Verrat

Sarina tat Myrie mächtig leid, als sie ihn am nächsten Morgen lange vor Sonnenaufgang weckte. Es war auch gar nicht so einfach. Myrie wiederholte seinen Namen, lauter werdend, und ihr war es sehr unangenehm in die Stille des Waldes hinein die Stimme zu erheben. Sie brauchte eine Weile, um sich dazu zu überwinden, und sie fühlte sich, als wäre sie die lauteste Geräuschquelle im ganzen Wald. Vielleicht war sie das sogar.

Schließlich wachte Sarina doch auf. Er stöhnte und bekam kaum die Augen auf, dabei hatte er viel länger geschlafen, als sie. Dafür hatte er viele vorangegangene Nächte nicht gut geschlafen, erinnerte sich Myrie.

Seine Haare waren nicht ganz so zerzaust wie am Vortag. Er entflocht sie dieses Mal nicht. Trotzdem brauchte er eine Weile, die Myrie sehr lang vorkam, um seine Schuhe anzuziehen und überhaupt in Bewegung zu kommen.

Endlich brachen sie auf. Es war feucht und sehr kalt. Immerhin hatte es noch nicht gefroren, aber Myrie hatte das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis es so weit wäre. Sie würden sich eine Art Hütte bauen, in der sie einen isolierten Boden verlegen würden, überlegte sie. Vielleicht eigneten sich dafür die strohartigen Halme, die es nah am Waldrand im Wald gab, doch dann bräuchten sie sehr, sehr viele davon und es wäre sehr schwierig sie so zu sammeln, dass die Spuren unauffällig blieben.

Myrie hatte bei ihrer Weckzeit mit eingeplant, kurz am möglichen neuen Versteck vorbei zu gehen, Sarina zu fragen, ob es weit genug von der Schule weg wäre, und den neuen Schlafsack dort zurückzulassen. Sarina fand den Ort zwar weniger gemütlich als den Baum zuvor, aber er hörte hier nichts von den EM-Feldern, und damit bestimmte Myrie, dass hier ihre zukünftige Unterkunft werden würde.

Das Schulgelände war still und ausgestorben. Myrie hatte zu gut geplant, und sie waren zwei Stunden vor Unterrichtsbeginn eingetroffen. Allerdings hatte es den Vorteil, dass sie in aller Ruhe das Gitter überwinden konnten, ohne Gefahr zu laufen, von irgendjemandem beobachtet zu werden.

Sarina beschloss, sich zu duschen und dann die Haare zu bürsten. Zumindest ersteres überlegte Myrie auch zu tun.

Die Schule bot zu jeder Gruppe von Schlafzimmern verschiedene Duschoptionen. Es gab Einzelkabinen, die Myrie bis jetzt immer benutzt hatte. Es gab aber auch vier Gemeinschaftsduschräume: Einen nur für Mädchen, einen nur für Jungen, einen, den weder Mädchen noch Jungen betreten durften, und einen, für den es keine Einschränkungen gab. Sarina betrat letzteren und Myrie überlegte, dass es eine gute Gelegenheit war, den Raum kennen zu lernen. Um diese Uhrzeit würde sie nur unwahrscheinlich auf eine ihr unbekannte Person treffen oder auf überhaupt eine andere als Sarina.

Während Myrie sich umsah und sich allmählich zurecht fand, löste Sarina den Zopf. Dann duschten sie. Myrie war schneller damit, und als sie gerade fertig angezogen war, begann Sarina das nasse Haar zu bürsten. Die Locken zogen sich bei dem Vorgang auseinander, sodass Myrie eine Vorstellung davon bekam, wie lang das Haar eigentlich war. Sie fragte sich, wie es sich auf der Kopfhaut anfühlte. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie nicht starren sollte, verabschiedete sich und begab sich ins Freie, um auf Olge zu warten.

Sie lehnte sich dazu an den Baum, an dem Olge sonst lehnte, wartete, – und schlief ein.

Sie wachte davon auf, dass Olge direkt vor ihrem Gesicht schnipste. Sie öffnete erschrocken die Augen und griff reflexartig kräftig nach der Hand die das Geräusch verursacht hatte. Olge drehte ihr Handgelenk mühelos aus Myries Griff, bis sie Myries stattdessen in der Hand hielt. Sie kniete breitbeinig und aufrecht vor Myrie und abgesehen von ihrem rechten Arm bewegte sie sich nicht. Es sah schön aus, fand Myrie, aber sie hatte nicht viel Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie war noch nicht einmal aufgestanden, als Olge sie schon auf den Rücken gedreht und sie am verdrehten Handgelenk auf ihrem Rücken auf den Boden fixierte. Anders als sonst ließ sie aber nicht los und Myrie brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich aus dieser unglücklichen Position zu befreien versuchen sollte. Es war aussichtslos, aber sie lernte dabei eine Menge und durfte das gelernte an Olge ausprobieren, die sie wiederum weniger erfolgreich fixierte, und auch daraus lernte sie eine Menge.

