Die Ruhe des Flusses

Sie wachte mit Kopfschmerzen auf und das Dämmerlicht, dass durch das Fenster hereinfiel, verriet ihr, dass sie viel zu spät dran zum morgendlichen Training mit Olge war. Sie fragte sich, warum sie nicht schon vorher wach geworden war, und stellte fest, dass ihr Schweißband immer noch nicht wieder an ihrem Handgelenk war. Es fühlte sich unkomfortabel an, ohne es herumzulaufen, sehr ungewohnt. Aber Merlin, der am ehesten wusste, wo es war, weil es ja zuletzt an seinem EM-Anzug gesteckt hatte, schlief noch, als sie sich vom Bett herabließ. Die Bewegung und Anspannung der Muskeln hatte einen stechenden Schmerz in ihrer linken Schädelhälfte zur Folge, und sie schloss die Augen und verharrte unten angekommen einen Augenblick regungslos. Dann zog sie sich an und ging zum Baum, an dem sie meistens Training hatte. Aber Olge war nicht da. Sie hatte allerdings auch keine Nachricht hinterlassen.

Also leitete Myrie ein Telefonat an Olge ein, unglücklich darüber, dass sie es durch Sprechen tun musste, weil das Schweißband nicht da war, um ihre Gebärdensprache zu lesen.

“Guten Morgen, Myrie! Bist du doch noch da?”, fragte Olge in ihr Ohr.

Es war viel zu laut. Reflexartig machte Myrie die Gesten, um die Lautstärke herunterzuregeln.

“Ja.”, murmelte sie.

“Ich dachte schon, sie hätten dich Lantag Abend vielleicht rausgeworfen und du hättest dich zu schlecht gefühlt, um Bescheid zu sagen, als du heute morgen nicht kamst.”, sagte Olge und Myrie musste feststellen, dass natürlich auch die Geste keinen Effekt gehabt hatte. Olge war immer noch zu laut. “Warte, ich komme.”

Sie sagte es sachlich, als wäre nichts dabei, hätte man sie tatsächlich rausgeworfen, und das traf Myrie auf unangenehme Weise. Sie machte sich klar, dass das Unsinn war, davon getroffen zu sein, und dass sie gerade einfach sehr empfindlich war.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Olge auftauchte. Statt mit dem Training zu beginnen, musterte sie Myrie zunächst eindringlich.

“Du siehst aber so aus, als hätten sie dich rausgeworfen.”, stellte sie fest.

“Ich habe nur Kopfschmerzen. Gestern Abend wurde noch lange verhandelt. Heute Abend geht es weiter.”, erklärte Myrie stockend.

Es tat alles weh, jede Bewegung, selbst die durch das Sprechen, zog in ihren Kopf und schmerzte dort. Sie hätte das Training vielleicht abgesagt, wenn Olge nicht anfangs so strikte Anweisungen dazu gegeben hätte, dass sie es höchstens einmal versäumen dürfe. Vielleicht war auch ein guter Zeitpunkt, dass heute dieses eine Mal wäre, aber was, wenn es ihr morgen früh nach weiteren Verhandlungen heute Abend nicht besser ginge.

Olge trat auf Myrie zu und Myrie stellte sich in Verteidigungsposition. Sie runzelte die Stirn, weil sie sonst mit Aufwärmen anfingen, aber das Stirnrunzeln sorgte für eine weitere Schmerzattacke und sie verzog die Stirn, schloss die Augen und drückte mit dem Daumen gegen ihre Nase.

Sie spürte, wie Olge sie mit kalten Händen im Schulterbereich anfasste und mit ihrem einen Arm ihre rechte Schulter über ihren anderen nach hinten zog. Es war keine Kampfübung, stellte Myrie fest, Olge dehnte einfach ihren Körper. Nach der einen ging sie zu ihrer anderen Schulter über. Sie war nicht vorsichtig sondern kontrolliert, wie immer.

“Ich weiß, warum ich keine Angst davor habe, dass du mir die Nase blutig schlägst.”, fiel Myrie ein.

“Und?”, fragte Olge.

“Du machst jede Bewegung kontrolliert. Alles wirkt geplant. Ich habe nicht den Eindruck, dass du planst, mir die Nase blutig zu schlagen.”, erklärte Myrie.

“Ich verliere manchmal die Beherrschung.”, sagte Olge ohne ihre sonst oft übliche Härte in der Stimme. “Aber es ist lange nicht mehr vorgekommen, das stimmt. Und es gibt Vorboten. Wahrscheinlich meinst du, du würdest erst Angst bekommen, wenn du merken würdest, wie ich sie verliere.”

“Ja.”, bestätigte Myrie.

Ihr kam die Antwort zu einfach und unpräzise vor, aber sie konnte gerade nicht genauer darüber nachdenken.

Olge dehnte sie noch auf manche andere Art und die Kopfschmerzen wurden allmählich weniger schlimm.

“So. Und nun gehst du auf die Krankenstation. Training fällt heute aus.”, befahl Olge, als sie fertig war.

“Ist es dann das eine Mal, und wenn ich nochmal nicht komme, wird das Training abgebrochen?”, fragte Myrie.

“Natürlich nicht. Wenn du krank bist oder schlimme Schmerzen hast, dann ergibt Training eh keinen Sinn.”, antwortete Olge. “Und nun ab.”


Myrie schleppte sich in die Krankenstation. Ihr Rücken fühlte sich zwar entspannter an als zuvor, aber das Licht auf den Fluren brannte in ihren Augen, fühlte sich so an, als würde eine Stange durch ihre Netzhaut und in den Kopf dahinter geschlagen. In der Krankenstation empfing sie ein freundlicher Dunkelelb, leitete eine Untersuchung durch die Medizinroboter der Schule ein und ordnete an, dass sie die ersten zwei Unterrichtseinheiten über entschuldigt sei und hier bleiben dürfe. Er gab auch Henne Lot und Ara Seefisch Bescheid, bei denen sie Mathematik und Physik gehabt hätte. Roboter fuhren über ihre Haut, um ihre Nerven zu lokalisieren und steckten dann feine Nadeln in ihren Körper, während sie in einem abgedunkelten Raum bei offenem Fenster lag. Dunkle, aber leichte Vorhänge wehten davor sachte im Wind hin und her. Myrie fühlte sich trotzdem nicht wohl hier, vor allem, weil es ihr fremd war, und sie kein Gefühl dafür hatte, wo sie sich eigentlich im Gebäude befand, aber die Behandlung half und als der Schmerz nachließ, schlief sie erschöpft wieder ein.

Als sie aufwachte, hatte sie großen Hunger. Die Roboter und ihre Nadeln waren verschwunden. Sie richtete sich vorsichtig im Bett auf und fragte sich, ob sie einfach gehen dürfte, oder ob sie sich abmelden müsste. Sie öffnete leise und vorsichtig die Tür und spähte auf den Gang. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre sie krank gewesen oder als hätte sie sich längere Zeit körperlich zu sehr belastet.

Sie ging den Gang in beide Richtungen ab, bis er abbog, aber konnte niemanden entdecken. Ratlos blieb sie stehen. Sie hätte Omantra fragen können, aber dazu hätte sie in die Stille sprechen müssen und sie fürchtete sich davor.

Als sie gerade überlegt hatte, vielleicht den Gang noch einmal abzugehen und die Schilder an den Türen zu lesen in der Hoffnung, dass auf einem etwas hilfreiches Stand, hörte sie Schritte auf dem Gang hinter der Biegung. Sie erkannte den Dunkelelben, als er um die Ecke bog, der sie schon behandelt hatte, als sie hier hergekommen war. Er musterte sie aufmerksam.

“Schwächegefühl?”, fragte er.

Myrie nickte.

“Aber keine Schmerzen.”, vergewisserte er sich.

Myrie nickte wieder.

“Gerade läuft deine zweite Unterrichtseinheit. Du kannst da verspätet hinzustoßen, oder dich weiter ausruhen. Auch in der letzten Unterrichtseinheit würde ich dir anbieten weiterzugeben, dass du noch mehr Ruhe brauchst, wenn du möchtest.”, sagte der Dunkelelb. “Und du kannst dir die Ruhe auch gern in deinem Zimmer nehmen.”

Sie hatten Zeichnen und Malen bei Lyria Rune in ihrer letzten Unterrichtseinheit heute, fiel Myrie ein und sie schüttelte den Kopf. Der Dunkelelb lächelte und wich zur Wand aus, damit sie an ihm vorbeigehen konnte, ohne ihn zu berühren.

“Pass auf dich auf.”, sagte er sanft.


Myrie überlegte kurz, ob sie noch die restliche Physikstunde mitmachen wollte, aber sie konnte sich gerade nicht vorstellen, dass sie aufnahmefähig genug wäre, dass es ihr etwas bringen könnte. Daher ging sie in ihr Zimmer zurück, dass sie natürlich leer vorfand. Sie öffnete das Fenster und kletterte auf ihr Bett. Auf ihrem Kissen lag ihr Schweißband. Dankbar schob sie es über ihr Handgelenk und legte sich auf den Rücken. Sie war erstaunt darüber, wie wohl sie sich nun fühlte. Das Zimmer war so gewohnt, dass es schon das Gefühl eines zu Hauses mit sich brachte, hier zu sein, und das obwohl sie hier meistens nicht allein war.

