es wäre daher sinnvoll für deine Ausbildung, wenn du doch einmal eine Schule besuchen würdest.”

“Eine Schule.”, wiederholte Myrie misstrauisch.

“Eine spezielle Form der Lerngemeinschaft.”

“Nein.”, sagte Myrie barsch. Omantra hatte etwas Derartiges nicht zum ersten Mal vorgeschlagen. Das erste Mal, als die KI das vorgeschlagen hatte, hatte Myrie auch eine Virtualität besucht, in der sie mit drei anderen zusammen lernen sollte. Und es war hoffnungslos gescheitert. Wie immer.

Allerdings hatte sich die Argumentation verändert. Damals hatte Omantra gemeint, soziale Kompetenzen seien ein erwünschter aber nicht notwendiger Teil einer Ausbildung. Sie solle es ausprobieren. Nun klang es so, als ob…

“Du meinst, es hat eine andere Notwendigkeit, als früher? Du meinst, ich kann irgendwann nicht mehr weiter lernen, ohne andere?”

“Ja und nein. KIs haben einen gewissen Wissensstand, der begrenzt ist, vor allem, was die Erforschung der Natur und Technik angeht. Möchtest du darüber hinaus etwas erfahren, so musst du es selbst durch Nachdenken herausfinden, oder du bist auf andere Methoden angewiesen. Du kannst KIs zwar zur Hilfe nehmen, aber es kann dir keine KI erklären, wie genau. In dem Fall müsstest du folglich entweder ganz allein auf Ideen kommen, oder welche mit anderen Leuten entwickeln. Es gibt nur sehr wenige, die es allein schaffen. Daher lege ich dir ans Herz eine Schule auszuprobieren.”

“Was ist das besondere an einer Schule, was grenzt sie von einer allgemeinen Lerngemeinschaft ab?”, fragte Myrie.

“Eigentlich nur, dass sich die Lernenden auch physisch an einem Ort befinden, und sich nicht nur in Virtualitäten treffen. Das hat den Vorteil, dass manche Sicherheitsvorkehrungen unter Aufsicht fallen gelassen werden können und die Natur gemeinsam entdeckt werden kann.”

“Das klingt eigentlich spannend. Aber fremde Leute und ich, das ist immer schlecht.”, überlegte Myrie.

“Das ist auch für die anderen eines der Lernziele. Du hast es lange nicht mehr probiert. Kinder in deinem Alter sind jetzt, wie du, älter, und womöglich besser darin, zu akzeptieren, dass du nun mal bist, wie du bist.”

Omantra gab Myrie erneut Bedenkzeit. Myrie hatte es tatsächlich lange nicht mehr probiert. Und als Ahna so alt war, wie sie jetzt, war Ahna auch schon lieb und Myrie war mit ihr ausgekommen. Glaubte Myrie. Sie fragte sich, wie alt sie eigentlich gerade war.

Auf der anderen Seite lag das gute Verhältnis zu Ahna vielleicht auch gar nicht am Alter, sondern eher daran, dass Ahna ihre Schwester war.

“Ob Ahna mitkommen würde?”, überlegte Myrie.

“Wahrscheinlich eher nicht. Und wenn doch, so würde sie wahrscheinlich in andere Gruppen kommen, weil sie schon viel mehr gelernt hat als du. Ahnas Interessen sind außerdem auch andere als deine und daher würde sie wahrscheinlich nicht auf eine Schule mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt gehen wollen.”

Das stimmte. Ahnas Interessen waren eher künstlerischer Natur. Sie modellierte gern Virtualitäten, in denen man durch bunt gemusterte, geometrische Strukturen ging. Dazu arbeitete sie viel mit Farben und Symmetrien. Die sich ergebenen Virutalitäten bezeichnete sie als Kaleidosphären. Kaleidosphären war eine allgemeine Bezeichnung für dreidimensionale geometrische Kunstwerke, die sich manchmal ineinander drehten und neue Muster ergaben. Ahnas Virtualitäten waren eher statisch. Manche dieser Virtualitäten, die Ahna modellierte, waren weiß mit schwarzen Umrandungen und man konnte die Wände streicheln und sie wurden dabei bunt. Myrie wanderte oft abends vor dem Einschlafen durch Ahnas Entwürfe, wählte Farben und tastete die Wände ab. Besonders gut gefielen ihr die Kaleidosphären, deren verschiedene Oberflächen sich auch verschieden anfühlten. Haptik war das Wort dafür, wie sich etwas anfühlte, hatte sie gelernt. Das gefiel ihr gut.