Es war nicht das angenehmste Training, fand Myrie. Sie fand es interessant, aber sie fühlte sich unwohl dabei, den Versuch zu unternehmen, Olge zu fixieren.


Während ihrer ersten zwei Unterrichtseinheiten, Geschichte und Schreiben, blieb ein Platz im Klassenraum leer. Hermen fehlte. In der Pause zwischen den beiden Fächern, in der sie den Raum wechseln mussten, ging Daina neben Merlin her und fragte ihn nach Hermen. Myrie ging direkt hinter ihnen und verfolgte das Gespräch so gut sie es bei den Umgebungsgeräuschen konnte.

“Er schläft noch. Er hat vorgestern Nacht durchgezockt und kam auch heute Nacht spät ins Bett.”, erklärte Merlin.

“Was hat er denn gezockt?”, fragte Daina neugierig, aber nicht mit einer wertfreien Neugierde, wie Myrie meinte herauszuhören.

“Eldrion.”, sagte Merlin.

“Oha.”, entfuhr es Daina.

Sie holte ihren Monokel aus einer Tasche und klemmte ihn in ihr rechtes Auge. Sie sah durch es hindurch auf ihre Finger, mit denen sie in der Luft tippte und Gesten machte. Dann nickte sie langsam.

“Er ist ins Vorfinale des Neujahrswettbewerbs gekommen und ist dort relativ knapp rausgeflogen.”, staunte sie. “Nicht schlecht.”

Myrie hatte den Eindruck, dass es ihr nicht so gut gefiel.

Allerdings konnte sie das Gespräch nicht weiterverfolgen, weil eine große Gruppe Lernender an ihnen vorüberzog, die Myries Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, weil sie sich so unvorhersehbar bewegte.

Fünf Viertel Stunden und eine Mittagspause später, in der Myrie sich gegen Ende größere Mengen kompaktes Essen druckte, tauchte Hermen zu Technik wieder auf. Der Raum, in dem sie Technik hatten, war geräumiger, als der Raum, in dem sie sonst fast immer waren. Nicht viel höher, aber er hatte erheblich mehr Plätze, als ihre Lerngruppe bräuchte. Die Tische waren U-förmig um eine Tafel an der einen Seite des Raumes platziert und sie saßen üblicherweise verstreut durch den Raum, jeweils mindestens einen Platz neben sich frei lassend, damit sie ihre Materialien ausbreiten konnten. Sie waren immer noch bei der Erstellung von Platinen, die aber inzwischen mehr können sollten, als einfach ein winziges Lichtlein steuern. Höher geordnetes Ziel war, eine Drohnensteuerung einer sehr kleinen Drohne zu bauen, und sie lernten Stück für Stück, welche Sensoren worauf reagierten und wie sie reagierten, sodass sie ihrem Ziel über die einzelnen Einheiten hinweg immer näher kommen würden.

Während Myrie ihre Unterlagen und Materialien zurechtsortierte, kam Hermen als letztes in den Klassenraum und setzte sich zwischen Myrie und Merlin auf einen dieser Plätze, die sonst immer frei blieben. Er setzte sich unnötig dicht neben Myrie. Sie kam aus dem Konzept und wusste nicht mehr, was sie eigentlich hatte aus einer Schachtel mit kleinsten Elektronikbauteilen heraussuchen wollen.

“Ich hörte, du schläfst nun mit Sarina in einem anderen Zimmer.”, murmelte Hermen.

Myrie reagierte nicht und versuchte sich auf die Schachtel zu fokussieren, aber sie nahm sie kaum war.

“Habt ihr euch verliebt?”, fragte er herablassend, die letzte Silbe ausdehnend.

Myrie schüttelte den Kopf, noch während sie dabei war, den Entschluss zu fassen, einfach gar nicht zu reagieren. Hermen musterte sie von der Seite und Myrie starrte weiter auf die Schachtel mit Bauteilen, die sie vor sich hatte ohne sie richtig wahrzunehmen.

“Nun, ich wusste gar nicht, dass ihr so eng befreundet seid. Bis jetzt sah man euch gar nicht so viel zusammen.”, sagte Hermen. Es klang fast wie eine unschuldige Feststellung.

“Sind wir auch nicht.”, antwortete Myrie reflexartig.

“Dann allerdings frage ich mich, warum du nicht Merlin gefragt hast, ob er mit dir das neue Zimmer teilen möchte.”, sagte Hermen.

“Ich…”, fing Myrie an, aber sie brach ab. Sie hatte sagen wollen, dass sie Merlin gefragt hätte, aber er abgelehnt hätte. Aber das konnte nach hinten losgehen. Vielleicht hatte Hermen Merlin schon danach gefragt, und Merlin hatte etwas anderes gesagt. Oder Hermen würde Merlin gleich fragen, sodass Myrie keine Möglichkeit hätte, sich mit ihm abzusprechen.

“Du?”, bohrte Hermen nach, forderte sie auf, zu Ende zu sprechen.