“Hallo Omantra.”, formte sie mit der Hand.

“Guten Tag.”, antwortete Omantra. “Du hast dein Schweißband wieder.”

Myrie stimmte mit der Hand zu. Sie sprach Omantra eigentlich nie ohne Anlass an, aber sie hatte einfach so lange nicht mehr länger mit der Lern-KI gesprochen, dass ihr diese kurze Unterhaltung gerade wichtig war. Dann fragte sie sich, was sie nun fragen könnte, und es fiel ihr nicht schwer, sich etwas auszudenken. “Was ist das Spiel?”, formte sie.

“Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Es ist ein unter dem Namen ‘Das Spiel’ bekannter Wettkampf mit sehr vielfältigen Disziplinen und komplexen Regeln und zugleich eine Kulturveranstaltung mit einer großen Gemeinschaft an Unterstützenden und davon Begeisterten.”, erklärte Omantra. “Hast du spezifischere Fragen?”

“Ich habe eine Teilnahmeurkunde gefunden.”, sagte Myrie.

Sie wusste nicht, wie man Teilnahmeurkunde formte und es machte sie nervös, dass sie, wenn sie es richtig verstanden hatte, nun am Spiel teilnehmen würde, sodass sie sich überhaupt schwerer tat, sich an Gebärden zu erinnern.

“Das sind interessante Neuigkeiten.”, sagte Omantra.

“Was sind die schnellsten Folgen für mich, die nun auf mich zukommen?”, fragte Myrie.

“Erziehungsberechtigte für dich, in deinem Fall also dein Vater, werden gefragt, ob sie dich teilnehmen lassen, weil du minderjährig bist. Alternativ können sie auch entscheiden, dass die Teilnahmeberechtigung an sie übertragen wird.”, erklärte Omantra.

“Angenommen, Papa erlaubt es mir.”, sagte Myrie.

“Dann hast du in der Hand, ob du teilnimmst. Entscheidest du dich dagegen, verfällt der Platz in deiner Spielgruppe. War jemand dabei, als du sie gefunden hast?”, fragte Omantra.

“Sarina, Merlin und Daina. Sonst niemand.”, antwortete Myrie.

“Alle minderjährig vermute ich?”, fragte Omantra weiter.

“Ich nehme an.”, sagte Myrie. Natürlich wusste sie es nicht genau, “Sie sind alle in den meisten meiner Lerngruppen.”

“In dem Fall, dass sie minderjährig wären, würde für sie das Gleiche gelten. Es stehen 12 Plätze in jeder Spielgruppe zur Verfügung. 6 müssen dabei vor dem Start der zweiten Phase vergeben werden. Vier davon sind nun durch euch oder eure Erziehungsberechtigten vergeben. Zwei Personen müssen also noch mindestens für eure Spielgruppe gefunden werden. Dass sie belegt sind, heißt nicht, dass ihr das Spiel nicht jederzeit unabhängig voneinander für euch abbrechen könntet. Es heißt nur, dass die durch euch belegten Plätze nicht wiedervergeben werden können.”, fuhr Omantra mit den Erklärungen fort.

“Die zweite Phase?”, fragte Myrie.

“Das Finden der Urkunde ist die erste Phase des Spiels. Es folgt darauf die zweite.”, erklärte Omantra.

Myrie dachte über den Rest nach, den Omantra gesagt hatte. “Meinst du das etwa so, dass mit einer Urkunde eine leere Liste mit 12 Linien gegeben ist, und dadurch, dass Sarina, Daina, Merlin und ich sie gefunden haben, stehen wir vier nun auf vier Linien. Wenn wir uns dagegen entscheiden, teilzunehmen, wird unser Name gestrichen, aber weil auf der Linie schon einmal etwas stand, darf da kein neuer Name drauf geschrieben werden? Das ganze in abstrakt.”, versuchte Myrie zu verstehen.

“Genau.”, bestätigte Omantra.

“Und sechs Linien müssen vor dem Start der ersten Phase beschrieben werden.”, hielt Myrie noch einmal fest. “Was, wenn wir keine anderen finden?”

“Ihr bekommt einen festgelegten Zeitraum, um zu suchen und euch zu einigen. Über die Form der Einigung gibt es auch einige Regeln. Wenn ihr diesen Zeitraum überschreitet, werden zufällige Leute aus einer Menge von Bewerbenden gewählt. Manche Spielgruppeen einigen sich sogar von vorn herein darauf, solche in die Spielgruppe aufzunehmen, aber das kommt selten vor.”, beantwortete Omantra die Frage.

“Angenommen also, ich entschiede mich dafür, teilzunehmen, und wir fänden auch genügend Leute für die Spielgruppe. Was passiert dann?”, fragte Myrie.

“Unabhängig davon, ob ihr eine Spielgruppe zusammensucht oder nicht, bist du zunächst erst einmal teilnehmend, solange du nicht aussteigst. Das versetzt dich, wie auch alle anderen Teilnehmenden, in eine rechtliche Sonderrolle. Du gehst dadurch einen Vertrag ein, dass du auf gewisse deiner gewöhnlichen Rechte verzichtest, vor allem Privatsphäre- und Freiheitsrechte betreffend.”, sagte Omantra.

“Hört sich gruselig an.”, fand Myrie.

“Das ist es. Du bekommst auf der Gegenseite auch indirekt Rechte. Zum Beispiel ist dir gestattet, andere Spielteilnehmende auszuspionieren. Diese Rechtsaufweichung findet nur zwischen Teilnehmenden statt. Wenn dich eine Person ausspioniert, die nicht am Spiel teilnimmt, begeht diese immer noch eine Straftat.”, fuhr Omantra fort. “Überleg dir daher gut, ob du teilnehmen möchtest. Sobald du dich dagegen entschiedest, in deinem Bild also, wenn dein Name gestrichen wäre, hättest du wieder deine üblichen Rechte und Pflichten.”

Myrie dachte daran, wie wichtig es ihr war, allein sein zu können. Auf der anderen Seite konnte sie sich gerade nicht vorstellen, wie ihr jemand ins Gebirge um Byrglingen folgen würde. Was würde es der Person nützen? Aber sie hatte gerade erst angefangen darüber nachzudenken. Oft wurden einem Dinge erst später klar, das wusste sie. “Kann ich jederzeit das Spiel abbrechen?”, fragte Myrie.

“An sich schon. Manchmal gibt es Verzögerungen wegen der technischen Möglichkeiten, zum Beispiel, wenn du keine Netzverbindung hast.”, sagte Omantra.

“Mit anderen Worten, wenn ich mich irgendwann unwohl fühlen sollte, weil jemand in meine Privatsphäre eindringt, dann kann ich abbrechen und die Person muss verschwinden.”, überlegte Myrie.

“Das kannst du tun. Allerdings versuchen Spielteilnehmende, wenn sie von den neuen Rechten Gebrauch machen, meistens dabei unbemerkt zu bleiben.”, gab Omantra zu bedenken.

“Hmm.”, sagte Myrie und überlegte kurz. “Das ist zwar mies, aber wenn ich es nicht merke, ist es solange auch nicht unangenehm.”

“Ich warne nur. Du solltest, solange du am Spiel teilnimmst, zum Beispiel das Weitererzählen oder Entgegennehmen privater Informationen mit Vorsicht genießen.”, sagte Omantra.

Myrie stimmte mit einer Gebärde zu.

Sie machte eine Pause vom Gespräch und lag eine Weile einfach still mit geschlossenen Augen auf dem Rücken, achtete auf ihren Atem und genoss, dass ihr nichts mehr weh tat. Dieses Gefühl nach den schlimmen Kopfschmerzen und nach dem anstrengenden Tag gestern war sehr schön. So schön, dass sie beinahe dachte, dass es den Preis wert gewesen wäre. Aber das war es nicht. Sie liebte zwar den Gefühlszustand, in dem sie sich jetzt befand, aber wenn sie sich hätte aussuchen können, derartige Kopfschmerzen zu kriegen, und anschließend durch diesen Zustand entlohnt zu werden, hätte sie sich dennoch dagegen entschieden.

Die Tür des Zimmers öffnete sich und Myrie drehte sich auf den Bauch und kroch zur Bettkante, um zu sehen, wer es war. Herein kamen Sarina und Hermen, und Daina wartete in der Tür und sah zu ihr hinauf.

“Ist es in Ordnung, wenn ich reinkomme?”, fragte sie.

Myrie nickte. Dabei stieß ihr Kinn auf ihren Unterarm, den sie darunter abgelegt hatte.

Daina kam herein und schloss die Tür hinter sich. Sie tat es leise und bewegte sich auch vorsichtiger als sonst. Dann setzte sie sich unterhalb von Myrie auf Merlins Bett in einen Schneidersitz und sah wieder zu ihr hinauf. “Merlin holt uns etwas zu essen. Dann kommt er auch.”, sagte sie.