Kaleidosphären hatten etwas angenehm Entspannendes an sich, fand Myrie.

“Aber vielleicht ist da jemand wie Ahna.”, sagte sich Myrie hoffnungsvoll.

“Vielleicht. Oder eine Person, mit der du eine Austauschebene findest, die du bisher noch nicht kennst und die dir gut tut.”, ermutigte Omantra. “Manchmal fällt es dir aber auch schwer, dich auf Neues einzulassen. Deine Ängste führen manchmal dazu, dass du vorsichtshalber direkt davon ausgehst, abgelehnt zu werden. Wenn auf dich Personen nicht von Anfang an interessiert zugehen, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie etwas gegen dich haben. Denk daran, dass auch du ein bisschen gebraucht hast, um dich an Oma Lorna ohne Bart zu gewöhnen.”

“Aber auch, wenn ich diese Zeit brauchte, um es schön zu finden, war ich doch nie gemein zu ihr.”, platzte es aus Myrie heraus.

Ein unangenehmes Gefühl stieg in ihr auf. Es war stark und schrecklich und Myrie konnte es weder einordnen noch kontrollieren. Sie kreuzte die Arme vor der Brust und griff sehr fest mit den Händen ihre nackten Schultern. Es tat nicht weh und dazu war es auch nicht gedacht. Es half.

“Darum geht es mir nicht.”, antwortete Omantra. “Wenn jemand gemein zu dir ist, musst du das nicht tolerieren. Du darfst dich dann wehren, und wenn du dich nicht wehren kannst, eine Person, zum Beispiel mich, um Hilfe bitten.”

Omantra pausierte einen Augenblick, in dem Myrie sich von ihren Gefühlen von eben erholen konnte. Myrie war tatsächlich in der Vergangenheit nicht so gut darin gewesen, sich zu wehren. Sie hatte oft auch nur verstanden, dass sie geärgert worden war, aber nicht, was es bedeutet hatte, was die Mitlernenden damals gesagt hatten, um es zu tun. Das machte die Sache schwieriger und gleichzeitig nicht weniger verletzend.

“Du vermutest aber auch häufig von vornherein, wenn Personen genervt sind, dass es sich gegen dich richtet. Oder wenn du einen Fehler gemacht hast, dass dich deswegen Leute nicht mehr akzeptieren würden.”, fuhr Omantra fort. “Deine Angst vor Ablehnung, die ja durchaus in deiner Vergangenheit begründet ist, ist in stressigen Situationen manchmal so groß, dass du schnell etwas auf dich beziehst und dir sehr zu Herzen nimmst, selbst wenn du überhaupt nicht negativ wahrgenommen wirst.”

Myrie brauchte dieses Mal eine sehr lange Zeit, um diese Worte in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Vielleicht hatte Omantra recht. Eigentlich hatte Omantra fast immer recht. Aber wenn Omantra in diesem Fall recht hatte, dann würde es sicher sehr anstrengend werden. Sie müsste quasi jedes Mal, wenn sie dachte, jemand hätte etwas gegen sie, erst einmal abwarten und tief durchatmen und dann überlegen, ob es wirklich so war. Etwa, wenn jemand bemerkte, dass sie ja gar keinen Bart hätte, oder dass sie komisch aussähe, dann war das vielleicht gar nicht gemein. Aber es erinnerte sie daran, dass auch Leute das gesagt hatten, die das gemein gemeint hatten.

Myrie atmete mehrfach tief ein und aus. Selbst das Durchspielen in ihrem Kopf strengte sie an.

“Und du meinst, dass es sich lohnt? Bist du sicher?”, fragte sie etwas atemlos.

“Sicher ist so etwas nie. Die Statistiken lassen vermuten, dass du am Ehrenberg-Internat gute Chancen hast, ein oder zwei Herzwesen zu finden. Wenn es funktioniert, bin ich davon überzeugt, dass eine Freundschaft etwas sehr Gutes für dich ist.”