In diesem Augenblick gab sich Daina an der Tischkante Schwung, rutschte samt beinlosem Stuhl zu Myrie herüber und lehnte sich zu ihr. “Meine fünfhunderter Widerstände sind ausgegangen. Kann ich einen von dir haben?”, fragte sie.

Myrie versuchte die Bezeichnungen richtig zu deuten und schob ihr ein Kästchen hinüber.

“500 nicht 50.”, sagte Daina.

Myrie versuchte sich zu konzentrieren und schaute ihre Kästchen nacheinander an, aber ihr fiel es sehr schwer zu fokussieren.

“In der Mitte.”, sagte Daina.

Myrie schob ihr das mittlere Kästchen zu und war erleichtert, dass es das war, das Daina haben wollte.

“Nicht viel Hirn! Sage ich ja.”, kommentierte Hermen über Myrie hinweg zu Daina.

“Gegebenenfalls ist dir mal aufgefallen, dass Myrie Probleme damit hat, wenn jemand ihr so dicht auf die Pelle rückt, wie du.”, entgegnete Daina bissig. “Was machst du da eigentlich?”

“Nichts, ich wollte mich nur mit ihr unterhalten. Sie schläft nun mit Sarina in einem Zweierzimmer.”, sagte er und versuchte dabei harmlos zu klingen.

“Oh, interessant!”, sagte Daina. “Warum denn das?”

“Weil eines frei wurde und Myrie wegen ihrer Pellenprobleme dieses angeboten bekommen hat.”, erklärte Hermen.

“Warum ist sie da nicht allein eingezogen?”, fragte Daina und wandte ihren Blick Myrie zu. “Und, wenn du schon mit jemandem dort wohnen musst, warum hast du nicht mich gefragt?”

Myrie wurde sehr heiß. Im Prinzip war es eine ähnliche körperliche Reaktion, wie jene, die eintrat, wenn sie jemanden im Unterricht unterbrach oder etwas Unpassendes sagte, nur sehr viel intensiver. Sie spürte, wie es ihr die Luft abschnürte. Sie nahm die Füße mit auf den Stuhl um ihre Knie zu umarmen und ihren Kopf zu verstecken. Kalia von Stork, die Lehrkraft, die Technik leitete, und Hermen, Daina und Myrie aus der Ferne beobachtet hatte, schritt nun zu ihnen und blieb auf der anderen Seite des Tisches vor Myrie stehen.

“Gibt es ein Problem? Vielleicht eines, das mit dem Unterricht gar nichts zu tun hat?”, fragte sie.

Ihr Unterricht hatte eine klare Struktur. Er begann jedes Mal mit einem kurzen Vortrag, dann einem Gespräch darüber, das hauptsächlich dazu da war, Raum für Nachfragen zu bieten, und dann ging es in praktische Projektarbeit über. Sie durften sich dabei leise unterhalten, allerdings nutzten die Lernenden das meistens eher, um sich zu beraten, wie sie bei ihrer Arbeit am besten vorgehen könnten, statt zu Gesprächen über Freizeit. Manchmal ergab sich in so einem Gespräch eine neue Frage, die dann noch einmal mit der Gruppe und durch Kalia von Stork angeleitet besprochen wurde.

Kalia von Stork war ein schlanker Zwerg, was nach Myries Erfahrungen eher selten unter Zwergen vorkam. Sie hatte dunkle, graubraune Haut und schwarzes, glattes Haar und einen ebenso beschaffenen Bart mit dem Unterschied, dass dieser aus festerem und etwas spröderem Haar als das Haupthaar bestand. Er dünnte nach unten aus und zappelte durch die Gegend, wenn Kalia von Stork sprach, vor allem, wenn sie dabei aufgeregt war, und das war sie immer dann, wenn eine aus ihrer Sicht besonders spannende Frage gestellt worden war. Myrie mochte ihre Ausdrucksstärke.

“Myrie, möchtest du vielleicht kurz einen Spaziergang an der Luft machen und dann wiederkommen?”, fragte Kalia von Stork, als keine der drei angesprochenen Personen reagierten.

Myrie überlegte kurz und kam zu dem Schluss, dass sie in ihrem Zustand nichts zu Stande bringen könnte, und sie dann genauso gut das Angebot annehmen könnte. Sie nickte.

“Soll ich mitkommen?”, fragte Merlin, bevor ihm einfiel, dass er Kalia von Stork vielleicht noch um Erlaubnis bitten sollte. “Beziehungsweise, dürfte ich, wenn Myrie das wollte?”

“Dürftest du.”, räumte Kalia von Stork ein.

Myrie sah zu Merlin hinüber, zögerte kurz, dann nickte sie. Sie stand auf und verließ den Raum. Merlin verließ ihn nur wenige Augenblicke später und folgte ihr durch eines der versteckteren Treppenhäuser ins Freie. Myrie überkam sofort der Wunsch, über die Abgrenzung der Schule zu steigen, nicht unbedingt mit dem Ziel in den Wald zu laufen, sondern einfach soweit zu laufen, bis sie die Schule nicht mehr sehen konnte. Am liebsten auf den Ehrenberg. Sie spazierte mit Merlin an eine Stelle des Zauns, an der man an ihm gut hinauf- und vorbeisehen konnte, und schaute in die Ferne.