“Im Wesentlichen ist es auch sehr kurz, was wir von dir wollen.”, sagte Hermen. “Dafür, dass ich am Spiel teilnehmen kann, bräuchten wir noch deine Stimme.”

“Und meine.”, ergänzte Sarina.

Daina und Hermen sahen ihn verwirrt an.

“Ähm. Ich wusste gar nicht, dass dich das Spiel interessiert.”, sagte Daina.

“Nun ja, ich war dabei, als die Urkunde gefunden wurde, also möchte ich auch mitmachen.”, gab Sarina zu verstehen.

“Also, du warst wohl dabei. Aber eigentlich hat Myrie die Urkunde allein gefunden.”, sagte Daina.

“Wenn du mir damit sagen willst, dass ich dadurch keine Teilnahmeberechtigung hätte, dann träfe das auf dich noch viel eher zu. Immerhin habe ich den schwarzen Halbmond entdeckt. Ohne Merlin wären wir erst gar nicht dort gelandet.”, erwiderte Sarina. “Ich würde folgern: Entweder ist nur Myrie dabei, oder wir vier, die dabei waren.”

Daina nickte, aber glücklich wirkte sie nicht darüber.

“Dann musst du Sarina wohl überzeugen. Vertrag ist Vertrag.”, wandte sich Hermen an Daina.

“Was auch immer ihr für einen Vertrag habt, hättest du ihn vielleicht zuvor mit uns anderen dreien absprechen müssen, bevor du ihn eingegangen bist, Daina.”, sagte Sarina. “Aber lass mal hören.”

“Es geht um Myries Rauswurf. Hermen wusste, dass es eine Sonderregelung gibt für das Brechen von Schulregeln, wenn das Finden einer Urkunde dabei passiert.”, erklärte Daina. “Ich ärgere mich, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin, diesen Zusammenhang zu sehen. Er sagte nur, er wisse, wie man Myries Rauswurf verhindern kann und er würde mir verraten wie, wenn ich eine Urkunde fände und dafür sorgte, dass wir ihn beim Spiel in unsere Spielgruppe aufnähmen. Ich habe einfach nicht geschaltet, dass es da einen direkten Zusammenhang gibt zwischen seinem Angebot und seiner Forderung.” Daina wirkte zunehmend verärgert. Sie lehnte sich an die Wand und sah wütend an die Decke.

“Pech gehabt, würde ich sagen.”, kommentierte Hermen.

“Wenn ich recht überlege,”, sagte Sarina nachdenklich, “hast du da einen Vertrag vorgeschlagen, den du womöglich gar nicht hättest einhalten können.”

“Wieso?”, fragte Hermen herausfordernd. “Sieht doch aus, als würde es klappen.”

“Nun, wenn Daina die Urkunde ohne Myrie gefunden hätte, zum Beispiel.”, schlug Sarina vor.

Daina sah ihn überrascht an. Darauf war sie anscheinend noch nicht gekommen.

“Sehr unwahrscheinliches Szenario.”, sagte Hermen. “Myrie war eigentlich immer dabei, wenn es vom Schulgelände ging. Wenn Daina vorgehabt hätte, eine Urkunde einzusammeln, hätte sie Myrie sicher mitgenommen.”

“Hätte ich eher nicht.”, widersprach Daina. “Ich hätte sie informiert und mich schlau gemacht, wie ich mich verhalten muss. Aber ich hätte nicht erneut riskiert, dass sie erwischt würde, und dann ihr Rauswurf sicher wäre.”

“Dann hättest du feststellen müssen, dass dir Fähigkeiten fehlen, um dort hinzugelangen, vermute ich. Oder war die Urkunde durch einen Spaziergang erreichbar.”, warf Hermen ein.

Myrie überlegte, dass dies eine sehr indirekte Anerkennung ihrer Fähigkeiten von Hermens Seite war. Daina schüttelte den Kopf.

“Dann wäre es darauf hinausgelaufen, dass du entweder nicht losgezogen wärst, die Urkunde zu suchen, was ich mir bei deinem Drang, am Spiel teilzunehmen, nicht vorstellen kann, oder aber, du hättest Myrie überredet mit dem Argument, dass ich da ein besagtes Angebot gemacht habe.”, kam Hermen zum Schluss.

Myrie erinnerte sich, dass es in etwa so gelaufen war. Allerdings hätte sie vielleicht abgelehnt, wenn sie das Schulgelände dafür erst hätte verlassen müssen. Sie wusste es nicht.

“Vielleicht hast du recht.”, gab Daina zu.

“Dann gäbe es noch das Szenario, dass Myrie das Gelände erneut aus einem anderen Grund verlassen hätte. So, wie es zum Beispiel gewesen ist, nur ohne, dass sie am Ende eine Urkunde gefunden hätte.”, schlug Sarina vor.

“Dann wäre da kein Angebot für mich, mit teilzunehmen, richtig?”, sagte Hermen.

“Oh, stimmt.”, antwortete Sarina. Er lehnte sich auf seinem Bett zurück und grübelte.

“Ich fände es nett, wenn ihr bald zum Schluss mit euren Ausweichideen kämt. Myrie ist noch an der Schule, richtig?”, gab Hermen zu verstehen.

“Was meinst du eigentlich dazu, Myrie.”, fragte Sarina gelassen.

“Ich denke, Vertrag ist Vertrag. Aber du hast schon recht, dass wir dich und Merlin hätten fragen müssen. Das ist eine ungünstige Zwickmühle.”, antwortete sie.

“Dann mache ich folgenden Vorschlag:”, sagte Sarina. “Du hast heute Abend noch ein entscheidendes Gespräch, wenn ich das richtig verstehe. Wenn das positiv ausfällt, und du tatsächlich bleiben kannst, ist er dabei. Sonst hat er seinen Teil des Vertrags nicht eingehalten.”

Myrie nickte, und auch von Daina kam Zustimmung. Hermen dagegen seufzte und legte sich auf sein Bett.

Die Tür ging auf und Merlin kam mit einem Stapel an essbaren Brotdosen herein, aus denen es leicht vor sich hindampfte und sehr appetitlich roch. Myrie erinnerte sich daran, dass sie schon auf der Krankenstation Hunger gehabt hatte. Er hatte für alle je etwas einzeln gedruckt und verteilte die Brotdosen nun. Zu unterst war Myries Mahlzeit, also bekam sie ihre Brotdose zuletzt.

“Du wusstest ja eigentlich gar nicht, dass ich da sein würde.”, sagte sie.

“Ach, wenn du nicht da gewesen wärst, hätten wir das eben unter uns verteilt.”, versicherte Merlin.

Sie begannen zu essen und wie so oft, brachte es ein kurzes Schweigen mit sich, das dann jemand unterbrach. In diesem Fall war es Daina.

“Ich wollte euch auch fragen, ob ihr einverstanden wärt, wenn Theodil Teil der Spielgruppe wird.”, schlug Daina vor. “Er ist ein liebes Herzwesen von mir. Er ist auch in stressigen Situationen gelassen und ruhig, kann gut mit Pfeil und Bogen umgehen und ist sehr erfahren darin, Rätselspiele zu lösen.”

Myrie überlegte kurz. Sie mochte Theodil. Sie kämen außerdem nicht darum herum noch mindestens eine weitere Person in der Spielgruppe zu akzeptieren, und Theodil schien dann eine ganz gute Wahl zu sein, besser zumindest, als eine fremde Person.

“Ich würde ihn gern zunächst zumindest kurz kennen lernen.”, sagte Sarina.

Merlin nickte. “Ich vertraue zwar deinen Einschätzungen, aber ich denke, ein Kennenlernen sollte immer so einer Entscheidung voraus gehen.”, sagte er. “Allerdings können wir bislang auch nur Vorentscheidungen treffen. Wir sind ja selbst nur dann dabei, wenn unsere Erziehungsberechtigten, das zulassen.”

“Meine habe ich schon vor langem gefragt und sie stimmen zu.”, sagte Daina überzeugt.

“Ich darf auch teilnehmen.”, sagte Sarina.

“Ich muss noch fragen.”, sagte Merlin.

Sie blickten nun Myrie an.

“Ich auch.”, sagte sie.

“Dein Papa ist doch gerade hier. Das kannst du ja zeitnah machen.”, sagte Daina.

Myrie nickte.

“Auf jeden Fall würde ich ein Treffen mit Theodil für mindestens Merlin und Sarina in einer Virtualität übermorgen Abend vorschlagen.”, sagte sie und wandte sich dann Myrie zu. “Vor unserem Etappenabenteuer. Du kennst ihn ja schon, aber du kannst gern auch dazu kommen, Myrie.”

Myrie legte sich wieder auf den Rücken, sodass sie von unten nicht zu sehen war. “Vielleicht.”, sagte sie zur Decke.

“Du musst es nicht jetzt entscheiden.”, beruhigte sie Daina.