Herzwesen, dachte Myrie. Eine Person wie Ahna. Aber vielleicht eine, die mit ihr durch die Berge spazierte und kletterte. Oder jemand, wie Omantra, nur mit einem Körper zum Anfassen. Das hätte vielleicht was. Eine Person, die sie in den Arm nahm, wenn sie traurig war, wie ihr Papa, nur jünger vielleicht. Sie hatte sich schon ab und zu mal eine andere Person in ihrem Leben gewünscht, die ein bisschen war wie sie. Aber andere, die halb Zwerg und halb Ork waren, waren ihr nicht bekannt. Auch über das Internet ließ sich so jemand nicht finden. Naja, sie konnte man auch nicht über das Internet finden, oder zumindest nicht den Fakt, dass ihre Mutter ein Ork gewesen war. Vielleicht gab es ja doch noch eine Person, die in dieser Hinsicht war wie sie. Oder irgendein anderes seltsames Wesen, dass auch nicht zu anderen passte. Eine plötzliche Welle von Mut durchströmte Myrie und seltsamer Weise direkt vermischt mit großer Angst.

“Okay, ich probiere das, denke ich.”

“Ein weiteres Problem, das du bedenken solltest, ist der örtliche Abstand zu deiner Familie. Ich erwähnte bereits, dass du physisch mit anderen Leuten zusammen sein wirst. Dazu musst du physisch von deiner Familie fort. Natürlich könntest du jederzeit beschließen nach Hause zu fahren, aber die Fahrt braucht gut 5 Stunden vom Ehrenberg-Internat nach Byrglingen und es gibt nur alle zwei Tage eine direkte Zugverbindung. Du würdest dann also Unterricht verpassen und das ist nicht gern gesehen. Aber zum Beispiel im Fall, dass es dir nicht so gut geht, ist das natürlich immer in Ordnung.”

Zunächst verwarf Myrie die Idee spontan wieder, das zu probieren. Dann aber überlegte sie, dass sie auch schon die ein oder andere Nacht im Gebirge verbracht hatte, und ihr das nichts ausgemacht hatte, Ahna und ihren Papa erst am Tag darauf wiederzusehen.

“Ich kann aber am Wochenende nach Hause fahren?”, fragte Myrie vorsichtshalber.

“Jedes Wochenende, wenn du willst. Es gibt auch ab und an Wochenendausflüge mit Lerngruppen, aber für diese meldet man sich gesondert an oder ab, und wenn du dich nicht anmeldest, erwartet niemand von dir, dass du dabei bist.”

Also waren es maximal 5 Tage, die sie am Stück fern von der Familie aushalten musste. 4 Nächte. Und eigentlich auch nicht musste, wenn sie es zu schlimm fand, dann konnte sie das ja trotzdem abbrechen. Sie überlegte zwar, wenn sie sich unbeliebt machte, wenn sie zwischendurch wegfuhr, obwohl sie das nicht sollte, dass sie hinterher sicher so gemein zu ihr sein würden, dass sie das ganz abbrechen würde, aber dennoch nahm es ihr etwas Angst, diese Sicherheit, dass sie jederzeit alles abbrechen konnte.

Ihr Herz raste von dieser Vorstellung viel stärker, als durch die Anstrengung vom Klettern. Omantra an ihrem Unterarm maß auf ihren Wunsch permanent ihren Puls und Blutdruck und empfahl nun ein paar entspannende Atemübungen mit geschlossenen Augen. Das half. Als sie die Augen wieder öffnete, spürte sie die kalte Luft auf ihren Augäpfeln und ihre Arme zitterten immer noch leicht. Sie würde wohl noch ein wenig warten und den Vögeln beim Fliegen zuschauen, bevor sie wieder herabsteigen würde. Aber sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, ruhiger zu werden, da wurde viel zu früh ihr Schweißband wieder warm.

“Omantra?”, leitete sie das Gespräch ein.

“Deine Schwester Ahna ruft an.”

“Okay.”, Myrie seufzte.

“Schaffst du es in zwei Stunden zu Hause zu sein?”, fragte Ahnas Stimme, die nun in ihr Ohr übertragen wurde. Sie klang aufgeregt.

“In dreien, denke ich.”, überlegte Myrie. “Was ist denn los?”

“Ich habe eine Überraschung für dich!”, sagte sie und Myrie hörte deutlich ein Grinsen aus der Stimme. “Nichts Großes!”, fügte sie schnell hinzu, weil sie wusste, dass Myrie eher nicht so gut mit großen Überraschungen zurecht kam.