“Hermen wollte wissen, warum ich nicht dich gefragt hätte, ob du mit mir das Zimmer teilst, und Daina hat erst gefragt, warum ich es überhaupt teile, und dann, warum ich nicht sie gefragt hätte. Warum sollte ich Sarina gefragt haben?”, brach es endlich aus ihr hervor.

Merlin öffnete den Mund, antwortete aber nicht sofort. Er wirkte, als habe er etwas sagen wollen, aber sich dann umentschieden. Er fuhr, während er nachdachte, mit den Fingern über das Gitter und schaute ebenfalls in die Berghänge, bevor er zu einem Schluss kam.

“Ich dachte erst, wir finden dafür eine Begründung. Aber damit wäre dir nicht geholfen. An sich müssen sie aufhören zu fragen, denn sonst fragen sie immer weiter. Ich denke, du fährst am besten, wenn du sagst, du wollest nicht drüber reden. Das ist auch gar nicht so untypisch für dich.”, schlug er schließlich vor.

Myrie nickte, eine seltsam bedrückende Art von Erleichterung fühlend. Sie konnte sich vorstellen, dass es eine gute Idee wäre und funktionieren könnte, aber sie hatte Angst, dass es scheitern könnte, wie das auch mit der ersten Behauptung verlaufen war. Hinzu kam, dass sie sich nicht wohl damit fühlte, aber das konnte sie in dieser Situation auch nicht erwarten. Sie lehnte ihre Stirn gegen das Gitter, schloss die Augen und achtete darauf, endlich wieder gleichmäßig zu atmen. Dann stellte sie sich wieder aufrecht hin, öffnete die Augen wieder und nickte noch einmal.

“Ich versuche es.”, sagte sie. “Wollen wir zurück?”


Es kam allerdings nicht dazu, dass sie hätte behaupten müssen, nicht darüber reden zu wollen. Weder Hermen noch Daina sprachen sie erneut auf das Thema an. Daina half ihr, mit ihrem Projekt zum Ende der Stunde einen sinnvollen Stand zu erreichen, und erwähnte das Thema Zimmerwechsel mit keinem Wort.

Im Anschluss an Technik beeilte sich Myrie zum Treffpunkt der Wandergruppe vorm Haupteingang zu kommen. Auf diese Weise hatte sie ein Paar Augenblicke mit Amon Krknschnock allein, weil die meisten anderen sich zunächst noch wärmer anzogen, bevor sie kamen. Alle anderen, außer Olge, um genau zu sein, die aber auch ohne einen solchen Grund Zeit fast immer knapp kalkulierte. Myrie fragte sich, was das System dahinter war. Olge kam immer zu den selben Aktivitäten zeitgenau, aber zum morgendlichen Training war sie fast immer schon vor Myrie da. Bevor sie sich aber mit dieser Frage verzetteln konnte, stellte sie sich Amon Krknschnock gegenüber und holte Luft. Amon Krknschnock sah sie aufmerksam an und hörte zu summen auf. Myrie atmete aus und holte noch einmal Luft. Sie hatte beim ersten Mal ihre Frage noch gar nicht formuliert.

“Ich wüsste gern, warum es verboten ist, das Schulgelände zu verlassen.”, sagte sie.

Sie fühlte sich aufgeregt. Plötzlich dachte sie, dass Amon Krknschnock vielleicht auch unangenehme Gegenfragen stellen würde, mit denen sie nicht rechnete.

“Fragst du, weil du das Schulgelände gern verlassen würdest?”, fragte er.

Myrie dachte kurz nach, aber beschloss, dass sie die Antwort, die sie sich auf die Frage danach überlegt hatte, warum sie jetzt fragte, auch auf diese Frage geben konnte.

“Ich habe ja recht am Anfang eine Nacht im Wald verbracht. Mich interessiert, was für Gefahren ich ausgesetzt gewesen bin.”, antwortete sie.

Amon Krknschnock hob die Brauen und nickte bedächtig. “Verständlich.”, sagte er.

Myrie war dieses Mal wirklich erleichtert und sie lächelte.

“Nun, die meisten Gefahren sind weniger durch wilde Tiere gegeben, als dem geschuldet, dass sich Lernende gern überschätzen. Die Frage wäre zum Beispiel, ob Merlin und du ohne die Führung einer Schnuge aus dem Wald herausgefunden hättet.”, setzte er an und musterte Myrie eindringlich.

“Hätten wir.”, sagte sie, zögerte kurz und korrigierte dann: “Hätte ich zumindest.”

“Wie sicher bist du dir?”, fragte Amon Krknschnock und ein vorsichtiges Schmunzeln umspielte dabei seinen Mund.