Myrie bekam vage mit, wie Merlin und Sarina mit ihr eine konkrete Zeit ausmachten, und dass auch Hermen dabei sein würde. Er argumentierte, dass er hoffentlich ab heute Abend Teil der Spielgruppe sein würde, und daher seine Meinung dazu am Antag auch entscheidend wäre.

Myrie hörte dabei heraus, dass es wahrscheinlich so war, dass, wenn es möglich war, eine Aufnahme einer Person im Einverständnis mit allen zu beschließen, dass es auch so passieren musste. Sie würde Omantra dazu später einmal genauer fragen. Nun erst einmal wurde ihr Handgelenk wieder warm und kündigte die nächste Stunde an. Also kroch sie von ihrem Bett herab. Ihr Körper und ihr Geist fühlten sich zwar sehr entspannt, aber doch recht zermürbt und müde an. Aber Zeichnen und Malen war etwas, was sie nicht anstrengte, vor allem, wenn niemand mit ihr sprach, und wenn während dessen Musik lief.

Also brach sie auf. Die anderen folgten ihr, während sie sich unterhielten, aber Myrie hörte nun gar nicht mehr zu.


Nach dem Unterricht kehrte sie zurück in den Raum mit den Sofas nahe des Haupteingangs, wo sie ihren Papa traf. Omantra hatte ihr mitgeteilt, dass er dort warten würde.

Er beobachtete sie mit aufmerksamen Augen, als sie durch die Tür kam und sie leise hinter sich schloss.

“Du siehst sehr mitgenommen aus.”, murmelte er in seinen Bart.

Er saß dieses Mal in der Ecke eines Sofas und Myrie legte sich auf die andere Seite, ihren Kopf in seinen Schoß bettend aber zu ihm hinaufschauend. Er legte den Arm um sie und schaukelte sie sachte. Myrie wusste nicht genau, woher er wusste, dass sie es gerade brauchte, aber es vorsichtiger sein musste als sonst. Unter dem dichten Bart wurde ein Lächeln breit.

“Möchtest du gern am Spiel teilnehmen?”, fragte er ruhig.

Myrie reagierte nicht sofort. Sie hatte bisher einfach hingenommen, dass sie es wohl würde, weil sie bisher geglaubt hatte, dass es ihre Wahrscheinlichkeit erhöhte, auf der Schule bleiben zu dürfen. Erst fragte sie sich, ob es vielleicht unabhängig voneinander war. Ob ihr letzter Ausflug dadurch nicht in Betracht gezogen wurde, dass sie die Urkunde gefunden hatte, unabhängig davon, ob sie auch tatsächlich am Spiel teilnahm. Sie wusste es nicht.

Und schließlich machte sie sich losgelöst von der Konfliktlage mit der Schule Gedanken, ob sie es überhaupt wollte.

“Ich möchte dir folgendes Angebot machen.”, sagte ihr Papa. “Solltest du dich dagegen entscheiden, teilnehmen zu wollen, und du möchtest es anderen gegenüber aber nicht so deutlich zeigen, dann würde ich es dir verbieten und selbst das Spiel abbrechen. Niemand müsste darüber wissen, dass es deine Entscheidung gewesen wäre.”

Myrie antwortete nicht, kuschelte sich einfach tiefer in seinen Schoß und zog die Beine an, so gut es ging. Ihr Papa streichelte ihr über den Kopf und vorsichtig durch das dünne Haar, dass ihr aus der Schädelmitte wuchs. “Wenn du gern teilnehmen möchtest, und dir sicher bist, sag Bescheid. Dann erlaube ich es dir. Lass dir Zeit.”, murmelte er ihr zu.

Er klang so beruhigend und seine Wärme und Nähe tat gut. Myrie wäre hier am liebsten den ganzen Rest des Tages liegen geblieben. Aber stattdessen verbrachten sie vielleicht eine Stunde so, bevor sich Ara Seefisch bei ihnen meldete, und fragte, ob sie sich in einer Virtualität mit Amon Krknschnock und Henne Lot treffen könnten.


Sie gingen zu dem Zweck in einen Spielraum, der größer war, als ihr persönlicher Fluchtraum in der Schule, aber kleiner, als die großen, in denen sie oft mit Daina war, wenn sie Etappenabenteuer spielten. Außer Amon Krknschnock, der mit einer VR-Brille auf der Nase anscheinend damit beschäftigt war, eine Virtualität einzurichten, fanden sie ihn leer vor.

Er schob die Brille auf seine Stirn, als er sie hereintreten hörte. “Ah, Myrie.”, grüßte er. “Und Herr Zange.”

“Vadime ist auch in Ordnung.”, sagte ihr Papa.

“Ich bin Amon Krknschnock und Amon ist auch in Ordnung.”, summte Amon Krknschnock.

“Du warst gestern auch schon dabei, aber der zweite Name fließt mir noch nicht über die Lippen.”, gab ihr Papa zu.

“Zwischen dem ersten und zweiten k ist es ein Laut zwischen ch wie in Bach und r.”, erklärte Amon Krknschnock und wiederholte den Namen langsam.

Sie übten ihn kurz, und als beide zufrieden waren, schob Amon Krknschnock die Brille wieder über die Nase.

“Falls ihr auch Brillen dabei habt, könnt ihr gern zuschauen.”, lud er ein. “Wenn nicht, wäre es zumindest nett von dir, Myrie, wenn du dir eine Brille holst, und falls du nicht anhast, auch einen EM-Anzug.”

“Ich habe beides.”, sagte Myrie und kramte ihre Brille aus einer ihrer Taschen.

Sie war gespannt, was käme, war aber nicht angenehm überrascht, als sie die Brille auf die Nase schob und eine sehr präzise Nachbildung des Berghangs erblickte, den sie in der vergangenen Nacht mit Sarina und Daina hinaufgeklettert war. Sie sah zu Amon Krknschnock hinüber, der gerade an Wettereinstellungen herumschraubte. Er sah seiner Realitätsversion sehr ähnlich. Darüber war Myrie dankbar.

“Hat es geschneit, als ihr unterwegs wart?”, fragte er.

“Nicht mehr.”, sagte Myrie. “Es hat nur leicht gewindet, der Himmel war von einer dünnen, durchsichtigen Wolkenschicht bedeckt, die der Mond beleuchtet hat. Dadurch war es für eine Winternacht ziemlich mild.”

“Du erinnerst dich sehr gut daran, scheint mir.”, stellte Amon Krknschnock fest.

“Es hat mich erleichtert. Es wäre sonst sehr viel lebensgefährlicher für Merlin geworden.”, begründete Myrie.

Amon Krknschnock nickte. Er blickte in den Himmel und Myrie folgte seinem Blick. Während sie nach oben sahen, schob Amon Krknschnock einige Regler vor sich in die eine oder andere Richtung. Zunächst tauchten Wolken auf, aber sie waren viel zu dicht. Dann regelte er ihre Dichte herunter, bis sie einigermaßen passten.

So unlieb Myrie diese Virtualität auch war, lenkte es sie vom Unbehagen ab, genauere Beschreibungen der Gegebenheiten zu erklären und mit Amon Krknschnock eben diese nachzubilden.

Ihr Papa war längst neben ihr aufgetaucht und sah ihnen ruhig zu. Es trug auch zu Myries Gefühl von Sicherheit bei, dass er einfach da war.

“Was ist eigentlich der Plan?”, fragte er nach einer Weile.

“Unser Problem ist, dass Myrie nicht zu einer von uns Lehrkräften kommt, wenn sie Bedenken hat, dass jene dann aus ihrer Sicht nicht richtig entscheiden könnte. Ist das soweit richtig?”, begann Amon Krknschnock, seine Frage an Myrie richtend.

“Ich habe Bedenken, dass meine Fähigkeiten unterschätzt werden könnten, oder ich sogar besser darin bin, die Gefahren einzuschätzen, weil ich mehr Erfahrungen gesammelt habe.”, sagte Myrie. “Eine Lehrkraft müsste aber eben von ihrem Stand der Erfahrungen aus schließen.”

“Du hast also Angst davor, dass wir dir ein Urteil nicht zutrauen und uns deswegen dir in den Weg stellen.”, versuchte Amon Krknschnock zusammen zu fassen.

Myrie nickte.

“So etwas in der Richtung hatten Ara Seefisch, Henne Lot und ich uns auch überlegt. Ihre Idee war, dass wir die Situation nachbauen, uns anhören, was du dir für Gedanken gemacht hast und versuchen, herauszufinden, ob es gute Gedanken sind, oder ob wir dich überzeugen können, dass es keine guten waren. Wenn wir das an einigen möglichen Situationen durchspielen, können wir vielleicht herausfinden, dass dein Urteil meistens gut ist, oder dich von etwas anderem überzeugen, sodass wir auf diese Weise die benötigte Vertrauensbasis erlangen können.”, erklärte Amon Krknschnock.