Myrie seufzte erneut, schaute nun das erste Mal, seit sie oben war, die Felswand hinab und überlegte sich eine Strategie, wieder herunter zu gelangen. Es war gar nicht so schwierig. Sie konnte sich mit geschickt angebrachten Haken und ihrem Kletterseil einfach abseilen. Der Teil des Aufstiegs, der einfacher gewesen war, stellte sich beim Abstieg wesentlich schwieriger heraus, aber das war für sie nichts Neues. Von den nicht senkrechten Hängen konnte sie sich eben nicht einfach so abseilen. Sie sicherte sich natürlich auch hier gut ab. Wäre sie hier einfach heruntergerutscht, so hätte sie sich an mehreren Felskanten sicher mächtig geschnitten. Sie legte die Strecke zügig zurück. Ihr Körper sehnte sich nach der langen Pause nach Anstrengung und sie fühlte sich sagenhaft gut, wenn sie so erlebte, wie viel Kontrolle sie über ihn hatte.

Mit ihrer Schätzung lag sie ganz gut. Nach zweieinhalb Stunden hatte sie den steilen Part des Berges hinter sich gelassen und konnte nun den Rest der Strecke an der Glukka entlang zum Dorf wandern. Aber sie tat es nicht sofort. Sie legte eine Pause ein, um ihre Ausrüstung im Bach zu reinigen, ordentlich zusammen zu legen, zu stecken oder zu falten und in ihren Hosen- und Westentaschen an die richtigen Stellen zu verstauen. Dann wusch sie sich noch selbst. Das Wasser war noch eisig kalt, aber Myries aktiver Kreislauf wärmte sie rasch wieder auf.


Als sie endlich das Dorf erreichte, begann es zu dämmern. Als sie in den Holzweg einbog, stieg ihr ein herzhafter, unsagbar guter Duft in die Nase und sie fragte sich, warum sie bislang nicht bemerkt hatte, wie hungrig sie war. Noch dazu kam dieser sagenhafte Geruch aus dem Haus ihres Papas, aus dem offenen Küchenfenster. Myrie rannte das letzte Stück leichtfüßig zum Fenster und schwang sich über die Fensterbank. Ihre Schwester stand am Drucker und bediente einen Touchscreen.

“Du bist zehn Minuten zu früh, ich bin erst gleich fertig!”, sagte sie beinahe etwas enttäuscht, ohne aufzuschauen.

Ihr Gesicht war hochkonzentriert, während ihre Finger über die Folie wischten. Dampf quoll aus dem Drucker hervor und durch die beschlagene Verglasung konnte Myrie gerade so sehen, wie die Schläuche mit den Tuben an ihren Enden eine Art bunten Zylinder zusammendruckten, der viele geometrische Vertiefungen hatte. Es war wie eines von Ahnas Kaleidosphären, dachte Myrie, nur aus Essen. Und dem Geruch nach zu urteilen hatte Ahna obendrein eine fantastische Geschmackskombination gewählt.

“Du solltest dazu dringend eine Kochdruckvorlage bauen und speichern, schätze ich.”, murmelte Myrie andächtig.

Ihr Magen tat geräuschvoll kund, dass er mit der derzeitigen Platzierung des Essens außerhalb von ihm unzufrieden war.

Ahna lächelte über Myries Bemerkung. Schließlich drehte sie sich um und umarmte die Schwester.

“Alles Gute zum Geburtstag, Myrie.”, flüsterte sie Myrie ins Gesicht.

“Oh, ich habe Geburtstag? Wie alt werde ich denn?”

“Verpeilt, wie immer. Du wirst 11. Leider muss sich dein Magen noch ein wenig gedulden, das muss noch etwas garen.”

“Höre ich da die Stimme meines Geburtstagskindes?” Ihr Papa hatte den Weg aus der Werkstatt in die Küche gefunden und auch er umarmte Myrie.

“Das nicht durch die Tür gekommen ist anscheinend.”, brummelte er noch.

“Papa, ich möchte noch einmal eine Lerngemeinschaft ausprobieren und zwar eine Schule.”, verkündete Myrie.

Ihr Papa hielt in der Bewegung der Umarmung inne. Myrie drückte sich frei, um in sein Gesicht zu sehen. Es wirkte nicht freudig, sondern beinahe besorgt, dachte sie. Er nickte langsam.

“Vielleicht ist das gut. Ich kann das nicht so gut einschätzen, aber wenn du das möchtest, dann darfst du das natürlich.”, sagte er schließlich.

“Ist eine Schule nicht eine Lerngemeinschaft, die örtlich in der Realität von uns getrennt ist?”, fragte Ahna.

Myrie nickte.

“Du verlässt uns?”, fragte sie schockiert.