Myrie überlegte kurz, ob sie sagen sollte, dass sie sich absolut sicher wäre. Sie wusste es ja, weil sie den Baum und den Weg aus dem Wald hinaus inzwischen auch ein zweites und ein drittes Mal gefunden hatte. Aber stattdessen entschied sie sich für eine andere Formulierung.

“Ich erinnere mich an genügend Bäume genau genug, um den Weg wiederzufinden.”, sagte sie schließlich.

“Möchtest du mir das gern beweisen?”, fragte die Lehrkraft.

Das Angebot, falls es nicht eine rein hypothetische Frage war, klang verlockend, aber dann würde er, geübt im Spuren lesen, wie er war, vielleicht erkennen, dass sie nicht zuletzt vor Monaten dort gewesen war, sondern in der vergangenen Nacht. Also schüttelte sie den Kopf.

“Nicht sicher genug?”, fragte Amon Krknschnock.

Es klang nicht so, als wollte er ihr damit klar machen, dass er nicht daran glaubte, dass sie den Weg finden könnte, sondern wie eine ehrlich gemeinte sachliche Nachfrage.

“Ich bin mir sicher.”, sagte Myrie. “Aber ich möchte nicht dorthin zurück.”

Amon Krknschnock nickte wieder und lächelte. “Verständlich.”, sagte er wieder.

Myrie wusste zwar nicht so genau, warum das nun so verständlich für ihn war, weil es doch eine ganze Reihe völlig verschiedener Gründe dafür geben konnte, aber es war gut, dass es so war.

“Ein zweites klassisches Problem ist, dass Unerfahrene oft das Verlangen haben auf den Ehrenberg oder in Bäume zu klettern und dann die Stabilität der Gegebenheiten überschätzen. Dann knackst schonmal so ein Ast weg und man fällt tief auf den Boden. Schon wenige Meter Sturz haben für die meisten schwere körperliche Schäden zur Folge.”, fuhr er fort.

Myrie war etwas belustigt bei dem Gedanken, dass gerade so etwas in der Richtung Merlin passiert war. Abgesehen vom Sturz natürlich. Der wäre aber ja ohne Myrie unweigerlich früher oder später gekommen. Und er wäre sicherlich keineswegs glimpflich verlaufen. Es waren außerdem erheblich mehr als nur wenige Meter Höhe gewesen.

“Ich habe viel Erfahrung mit der Stabilität von Bäumen und Bergen.”, rutschte es Myrie heraus.

Eigentlich wollte sie gar nicht, dass es darum ging, sondern sie wollte lediglich über die Gefahren aufgeklärt werden.

“In der Realität?”, fragte Amon Krknschnock.

Myrie nickte.

“Lalje Brock erwähnte, dass du dich ganz gut beim Klettern in ihren Modelliervirtualitäten machst. Aber das ist etwas sehr anderes als in der Realität.”, sagte Amon Krknschnock, und etwas Warnendes oder Drohendes klang in seiner Stimme mit.

“Ich weiß.”, sagte Myrie schlicht.

“Hast du auch Erfahrungen im Sichern?”, fragte die Lehrkraft mit etwas zusammengekniffenen Augen.

Myrie zögerte kurz, um zu überlegen, ob sie damit etwas verraten würde, was sie nicht verraten wollte, aber befand, dass es nicht der Fall war, und griff in eine ihrer Taschen, um Sicherungsklemmen zu zeigen, die sie zuweilen in Felsritzen schob, um sie dort zu fixieren.

“Du bist gleich dafür ausgerüstet.”, sagte Amon Krknschnock.

Er klang beruhigt, und dadurch fiel Myrie erst auf, dass er während ihres bisherigen Gesprächs angespannt gewesen war.

“Es gibt an dieser Schule Kurse, in denen Lernenden, die gern das Schulgelände verlassen würden, einiges über die Umgebung hier beigebracht wird. Sie enden mit einer ausgiebigen und individuellen Prüfung jeder einzelnen Person, und wenn diese erfolgreich ist, bekommt die entsprechende Person Ausgangserlaubnis. Ich nehme an, du hättest da Interesse?”, fragte Amon Krknschnock.

Myrie blieb die Luft weg und es zog sich in ihr zusammen vor Freude. Das war, was sie wollte. Unbedingt. Sie wollte sich gern mit Erlaubnis außerhalb des Schulgeländes aufhalten und nicht heimlich. Und sie wusste, dass das Gelände hier anders war, als in der Umgebung von Byrglingen. Beispielsweise gab es in Byrglingen keinen solch beeindruckenden Wald. Und der eine Berg hier war auch viel höher als die Berge in Byrglingen. Sie sah den Sinn und Zweck einer Einführung in das Terrain vollkommen ein, auch wenn sie vielleicht lieber durch Omantra darüber aufgeklärt würde, weil ihre Lern-KI nicht so vorsichtig mit ihr umsprang, ihre Grenzen bereits gut einschätzen konnte. Aber sie würde sich bestimmt in einem entsprechenden Kurs auch nicht langweilen. Sie nickte heftig und flatterte mit ihren Händen vor ihren Schultern. Amon Krknschnock lächelte breit.