Myrie war unbehaglich zumute. Sie war sich sicher, dass sie verantwortungsbewusst gehandelt hatte. Sie hätte es nicht getan, wenn sie nicht absolut sicher gewesen wäre, niemanden dabei zu gefährden. Aber sie hatte gestern schon versucht, Amon Krknschnock davon zu überzeugen, und sie hatte Angst, dass es zu nichts führte. Genau diese Angst, die sie zu Anfang schon davon abgehalten hatte, eine Lehrkraft zu fragen, mitzukommen.

Ihr Papa spürte ihr Unwohlsein und nahm sie von hinten vorsichtig in den Arm.

“An sich ist, was jetzt noch fehlt, einzig das Einstellen der richtigen Temperatur. Es ginge über den EM-Anzug, aber dabei bleibt das Gesicht warm und der Effekt ist realistischer, wenn wir den Raum mit den Windmaschinen abkühlen. Ich denke, wir verzichten darauf, damit wir hier nicht frieren.”, schlug Amon Krknschnock vor.

“Ich fände es besser in kalt.”, entgegnete Myrie.

“Dann hole ich mir noch einmal was zum wärmer Anziehen. Bleibt ihr hier, oder macht ihr das Gleiche?”, fragte Amon Krknschnock.

“Ich bleibe hier.”, sagte Myrie.

“Ich werde mir kurz meinen Mantel holen. Der hängt aber nicht weit.”, brummte ihr Papa.

“Dann müsstest du Klopfen. Ihr habt keine Zugangsberechtigung für diesen Raum. Ihm fehlen die Sicherheitsstandards für freigegebene Räume. Mach also keinen Unsinn, solange ich weg bin, Myrie.”, sagte Amon Krknschnock und verschwand zur Tür hinaus.

“Ist es für dich in Ordnung, wenn ich kurz weg bin?”, fragte ihr Papa.

Myrie nickte. Es war ihr sogar lieb, mit dem neuesten Kenntnisstand kurz allein im Raum zu sein. Als ihr Papa verschwunden war, verließ sie keine Zeit verstreichen. Der Berghang war leider nicht so gut geeignet für das, was sie vorhatte. Also lief sie zu einem nahen Baum, kletterte ihn ein Stück hinauf und ließ sich fallen. Die Virtualität fing sie nicht auf und sie musste abrollen. Sie grinste. Plötzlich hatte sie großen Bewegungsdrang. Aber da sie in dieser Virtualität Sicherung benötigen würde, und die Sicherung, die sie dabei hatte, nicht in Virtualitäten funktionierte, verzichtete sie darauf, zu klettern. Stattdessen bewegte sie sich auf dem Platz, indem sie Aufwärmübungen machte, die ihr Olge gezeigt hatte, und einige Dehnübungen, die ihrem Körper gut taten. Sie wäre gern gerannt, aber sie befürchtete, dass die Virtualität nur diesen Ort darstellte und sie bald an Grenzen stoßen würde. Wäre sie längere Zeit geplant allein gewesen, hätte sie es sicher ausprobiert.

Es klopfte und sie öffnete ihrem Papa von innen die Tür mit einer Geste. Ihr Papa grinste, als er sie sah. Er klopfte ihr virtuellen, feuchten Dreck von der Schulter.

“Die sind hier ja wirklich arg realistisch.”, murmelte Myrie.

“Sieht ganz so aus.”, sagte ihr Papa und folgte ihrer Spur im Schnee zum Baum, von dem sie sich fallen gelassen hatte.

“Oh.”, sagte Myrie.

An den Schnee und ihre Spuren hatte sie nicht gedacht. Sie war zu aufgeregt gewesen, ihr Experiment zu machen.

“Ich denke, das ist in Ordnung.”, beruhigte sie ihr Papa. “Sie wollen herausfinden, wie du denkst, und das ist nun mal ein Resultat davon. Du hast getestet, wie die Sicherheit dieser Virtualität funktioniert. Das hast du schon immer als erstes ausprobiert. Da ist nichts Verwerfliches dran.”

Myrie schmiegte sich an ihren Papa und legte seine Arme um sich. “Ich bin so dankbar, dass du da bist.”, sagte sie.

Er rubbelte mit den Händen über ihren Rücken, bis sie ruhiger wurde.

Als nächstes kamen Ara Seefisch und Henne Lot in den Raum. Sie trugen Winterkleidung, also hatte Amon Krknschnock ihnen wohl Bescheid gesagt.

“Zeit für Kälte.”, sagte Ara Seefisch, rief eine Bedienfläche auf und regelte die Temperatur herunter. Sie mussten einen Augenblick warten, bis sie tatsächlich erreicht war und ein kühler, realistischer Wind strich Myrie durch ihr Gesicht. “Feuchtigkeit?”, fragte Ara Seefisch.

“Ein wenig, nicht viel.”, antwortete Myrie.

Die Lehrerin lächelte, als sie einen anderen Regler vorsichtig ein Stück hinaufregelte und es im Raum darauf etwas feuchter wurde. Dann kam auch Amon Krknschnock wieder.

“So.”, sagte er, kaum war er da. “Dann lass mal deine Haken sehen. Die, die du genutzt hast.”

Myrie holte drei ihrer Klemmhaken heraus, dann sah sie die Felswand an, wo ihr perfekter Spalt sich den Hang hinaufschlängelte.

Amon Krknschnock machte eine Geste, die Myrie als eine kannte, mit der sie Bilder aufnahm. Dann materialisierten nahezu identische Klemmhaken zwischen ihnen in der Luft. Amon Krknschnock ergriff sie, wodurch sie Gewicht bekamen und reichte sie Myrie.

“Als nächstes sprachst du von einem Seil.”, sagte er.

Während Myrie ihr Seil aus ihrem Gürtel löste, wanderte auch sein Blick entlang ihrer Spuren zum Baum, an dem Myrie das Auffangverhalten der Virtualität getestet hatte. Er runzelte die Stirn. “Was hast du in meiner Abwesenheit gemacht?”, fragte er.

Er klang dabei mehr neugierig, als streng, aber eine Vorwarnung einer Kritik schwang in der Frage bereits mit.

Myrie hielt inne und blickte ebenfalls zum Baum. “Du sagtest, die Sicherheit in dieser Virtualität sei nicht den Sicherheitsstandards entsprechend. Ich wollte testen und mich darauf einstellen, wie sehr nicht, und habe mich aus einer Höhe fallen gelassen, aus der ich mich gut auffangen kann, wenn sich der Raum von der Realität nicht unterscheidet, aber in der eine gewöhnliche Virtualität mich normalerweise auffangen würde.”, gab sie zu.

“Magst du dein Werk unterbrechen, und das einmal vorführen?”, bat Ara Seefisch.

Myrie sah unglücklich auf ihr halb ausgefädeltes Seil hinab. Die Bewegungen, es aus den Schnallen herauszufädeln, waren Routine bei ihr. Sie unterbrach den Vorgang sehr selten und es brachte sie aus dem Konzept. Dennoch legte sie ihren Gürtel, der nun schon halb ein Seil war, auf den Boden ab, blickte die Lehrkräfte noch einmal an, bevor sie auf den Baum zurannte, hinaufkletterte und sich fallen ließ. Sie war nervöser, als vorhin, ihre Hände leicht zittrig, und sie war froh, dass sie es vorhin schon einmal gemacht hatte. Als sie wieder auf den Beinen war, klopfte sie sich dieses mal selbst den Dreck von der Schulter ab, auf der sie gelandet war, und rannte zurück, bückte sich nach ihrem Seil, um es weiter vorzubereiten. Dass ihre Hände immer noch zitterten, machte es nicht leichter.

“Bist du aufgeregt, weil wir dir zuschauen?”, fragte Henne Lot.

Myrie nickte. Sie blickte nicht einmal auf dazu.

“Es ist allerdings sehr hilfreich.”, sagte Ara Seefisch. “Also zumindest ist es das für mich und meine Einschätzung von dir. Ich hatte noch nie eine Person unterrichtet, die ihren Körper so sehr beherrscht hat. Ich wüsste tatsächlich nicht, ob wir eine Person unter den Lehrkräften haben, die eine solche Körperbeherrschung hat. Antastra vielleicht.”

Amon Krknschnock nickte. “Antastra hat in der Tat eine Beherrschung ihres Körpers, die ich stets wieder bewundere, aber leider gehört Bewegung im Freien nicht zu dem, was sie trainiert.”, sagte er.

Endlich hatte Myrie ihr Seil entheddert, betätigte nun das Ventil, das es aufplusterte.

“Ich würde gern anmerken, dass die Virtualität natürlich durchaus Sicherheitsstandards mitbringt. Sie sind nur eingeschränkter um physikalische Gesetze realistischer abzubilden. Dadurch besteht eine gewisse Verletzungsgefahr aber keine größere Bedrohung.”, erläuterte Henne Lot.

“Du hast gute Technik gewählt, scheint mir.”, bemerkte Amon Krknschnock.

“Omantra hat mich beraten.”, sagte Myrie.

Auch das Seil duplizierte Amon Krknschnock zu einem entsprechenden virtuellen. “Wenn ich dich richtig verstanden hatte, war das alles, was du hattest?”, fragte er.