“Aber nein! Also schon, für jede Woche, aber jedes Wochenende komme ich wieder!”, rief Myrie erregt.

“Ich würde ja vermuten, dass du entweder länger als ein halbes Jahr durchhältst und uns spätestens dann nur noch an einigen Wochenenden und in den Ferien besuchen kommst, oder dass es nach spätestens einem halben Jahr so schrecklich ist, dass du gar nicht mehr dort hin möchtest.”, überlegte ihr Papa.

Das verwirrte Myrie. Wieso sollte sie irgendwann nicht mehr jedes Wochenende nach Hause wollen. Die zweite Möglichkeit kam ihr natürlich bekannt vor. Und sie liebte ihren Papa dafür, dass er so etwas unverhohlen aussprach.

“Und es ist keine Schande, wenn du schon nach einer Woche beschließt, dass du nie wieder da hingehen möchtest. Oder nach einem Tag. Niemand hier schimpft, das möchte ich dir versprechen. Aber wenn du wirklich wissen möchtest, ob es etwas für dich ist, empfehle ich dir doch, wenn es nicht ganz furchtbar grässlich ist, ein oder zwei Monate auszuprobieren. Du brauchst oft lange, um dich an etwas zu gewöhnen. Selbst wenn du etwas am Ende wirklich gern hattest, hattest du am Anfang oft damit Schwierigkeiten. So ging es dir mit den meisten Virtualitäten und so wird es dir vermutlich auch mit der Schule gehen.” Seine Gedanken hatten gewisse Ähnlichkeiten mit dem, was auch Omantra schon gesagt hatte, fand Myrie.


Die nächsten Tage waren aufregend, nicht unbedingt positiv aufregend. Zunächst ging sie ihre Entscheidung noch einige Male abwechselnd mit Omantra, Ahna und ihrem Papa durch, ob sie sich sicher war. Aber es war meist so, dass sie bei einer Entscheidung blieb, wenn sie sie erst einmal gefällt hatte und so auch dieses Mal.

Dann klärte ihr Papa Formalitäten. Es waren nicht viele, immerhin. Myrie musste lediglich die Hausregeln des Ehrenberg-Internats akzeptieren, Fächer aus einer Liste auswählen und angemeldet werden. Abgesehen davon bekam sie einen Plan der Schule und des Schulgeländes und einen Termin, an dem es losging. Omantra buchte für sie eine Zugverbindung, die am Abend vorher im Ehrenberg-Internat eintreffen würde und auch das fand Myrie sehr spannend. Der Bahnhof von Byrglingen lag fast zwei Dekameter unterhalb des Dorfes. Myrie war schon oft dort gewesen, um Züge zu beobachten, die leise durch den Tunnel glitten, und um für ihren Papa die ein oder andere Bestellung recycletes Holz abzuholen. Aber mit einem Zug gefahren war sie noch nie.

“Du musst lediglich vor der Abfahrtszeit am Bahnhof sein, wie zum Abholen einer der Bestellungen. Nur dass du dann einsteigst und den Anweisungen folgst, welche Kapsel oder Kapseln dein Ziel anfahren.”, sagte Omantra und versicherte: “Da ich die Reise gebucht habe, wird es mindestens eine Kapsel geben, die dort hinfährt, aber da ja mehrere Lernende dort hinfahren werden, könnte es auch ein paar mehr geben. Vielleicht triffst du sogar zukünftige Mitlernende im Zug.”

“Ich hätte lieber eine Kapsel für mich.”, grübelte Myrie. “Es reicht sicher, wenn ich mich erst dort versuche mit anderen anzufreunden.”

“Wenn du ablehnst, wenn andere sich zu dir setzen wollen, könnte es auch als unhöflich aufgefasst werden, oder du als unnahbar, was du ja vielleicht bist. Aber wenn du Freundschaften schließen möchtest, empfiehlt es sich vielleicht, so offen wie möglich auf Anfragen zu reagieren. Natürlich nur, wenn es dich nicht zu sehr stresst.”