Die Schiebetüren des Haupteingangs schoben sich auf und Merlin, Daina und Ponde traten auf die gepflasterte Fläche davor. Myrie hätte gern noch mehr Zeit mit Amon Krknschnock unter vier Augen verbracht, überlegte kurz und beschloss dann, das Gespräch erst auf dem Weg fortzusetzen, zumal sie auch warten musste, bis sie nicht mehr so überwältigt von der Mitteilung über die Kurse wäre, und wieder sprechen könnte.

Daina trat auf sie zu, sah sie grinsend an und schüttelte langsam den Kopf.

“Du bist echt stark, Myrie, dass du bei den Temperaturen immer noch ärmelos herumläufst.”, sagte sie.

In einem kühnen Anflug von Mut ergriff Myrie Dainas Hände, – sie versuchte es ebenso fragend zu tun, wie Merlin es am Vortag bei ihr gemacht hatte, sodass sie jedes Zögern oder Zurückweichen als Grund dafür nehmen könnte, mit ihrem Vorhaben aufzuhören –, und legte sie an ihre Oberarme, die zwar nicht warm wie eine Heizung waren, aber doch spürbar wärmer als die Außentemperatur. Dainas Grinsen ging in ein vorsichtiges Lächeln über, in einen eher unsicheren Gesichtsausdruck, den Daina selten hatte und den Myrie daher nicht deuten konnte. Ihre Hände strichen eine handbreit über Myries Oberarme nach unten, dann löste Daina die Hände und ließ sie sinken. Sie ließ sie nicht fallen, sondern bewegte sie vielmehr langsam in eine entspannte hängende Haltung.

“Ich hatte mich bei Ara erkundigt, warum du sie geschlagen hast und sie meinte darauf, dass man dich nicht anfassen dürfe. Das scheint nicht so strikt zu gelten, wie sie das gesagt hat.”, stellte Daina fest.

Plötzlich wurde Myrie einiges an Dainas vergangenem Verhalten klarer. Daina hatte in ihrer ersten Etappe Schatzvulkan Gafur davon abgehalten, sie anzufassen, und zwar in einem für sie denkbar ungünstigen Augenblick. Myrie hatte es damals als sehr sensibles Verhalten interpretiert, was es sicher auch unter dem Gesichtspunkt noch war, dass Daina auf diese Information Acht gab, die sie damals von Ara Seefisch bekommen hatte. Aber eine andere Situation war Myrie viel eigenartiger vorgekommen, nämlich, dass Daina sich so erschreckt hatte, als Olge sie im Training angegriffen hatte. Sie hatte es zunächst so interpretiert, dass Daina Angst gehabt hatte, Olge hätte Myrie tatsächlich etwas antun können, aber es war ihr etwas unstimmig vorgekommen.

Myrie lächelte. Diese Erkenntnis machte ihr Daina das erste Mal auf eine vertraute Art sympathisch und nicht nur auf eine eher zweckmäßige und etwas fremde.

Endlich tauchte auch Olge auf und die Gruppe setzte sich in Bewegung. Amon Krknschnock wählte eine Route, die steiler den Ehrenberg hinaufführte, als sie es sonst vom Wandern bei ihm gewohnt waren. Olge war der Gruppe wie immer voraus, aber auch die übrige Gruppe verteilte sich dadurch mehr als sonst. Das kam Myrie sehr gelegen und nicht nur, weil sie ihr Gespräch mit Amon Krknschnock fortführen wollte, sondern auch, weil es sich nach mehr Raum anfühlte, und weil sie bei dieser Strecke tatsächlich eine gewisse Anstrengung verspürte. Nicht viel, aber es war dennoch gut tuend. Sie ließ sich hinter die anderen zurückfallen, denn Amon Krknschnock blieb hinter ihnen, um sie im Blick zu behalten.

“Wann und wo kann ich an einem solchen Kurs teilnehmen?”, fragte sie, als er sie erreicht hatte.

“Im Frühling findet der nächste Kurs statt. Falls du mit einem Vorlieb nehmen möchtest, den ich leiten werde.”, sagte er. “Sonst müsstest du länger warten.”.

Auch Merlin gesellte sich nun zu ihnen um zuzuhören.

“Warum erst dann?”, fragte Myrie leicht enttäuscht.

“Der Winter naht.”, antwortete Amon Krknschnock und schaute in den Himmel, einen leicht verträumten Ausdruck auf dem Gesicht.

“Ist der Winter nicht noch gefährlicher, als der Sommer? Sodass es sich besser eignen würde, die Gefahren im Winter zu erklären?”, bohrte Myrie weiter.

“Im Winter kommt natürlich die Gefahr hinzu, wenn man sich dann verläuft, dass man erfrieren könnte. Ist es ein besonders kalter Winter, werden die eher seltenen Überfälle durch Tiere auch etwas häufiger, aber wenn man weiß, wie man sich schützt, spielt es kaum eine vermehrte Rolle.”, erklärte Amon Krknschnock. “Aber auch der Übermut der Lernenden wird meist geringer, weil die Finger kalt werden. Ein Test, wie verantwortungsbewusst sie sich verhalten, ist aussagekräftiger, wenn es wärmer ist.”