Myrie nickte. “Alles, was ich benutzt habe, zumindest.”, korrigierte sie dann doch noch.

“Dann mag ich dich bitten, uns vorzuführen, wie du verfahren bist, und was du dir so gedacht hast.”, sagte er. “Lass dir Zeit dabei. Ich sehe, du bist nervös. Das warst du da draußen vielleicht weniger. Ich werde das in meinen Überlegungen zur Sicherheit berücksichtigen.”

Myrie sagte kein Wort dazu. Sie überlegte, wenn sie gleich wirklich dazu kommen würde, den Hang hinaufzuklettern, würde die Nervosität verschwinden. Sobald sie sich auf den Spalt und die Umgebung, und jede Bewegung ihres Körpers und ihren Atem fokussieren würde, würde die Welt um sie her unwichtig werden, bis auf das, was wichtig war, um sicher den Hang hinaufzusteigen.

Mit diesem Gedanken fädelte sie die Klemmhaken auf das virtuelle Seil, das sich viel neuer anfühlte als ihr eigenes, was ungewohnt war. Ein Seil bekam nach nur kurzem Gebrauch eine etwas rauere Haptik, die Myrie sehr mochte. Sie überlegte, ob sie darum bitten sollte, dass es ihr eingerichtet würde. Es wäre sicher möglich gewesen, aber Myrie mochte nicht interagieren.

Sie bereitete ihre Konstruktion vor, wie sie es in der Nacht zuvor getan hatte, aber dieses Mal war sie schneller dabei und energischer. Als sie fertig war, blickte sie endlich wieder auf.

“An diesem Ende hing Sarina in meiner Weste, weil die stabil genug ist, eine Person des etwa zehnfachen Gewichts von mir zu halten, selbst wenn diese aus hoher Höhe fiele.”, erklärte sie. “Und an diesem hing Daina. Daina hatte selbst eine stabile Hose an. Wir haben sie aber trotzdem vorsichtshalber noch einmal getestet. Wie machen wir das jetzt? Kommen die beiden nochmal her? Kriege ich einfach Gewichte? Oder klettern zwei von euch mit?”

Myrie hoffte, dass sie nicht von Daina verlangen würden, sich noch einmal in diese Höhe zu begeben. Es war wirklich kein schönes Erlebnis für sie gewesen mit ihrer Höhenangst.

“Ich denke, Gewichte reichen. Welche, die eben ab und an den Zug verändern, weil die realen Gewichte sich ja selbst festgehalten haben, aber du sie hochgezogen hast, wenn ich das richtig verstanden habe. Magst du da sowas einrichten, Henne?”, schlug Ara Seefisch vor.

Henne Lot nickte und beschwor nun ebenfalls eine Bedienoberfläche herauf, die aber etwas komplexer war, als die mit den Reglern, die Myrie schon kannte.

“Du kannst gern schonmal hinaufklettern bis zu einem Punkt, an dem die Seilenden den Boden nicht mehr berühren.”, sagte er.

Myrie drehte sich zur felsigen Wand um, näherte sich ihr und tastete den Spalt ab, testete, ob er sich genau so anfühlte, wie der, den sie gestern genutzt hatte. Er tat es nicht, aber das war zu ihrem Vorteil. Er wirkte noch stabiler.

Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, begann Myrie den Anstieg. Wie auch in der Nacht zuvor stieg sie die ersten Meter ohne Sicherung hinauf, und setzte erst dann den ersten Haken in die Ritze.

Es war nicht ganz so, wie sie vermutet hatte. Sie vergaß die Lehrkräfte auf dem Boden nicht, weil sie ja für sie anhalten sollte, sobald ihre Seilenden den Boden nicht mehr berührten. Da sie aber noch nicht mit Gewichten versehen waren, musste sie dafür ab und zu nach unten sehen, und nachschauen, ob es bereits so weit war. Es dauerte nicht lang, bis es so weit war. Sie hielt inne, und wartete.

“Bist du bereit dafür, dass ich dir Gewichte anhänge?”, fragte Henne Lot.

Myrie nickte. Sie rechnete damit, dass sie plötzlich eingeschaltet würden, aber das passierte nicht. Die Seilenden an ihren Hüften begannen nur allmählich an ihr zu ziehen, erst das eine, dann das andere, und dann stoppte die Veränderung.

“Ich würde sie nun variabel machen, wenn du einverstanden bist?”, erkundigte sich Henne Lot.

Myrie nickte erneut. Dieses Mal verloren beide Seilenden deutlich schneller einen Gutteil ihres Gewichts, und es war beeindruckend realistisch, was für eine sachte Spannung in den Seilen übrig blieb, gerade als wenn dort Personen am Seil hingen, die ihr Gewicht größtenteils auf den Berg übertrugen.

“Soll ich weiterklettern?”, fragte sie.

Sie fragte viel zu leise, vermutete sie, aber Henne Lot antwortete ihr zustimmend. Sie erinnerte sich daran, dass sie wahrscheinlich im Raum deutlich näher beieinander waren, als sie es in der Virtualität waren.

Myrie setzte sich vorsichtig erneut in Bewegung und es begeisterte sie, wie ähnlich Henne Lot die Gewichtsveränderungen hinbekommen hatte zu denen, die durch echte Personen zustande gekommen wären.

Sie hatte gehofft, nun einfach hinaufklettern zu dürfen, aber nach nur wenigen Augenblicken hielt Amon Krknschnock sie auf.

“Ich sehe, was du dir so gedacht hast, und da auch immer zwei Klemmhaken zugleich in dieser sehr perfekt geeigneten Felsritze stecken, sollte die Konstruktion an sich auch euer Gesamtgewicht gut halten. Ich frage mich nun vor allem noch, wie sehr es vor allem dich nervlich angegriffen hätte, wenn eine der anderen beiden Personen tatsächlich abgerutscht wäre.”, erklärte er. “Wir können einen Teil davon testen, indem wir deine Gewichte einmal plötzlich fallen ließen. Wärst du damit einverstanden, wenn wir das zu einem nicht angekündigten Zeitpunkt tun?”

Myrie überlegte kurz, dann nickte sie. Natürlich, sie hatte mit so etwas ja auch in der Realität gerechnet.

Sie kletterte vorsichtig weiter und die Gewichte an ihren Hüften verschwanden. Sie vermutete, dass sie hier in dem Sinne ungerecht geprüft wurde, dass ihre Gewichte aus höherer Höhe fallen gelassen würden, was bei ihrem Anstieg nicht möglich gewesen war. Sarina und Daina waren immer fast auf Spannung geklettert.

Ein heftiges Einsetzen des Zugs erst auf der einen, dann auf der anderen Seite ihrer Hüfte, verriet ihr, dass sie recht hatte. Sie zog sich augenblicklich so dicht an den Fels wie ihr möglich, griff mit einer Hand an das Sicherungsseil, sodass es auf Zug war, und verharrte, bis das Gewicht unverändert an ihr hing. Dann sah sie hinab, weil sie einen kurzen Augenblick das Bedürfnis verspürt hatte, nachzusehen, wie es ihrer Begleitung ginge, aber da war ja keine. Stattdessen zogen Seile an ihr, an denen ein unsichtbares Gewicht hing. Myrie überlegte, dass wahrscheinlich einfach die Spitzen der Seilenden schwer gemacht worden waren, so schwer, wie sie in der Realität gar nicht so einfach sein könnten. Sie vermutete, dass es so gelöst war, weil sich ein angehängtes Gewicht in größerer Größe hätte am Gestein verhaken oder verheddern können. Myrie musste grinsen, wandte sich wieder dem Hang zu, um ihren Weg fortzusetzen.

“Wir holen dich runter.”, beschloss Ara Seefisch und schien etwas vorzubereiten, aber Henne Lot hielt sie auf.

“Wenn du bereit bist.”, rief er zu Myrie hinauf.

“Wie wird es geschehen?”, fragte sie.

“Der Hang versinkt im Boden, bis du auf dem Boden bist.”, erklärte er.

“In Ordnung.”, sagte Myrie.

Der Boden kam ihr sachte entgegen, und als ihre Füße am Boden waren, verschwand ihre Ausrüstung.

“Du kannst die Brille absetzen, wenn du magst.”, sagte Ara Seefisch.

Myrie streifte sie vom Kopf und verstaute sie in der dafür gedachten Tasche. Dann machte sie sich daran, ihr reales Seil zu entplustern und einzufädeln.

“Was meint ihr?”, fragte Amon Krknschnock, während sie damit beschäftigt war. “Es machte auf mich nun einen unkonventionellen, aber gar doch sicheren Eindruck.”

“Ich bin da weniger fachkundig als du.”, sagte Ara Seefisch. “Aber mir stellt sich unter anderem die Frage, woher Myrie über sich selbst wissen konnte, dass sie so locker damit umgehen würde, wenn plötzlich das Gewicht von zwei Personen an ihr hinge. Wenn ich das richtig sehe, wäre ein Abseilen gar nicht möglich gewesen, wenn eine der beiden zum Beispiel nicht mehr hätte klettern können. Was hatte sie dann tun können, wenn sie das doppelte oder dreifache ihres Gewichts nicht hätte tragen können?”