Aber es stresste sie bereits der Gedanke. Dennoch nahm sie sich Omantras Worte sehr zu Herzen und versuchte sich darauf einzustellen, ihre Angst vor anderen sie nicht überwältigen zu lassen. Jede Nacht übte sie beim Einschlafen im Geiste anderen gegenüber freundlich zu sein, vielleicht sogar sie anzusprechen. Meist klappte es anfangs ganz gut, aber sobald sie anfing die Kontrolle über die Szenarien zu verlieren, weil sie allmählich wegdämmerte, verwandelten sich die Situationen immer ganz fürchterlich. Die vorgestellten anderen ignorierten sie dann, oder verspotteten sie, oder empfanden irgendeine Eigenart von ihr als ein No-Go. Eines nachts fiel ihr siedend heiß ein, dass sie ja wenig Haar hatte und das im Internat kaum verbergen konnte. Sie rannte zu ihrem Papa ins Bett und entgegen ihrer Eigenart, Entscheidungen üblicherweise nicht umzustoßen, teilte sie ihm mit, dass sie doch nicht ins Internat wollte, und ob man das noch rückgängig machen könnte. Ihr Papa nahm sie in den Arm und sagte beruhigend “natürlich”. Aber meinte, sie solle noch bis morgen warten. Vielleicht hätte sie am nächsten Morgen eine andere Meinung. Myrie schlief in seinen Armen, wo es warm und geschützt war, wo sie immer sicher war, dass die Behaarung keine Rolle spielte, und am nächsten morgen hatte sie tatsächlich neuen Mut. Und sie gab auf, sich Szenarien im Kopf zu konstruieren. Sie hatte es lange genug probiert, um nun daran zu glauben, dass sie eigentlich auch gar keine realistischen Szenarien sich auszudenken in der Lage war.


Der Abfahrtstermin lag Ende des Sommers und sie genoss den Sommer in vollen Zügen. Sie verbesserte ihre Kletterfähigkeiten und trainierte ihren Körper noch gezielter. Sie übte außerdem ausgefeilter an den Fallübungen, die sie auf Anraten Omantras ins Programm aufgenommen hatte, seit sie das erste Mal auf einen Baum geklettert war. Sie hatten ihr schon das ein oder andere Mal gute Dienste geleistet.

Sie las die Hausregeln gründlich und lernte die Karte weitestgehend auswendig. Die Liste der Hausregeln beinhaltete nur wenige strikte Anweisungen und eine lange Aufzählung an Verhaltensregeln, die erwünscht aber nicht notwendig waren. So etwa wurde Unpünktlichkeit als störend empfunden, aber es gab keine Verwarnungen oder Strafen, schlimmsten Falls böse Blicke, wenn man nicht eine gute Begründung hatte.

Aber was waren gute Begründungen, fragte sich Myrie.

Zu den wenigen fixen Regeln, auf deren Übertretung eine Verwarnung, oder nach mehrfacher Verwarnung ein Verweis folgen konnte, gehörte, dass der angrenzende Wald und der Berg, neben dem die Schule stand, nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis durch eine Lehrkraft betreten werden durfte. Ein 2,5 Meter hohes Gitter begrenzte den Bereich, auf dem Lernende sich frei bewegen durften. Auch das Betreten der Experimentierräume war nur mit ausdrücklicher Erlaubnis durch eine Lehrkraft erlaubt.

Und dabei blieb es. Nun ja, natürlich musste man sich an die allgemeinen Landesgesetze halten. Zum Beispiel war physische Gewalt an anderen verboten, sofern nicht im Einverständis oder aus Notwehr. Aber das stand nicht noch einmal extra aufgelistet in der Hausordnung.


Am Tag vor Myries Abfahrt druckte Ahna ihren Geburtstagskuchen noch einmal. Ahna wirkte niedergeschlagen und Myrie konnte das verstehen. Auf der anderen Seite war sie aber so aufgeregt, dass in ihr kein Platz war, zusätzlich auch noch selbst niedergeschlagen zu sein.

Der Kuchen war eigentlich mehr eine Hauptspeise, aber Ahna hatte ihn Myries Geburtstagskuchen genannt. Myrie aß meistens lieber herzhaft als süß und gern Geschmäcker getrennt voneinander. Und Ahnas Kuchen war dafür ausgelegt. Er hatte verschiedene Bereiche, die jeweils einfarbig waren und eine eigene Konsistenz hatten und einen eigenen Geschmack. So ließ sich ein saftgrüner, weicher, cremiger Bereich wunderbar aus einem roten, schaumig festen herauslöffeln. Und das tat Myrie auch. Sie entschied sich immer für eine Farbe und aß diese auf, ohne eine andere anzurühren. Und sie fragte sich, wann sie wohl das nächste Mal etwas so Wunderbares essen würde und was es in dem Internat wohl gab und ob das auch so gut trennbar war.