“Man könnte einen Vortest gestalten, der nur bis zum Frühling zum Kurs gültig ist.”, schlug Myrie vor.

“Du hast es wohl eilig.”, stellte Amon Krknschnock mit einem Grinsen fest. Er schien sich Myries Vorschlag wirklich durch den Kopf gehen zu lassen, schüttelte dann aber den Kopf. “Ich verstehe dein Anliegen. Ich unterrichte ja nicht ohne Grund Fächer, die alle im Freien stattfinden. Aber ich habe noch eigene Pläne, die ich verwirklichen möchte. Wenn ich dich wirklich in sinnvoller Weise prüfen wollte, bräuchte das Zeit, die ich mir gerade nicht nehmen möchte, und Konzentration, die ich im Moment nicht habe.”, lehnte er ab.

Myrie nickte. Sie war nicht allzu enttäuscht, sie hatte nicht damit gerechnet. Sie hoffte einfach, dass sie sich selbst gut genug einschätzen könnte, bis der Frühlingskurs heranrückte. Sie hatte vor sich auf den Boden geschaut, hob nun aber den Kopf und sah dem Lobbud ins Gesicht. Er war kleiner als sie, also musste sie den Kopf nicht sehr heben.

“Aber könntest du mir nun schon einmal ein bisschen darüber erzählen? Damit ich mich darauf einstellen kann?”, bat sie.

“Aber natürlich!”, rief Amon Krknschnock frohgemut aus. “Ich habe ja auch bereits angefangen.”

Er holte tief Luft und erzählte ihr wie sie sich vor den Gefahren des Waldes und der Umgebung schützen konnte. Das meiste wusste sie. Sie durfte sich keinen Frischlingen nähern, weil Waldschweineltern ihre Kinder schützen wollen würden und dann womöglich trotz ihrer Angst vor Zweibeinern angreifen würden. Sollte es zu einer Bedrohung durch ein Waldschwein kommen, war es wichtig, sich ruhig und harmlos zu bewegen, sich möglichst wenig in den Weg zu stellen und am besten irgendwo hinaufzuklettern.

Allgemein war es nicht gut, sich Jungtieren zu nähern. Sogar die eher ungefährlichen Bären, konnten dann zur Gefahr werden. Myrie wusste, dass es sie gab, hatte aber noch nie einen gesehen. Sollte sich ein Bär nähern, war nicht ratsam wegzulaufen, sondern stattdessen dem Bären klar zu machen, dass man ein Zweibeiner war. Hoch aufrichten, mit den Armen wedeln und auf ihn einreden. Dann floh der Bär meistens schon. Wenn er überhaupt auf die Idee käme, neugierig zu sein. Essen, dass Bären anlocken könnte, sollte besser fern ab der Nachtstätte gelagert werden.

Aber all das wusste Myrie schon von Omantra, weil es in Byrglingen ganz ähnlich aussah. Außer, dass es weniger bewaldet in Byrglingen war und damit die Dichte der Tiere geringer.

Das Einzige, was Myrie wirklich neu war, war die Warnung vor Spinnen. Der Finsterwald, der etwa eine gut durchmarschierte Tagesroute westlich von ihnen seine ersten Ausläufer hatte, war von gefährlichen, großen Spinnen bewohnt, die Netze spannen, die sogar groß genug waren, um große Orks und Elben einzufangen. Der Finsterwald war außerdem so dunkel, dass sie gerade zu unsichtbar zwischen den Bäumen hingen. Im Dämmerwald war es den wirklich großen Spinnen zu hell zum Beute Jagen. Aber einige kleinere Spinnen dieser Art, welche, die durchaus ein Körpergewicht von bis zu 5kg erreichen konnten, wagten sich manchmal in den Dämmerwald vor und spannen ihr Netz. Ihre Netze waren ziemlich stabil und Amon Krknschnock riet sehr dazu, zu vermeiden mit ihnen in Berührung zu kommen, wenn es eben ging. Er meinte, Myrie wäre wahrscheinlich schon in der Lage, sich aus einem solchen zu befreien, aber solange sie verheddert wäre, bestünde die Gefahr, dass eine zugehörige Spinne sie mit ihrem Nervengift angriff.

Für Lebewesen ihrer Größe, beruhigte sie Amon Krknschnock, wäre es sicher nicht tödlich. Aber es würde zu unangenehmen körperlichen und geistigen Reaktionen führen, wie Fieber und Halluzinationen.

Es beruhigte sie auch, dass Amon Krknschnock betonte, dass sich diese Spinnen keinesfalls nahe des Schulgeländes aufhielten. Der Wald war hier zu licht und hell für sie. Sie gehörten eigentlich in den Finsterwald und breiteten sich nur vorsichtig in den Dämmerwald aus.