“Ich habe mit erhöhter Schwerkraft und zusätzlichem Gepäck in Virtualitäten klettern geübt.”, sagte Myrie gereizt.

Sie wusste auch nicht so genau, warum sie nun gereizt war. Vielleicht war sie es, weil nun der Diskussionsteil kam, bei dem sie bisher den Eindruck gewonnen hatte, man würde ihr ständig unterstellen, nicht alles zu durchdenken.

“Wieso hast du das geübt?”, fragte Ara Seefisch skeptisch.

“Ich brauche Bewegung und Anstrengung. Wenn ich nervös oder aufgeregt bin, dann…” Myrie überlegte, wie sie es erklären konnte, warum sie es so brauchte.

“Sie wird leicht gestresst dadurch, dass sie mit anderen interagiert. Sie brauchte schon immer Erholungspausen davon.”, half ihr Papa ihr aus. “Sie ist nach Interaktion mit anderen oft sehr aufgewühlt und dann hilft ihr Aktivität, viel Bewegung und Anstrengung, wie sie sagte, um wieder ruhiger zu werden und die Nervosität abzubauen.”

Myrie nickte.

“Wie hast du gelernt, bevor du hier zur Schule gegangen bist?”, fragte Ara Seefisch.

“Von Omantra hauptsächlich.”, antwortete Myrie verwirrt. Sie dachte, das hätte sie schon mehrfach erzählt.

“Sie hat Lernvirtualitäten mit anderen Kindern ausprobiert, wie es empfohlen war, kam mit dem Konzept aber nicht zurecht. Also hat sie überwiegend Einzelunterricht bei ihrer Lern-KI erhalten, die außerhalb von Räumen stattfand.”, ergänzte ihr Papa.

Ara Seefisch wollte also eigentlich auf das Wo hinaus und nicht auf das Wie, verstand Myrie.

“Ach so, du hast also Unterrichtseinheiten bekommen, während du dich bewegt hast?”, fragte sie.

Myrie nickte.

“Hört sich schlau an.”, bemerkte Ara Seefisch.

“Schreiben hat sie durchaus zu Hause erlernt, aber alles, was akustisch ging, überwiegend auf Spaziergängen oder allein im Freien.”, fügte ihr Papa hinzu.

Die Lehrkräfte nickten.

“Wenn ich diese Situation nun mit Myries Augen versuche zu betrachten, kommt mir das Ganze schon viel sinnvoller vor.”, sagte Ara Seefisch. “Nun müssen wir allerdings noch herausfinden, wie wir verhindern, dass sie uns von so etwas nicht erzählt.”

“Zumal es eine deutlich bessere, schnellere Methode gewesen wäre, den Schlitten bereits zum Hinauffahren zu montieren. Wäre ich dabei gewesen, hätte dem nichts im Weg gestanden.”, wandte Amon Krknschnock ein.

“Aber der Geländewagen hätte die Spuren zerstört und hätte auch nicht durch den Wald gepasst.”, widersprach Myrie.

“Wir hätten den Geländewagen höchstens nebenherfahren lassen.”, sagte Amon Krknschnock.

“Wenn ich etwas einwenden darf,”, meldete sich Henne Lot zu Wort, “wäre Myrie mit dem Gedanken zu uns gekommen, dass sie gern Spuren suchen wolle, hätte ich sie wahrscheinlich mit einer Drohne mit sehr guter Kamera und Scheinwerfern ausgestattet und wir hätten zunächst die Stelle, die sie sich ausgedacht hätte, gemeinsam abgeflogen. Dabei wären vielleicht die Spuren schon sichtbar gewesen. Wenn ich es richtig verstanden hätte, hätte niemand das Gebäude verlassen müssen, um Merlin zu finden. Wir haben nur schlecht gesucht, weil wir von nicht so versteckten Spuren ausgegangen sind, weil wir die Such-KI dahingehend überschätzt haben, und die Suche wurde noch dadurch erschwert, dass Merlin seine Spuren mit Vorwissen über Suchtechniken verborgen und einen versteckten Ort gefunden hat.”

Die Lehrkräfte nickten zustimmend und Myrie senkte den Blick.

“Natürlich hätten wir,”, wandte sich Henne Lot mit freundlichem Ausdruck in der Stimme an sie, “wenn wir keine Spuren mit der Drohne entdeckt hätten, ein Team zusammengestellt, mit dem wir auch noch einmal vor Ort geschaut hätten. Mit dir. Und wenn du und sie gewollt hätten, auch mit Sarina und Daina.”

“Ich bin nicht sicher, ob wir das vor der Vorführung heute schon als zweite Option gewählt hätten.”, wandte Ara Seefisch ein.

Myrie nickte beschämt, aber wandte ihren Blick nicht vom Boden ab. Sie spürte, dass sie von den anderen beobachtet wurde. Eigentlich war das nicht korrekt ausgedrückt. Man konnte nicht wirklich spüren, dass man beobachtet wurde, glaubte sie. Aber sie sah im Augenwinkel, wie die Blicke auf sie gerichtet sein könnten, weil die Körper ihr zugewandt waren. Sie hörte den Atem der Lehrkräfte aus den richtigen Winkeln und sie sagten nichts.

“Nun kommt die Stelle, an der ich versprechen muss, euch zu vertrauen, und zu euch zu kommen, wenn mir einfällt, dass die Schule zu verlassen aus meiner Sicht eine gute Idee wäre. Dass ich euch vertrauen soll, dass ihr entweder meine Idee für gut heißt oder mit einer besseren kommt.”, murmelte sie.

“Ich habe dich nicht ganz verstanden.”, sagte Ara Seefisch, also wiederholte Myrie es etwas lauter.

“So etwas wäre schon ganz gut. Natürlich nur, wenn du es ehrlich kannst.”, bestätigte Ara Seefisch. “Allerdings würde ich gern noch ein paar andere der Situationen durchgehen, die wir hatten, oder hypothetische, die wir für möglich halten, die dort kommen könnten.”

“Wenn ich eine Zwischenfrage stellen dürfte,”, wandte ihr Papa ein, “wenn ich das richtig verstanden habe, darf Myrie das Schulgelände aktuell verlassen, weil sie eine Teilnahmeurkunde für das Spiel gefunden hat?”

“Solange, wie sie teilnimmt, oder noch nicht feststeht, dass sie es nicht tut, ja.”, bestätigte Henne Lot.

“Es geht mir in diesen Sitzungen auch primär um Vertrauensaufbau. Ich denke, selbst wenn sie das Schulgelände verlassen darf, ist es dennoch in vielen Situationen sicher angebrachter, wenn sie es nicht einfach so täte.”, stellte Ara Seefisch klar. “Dazu kommt, dass in der zweiten Phase des Spiels auch viele Spielgruppeen ausscheiden. Ich wünsche Myrie natürlich nicht, dass ihre Spielgruppe ausscheidet, aber falls ja, haben wir nächstes Jahr sonst das Problem, das wir jetzt versuchen zu lösen.”

“Im Frühling möchte ich gern am Geländekurs teilnehmen.”, wandte Myrie ein.

“Gut!”, sagte Amon Krknschnock und freute sich offensichtlich darüber.

Auch Henne Lot und Ara Seefisch schienen über diese Entscheidung erfreut. Ein kurzes Schweigen trat ein.

“Wenn wir nun keine Virtualität für Besprechungen mehr benötigen, schlage ich vor, dass wir entweder eine besuchen, in der es gemütlicher ist, als in diesem nackten Raum, oder einen Raum aufsuchen, der eben selbst schon gemütlicher ist, als dieser.”, schlug ihr Papa vor.

“Einverstanden.”, sagte Henne Lot.

Myrie wurde schon wieder müde und beteiligte sich nicht an der kurzen Diskussion, die darüber entstand, wo sie am besten nun hingingen. Sie suchten sich einen kleinen Raum mit Ausblick im zweiten Stockwerk aus, in dem es einen Lebensmitteldrucker und einen Getränkeautomaten gab. Die Lehrkräfte und ihr Papa benutzten letzteren, aber Myrie war zu nervös durch den Umgebungswechsel und stand lieber erst einmal am Fenster, um über das Schulgelände hinweg zum Wald zu sehen.

Es war ihr zu warm in diesem Raum, aber sie traute sich auch nicht, ein Fenster zu öffnen. Schließlich, als alle saßen, setzte sie sich neben ihren Papa und legte den Kopf auf seine Schulter.

“Es ist alles sehr viel für dich, glaube ich.”, sagte Henne Lot.

Myrie reagierte nicht, blickte wieder zum Fenster.

“Ich denke, wir machen nicht mehr so lange heute.”, sagte Ara Seefisch.

Aber sie behielt unrecht, zumindest aus Myries Sicht. Sie sprachen über ihre Übernachtungen im Wald mit Sarina. Sie hatten gestern schon viel darüber gesprochen, aber nun wollte Ara Seefisch ausführlich wissen, wieso es für sie so unumgänglich erschien, wie sich dieses eingezäunt fühlen auf sie auswirkte, warum es sein konnte, dass es sie auch in Virtualitäten nicht losließe.

Sie waren alle sehr geduldig mit ihr, auch wenn sie zunehmend länger brauchte, um zu antworten, und ihr Papa ihr oft dabei half, Formulierungen und Vergleiche zu finden.

Schließlich überlegten sie gemeinsam, wie ihr Problem wohl in Angriff genommen worden wäre, wenn Myrie sich damit an eine Lehrkraft gewandt hätte.

“Vielleicht hätte ich mich doch damals bei unserem Gespräch darauf einlassen sollen, für dich einen schnellen Kurs vorzuziehen. Aber ich wusste nicht, wie dringend es für dich ist.”, überlegte Amon Krknschnock.

“Ich denke, wir haben in diesem Gespräch auf jeden Fall gelernt, dass, wenn Myrie ein Anliegen in dieser Art hat, dass es sich dabei meist nicht um eine spontane, undurchdachte Idee handelt, sondern ein dringendes Anliegen.”, hielt Ara Seefisch fest.

Myrie blickte positiv überrascht auf. Diese Aussage hatte sie nicht erwartet und es half ihr tatsächlich zu wissen, dass Ara Seefisch so dachte. Sie sah aber auch schnell wieder aus dem Fenster. Gesichter waren gerade einfach zu anstrengend für sie.

“Ich würde soweit gehen und von immer sprechen.”, bestätigte Henne Lot.

“Myrie, kannst du zusammenfassen, was du wissen müsstest, was für eine Sicherheit wir dir bieten müssten, damit du zu einer von uns Lehrkräften kämst, wenn du ein etwas riskanteres Bedürfnis hast, wie das Verlassen des Schulgeländes, um etwa im Wald zu schlafen, oder im Winter auf den Ehrenberg zu klettern?”, fragte Ara Seefisch.

“Ich würde zu Amon Krknschnock mit so einem Problem gehen.”, sagte Myrie.

Sie hatte schon länger überlegt, dass Amon Krknschnock ihr am ehesten das Gefühl gab, unvoreingenommen über die Situationen nachzudenken, und in die Überlegungen nicht einfließen zu lassen, dass sie erst elf war und man Dinge gegebenenfalls anders tat, als sie es tat.

Amon Krknschnock legte sich eine Hand auf die Brust. “Zu mir?”, fragte er.

Myrie nickte stirnrunzelnd. Woher kam der Zweifel?

“Das würde mir vollkommen reichen.”, sagte Ara Seefisch, aber sie klang eigentlich nicht so.

Sie machte einen vielleicht sogar etwas verletzten Eindruck, überlegte Myrie.

“Ich würde vielleicht auch zu dir kommen, aber ich habe den Eindruck, Amon Krknschnock macht gute Einschätzungen über gerade solche Probleme, wie ich sie habe.”, ergänzte Myrie. “Wenn ich Angst habe, dass meine Ideen nicht gut ankommen, würde ich mich an ihn wenden, weil er damit sachlich und unpersönlich umgeht.”

“Das ist natürlich verständlich.”, sagte Ara Seefisch. Ihre Enttäuschung oder Verletztheit verflog. “Habe ich dein Wort, dass du dich bei so etwas an ihn wenden wirst, statt dich auf eigene Faust aufzumachen?”

“Kommt drauf an, was ‘so etwas’ alles einschließt.”, sagte Myrie. “Für so einen Fall wie letzte Nacht auf jeden Fall. Für das Übernachten im Wald würde ich vielleicht mit ihm drüber reden, aber das haben wir eigentlich jetzt auch schon.”

Ara Seefisch seufzte und wandte sich an Henne Lot. “Hilf mir mal.”, sagte sie.

“Ich denke eigentlich, dass Myrie eine ausreichende Antwort für uns auf unser Anliegen gegeben hat.”, sagte er.

“Sehr schwammig allerdings.”, bemerkte Ara Seefisch unglücklich.

“Das Thema ist schwammig.”, sagte Henne Lot. “Vor allem nun, da sie eine Urkunde hat.”

Ara Seefisch nickte. “Du weißt aber auch, wie ich über diese Ausnahmeregelungen denke.”, entgegnete sie.

“Wir können gern eine erneute Diskussionsrunde zu dem Thema einberufen, aber ich befürchte, es wird keinen anderen Ausgang nehmen, als beim letzten Mal. Für Spielteilnehmende ist diese Geländebegrenzung einfach sehr einschränkend.”, sagte Henne Lot.

“Ich weiß. Und wir wollen Lernende nicht vor die Entscheidung stellen, entweder am Spiel teilzunehmen oder weiter an dieser Schule zu sein. Aber ich finde, mindestens der Geländekurs mit Test sollte Pflicht werden.”, warf sie ein.

Amon Krknschnock nickte zustimmend.

“Es wirkt auf mich, wie ein ganz anderes Thema.”, warf Myries Papa ein.

“Richtig. Wir sollten hier vielleicht zum Schluss kommen.”, räumte Ara Seefisch ein und blickte die anderen der Reihe nach an. Als niemand etwas sagte, sprach sie wieder. “Ich mag mich dafür aussprechen, dass Myrie an der Schule bleiben kann. Ich fände es gut, wenn wir uns nach dem Geländekurs noch einmal zusammensetzten und gemeinsam überlegten, was sich verändert hat. Bis dahin würde ich mich auf dich und dein Versprechen verlassen.”, beschloss sie.

“Heißt das, dass in diesem Gespräch nach dem Kurs neu darüber entschieden wird, ob ich weiter an der Schule sein darf?”, fragte Myrie ängstlich.

“Nein. Du kannst hier bleiben, solange du keine weiteren schlimmeren Regelbrüche verübst.”, widersprach Ara Seefisch. “Es sei denn, jemand von euch hat etwas dagegen einzuwenden?”

Amon Krknschnock und Henne Lot schüttelten den Kopf. Amon Krknschnock lächelte und summte leise fröhlich vor sich hin.

“Dann darf, wer gehen möchte, gern gehen. Ich würde noch ein wenig bleiben, austrinken und mich etwas über das Spiel unterhalten. Ihr seid natürlich auch eingeladen dabei zu bleiben.”, lud Ara Seefisch Myrie und ihren Papa ein.

Myrie blickte zu ihrem Papa und fragte sich, ob er bleiben wolle. Sie selbst wollte bestimmt nicht. Sie war schon lange wieder sehr erschöpft.

“Komm, Myrie. Lass uns noch einen Spaziergang machen.”, schlug ihr Papa vor.


Myrie folgte ihm und sie verließen das Schulgelände durch das Haupttor. Es war schon dunkel und sie spazierten einfach einen der Wanderwege entlang des Flusses, den sie ein paar Mal anfangs mit Amon Krknschnock gegangen waren.

Es war ein sehr seltsames Gefühl, das Schulgelände nun mit einer Haupttorberechtigung zu verlassen, nachdem sie gerade mehrere Tage lang Verhandlungen hinter sich hatte, in denen sie dafür rausgeschmissen hätte werden können.

Es brauchte eine lange Weile, bis zu ihr durchdrang, was eigentlich vorgefallen war, und dass sie hier sein durfte, selbst wenn ihr Papa nicht dabei gewesen wäre. Und als sie es endlich begriff, füllte sich ihr Inneres mit einem Gefühl trauriger Freude.

Sie gingen schweigend nebeneinander her und Myrie verstand erst, dass Thale ihr Ziel war, als sie dort eintrafen. Sie spazierten durch die fast ausgestorbene, kleine Stadt bis zu einem Gästehaus nahe des Zentrums.

“Hier habe ich ein Zimmer.”, sagte ihr Papa. “Willst du allein zurück gehen?”

Myrie nickte.

Sie umarmten sich innig und Myrie machte sich auf den Heimweg. Allein und langsam, durch die dunkle, kalte Winterlandschaft am Fluss Kelden entlang, die kleinen Schneeflöckchen auf der Haut, die sofort schmolzen. Sie hielt inne, um in den Fluss zu schauen, in den ebenfalls Schneeflocken fielen, leichter als Tropfen, aber dennoch ein Muster erzeugend. Sie setzte sich ans Ufer, die Knie angezogen und sah der beruhigenden Strömung zu. Endlich kühlte sie herunter nach der Sitzung, in der ihr die ganze Zeit zu warm gewesen war. Selbst in der kalten Virtualität zuvor war ihr durch die Aufregung zu warm gewesen. Aber sie merkte jetzt erst, wie sehr es sie mitgenommen hatte, als die kleinen Flöckchen sich auf ihre warmen Arme legten und noch einmal kurz ihre Symmetrie sichtbar wurde, bevor sie sich in Wasser verwandelten.

Sie sog die Luft in ihre Lungen und fühlte sich endlich wieder frei.