Im Anschluss an das Wandern wollte Myrie am liebsten direkt zurück in den Wald gehen, aber es waren ihr ein paar zu viele Leute auf dem Gelände unterwegs, um sich das ungesehen zuzutrauen. Außerdem müsste sie sich noch mit Sarina treffen.

Sie beschloss stattdessen das Schulgebäude weiter zu erkunden. Sie ging durch die verschiedenen Trakte eines ihr unbekannteren Gebäudeabschnitts, bis es ihr vertraut vorkam.

Dann endlich, als es dämmerte, traf sie sich mit Sarina und verließ das Schulgelände. Sie klärte Sarina über die Gefahren des Waldes auf, wie Amon Krknschnock sie aufgeklärt hatte. Sarina schien nicht gerade angetan davon, dass Myrie jemanden danach gefragt hatte. Er meinte, es könnte verdächtig sein. Myrie beschloss daraufhin, lieber nicht auch noch von der Situation mit Hermen und Daina in Technik zu erzählen. Da Sarina nicht mit in Technik saß, hatte er davon nichts mitbekommen.

Myrie ging nicht direkt zu ihrem Ziel, sondern sah sich nach gutem Dämmmaterial für Isolierung gegen die Kälte um, die im Winter auf sie zukommen würde.

“Müssten wir nicht allmählich da sein?”, fragte Sarina nach einer Weile.

“Oh.”, sagte Myrie. “Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, dass ich zunächst passendes Gestrüpp sammeln möchte, mit dem wir den Boden isolieren können.”

“Wäre nett gewesen, ja. Ich überlegte schon eine Weile, ob wir uns verlaufen hätten.”, sagte er etwas vorwurfsvoll.

“Es tut mir leid.”, sagte Myrie.

Sarina nickte. Sie gingen wieder eine Weile still hintereinander her, bis sie nah des Waldesrands, aber ein gutes Stück von der Schule entfernt, einen Hügel hinaufstiegen, der etwas weniger dicht bewaldet war. Hier war Gras in langen Büscheln gewachsen, dass über den Sommer vertrocknet war. Myrie begutachtete die Beschaffenheit des Bewuchses und beschloss, dass das Gras so verschieden lang war, dass man große Teile davon entfernen konnte, ohne, dass es auffiele. Sie zeigte Sarina, wie sie vorging und sie gewannen auf diese Weise jeweils einen Arm voll weichen Grases.

Dann führte Myrie sie zielsicher in ihr neues Versteck. Sie beschloss, dass es lange nicht genug Dämmmaterial wäre und machte sich erneut auf, den umgefallenen Baum zu überqueren. Sarina seufzte und Myrie sah sich noch einmal um.

“Ich bin sehr müde. Wärst du böse, wenn ich dich mit dem Suchen allein ließe? Morgen würde ich wieder mitkommen.”, sagte er.

Myrie schüttelte den Kopf. “Ich komme allein zurecht.”, sagte sie.

Sie wollte gern spätestens morgen Abend eine brauchbare, winterfeste Unterkunft gestaltet haben. Sie mochte es, wenn sie etwas geplant hatte, den Plan möglichst zeitig durchzuführen. Also suchte sie allein weitere solcher Hügel. Sie fand vorwiegend welche in der Nähe von Wanderwegen, die zwischen dem Wald und sachten Erhöhungen des Ehrenbergs entlangführten, aber genügend weit weg, um von den Wanderwegen nicht gesehen zu werden.

Sie ging fünf Mal los, bis sie mit der Menge des Dämmmaterials zufrieden war. Als nächstes sammelte sie passende herabgefallene Äste. Äste, die fast so dick waren, wie ihr Handgelenk, die lang genug waren, um sie quer über ihre Liegestätte zu legen und auf Auflageflächen links und rechts davon aufzuliegen. Als Auflageflächen nahm sie ebenfalls Äste, aber welche, die noch dicker waren. Unter den Ästen, die den Boden bildeten, konnte auf diese Art ungequetscht ihr Dämmmaterial liegen. Sie brauchte fast bis Mitternacht, um den Boden fertig zu stellen und verschob den oberen Teil der Unterkunft, über den sie sich auch noch nicht so viele Gedanken gemacht hatte, auf den nächsten Tag.

“Ich fand den Waldboden ehrlich gesagt bequemer, als diesen Stöckerboden.”, kommentierte Sarina.

Myrie runzelte die Stirn. Daran hatte sie nicht gedacht. Sie war es schließlich gewohnt, auf felsigem Untergrund zu schlafen und wusste, dass es ihr nichts ausmachen würde, zumal die Schlafsäcke den Boden auch ein Stück weit abpolsterten, aber natürlich wusste sie, dass ihre Ansprüche an Böden, die sie für gut genug zum Schlafen hielt, weit unterhalb denen der meisten lag.

“Wir können Moos drauflegen. Das macht ihn wieder weich.”, sagte sie und zog doch noch einmal los.

Moos zu beschaffen, war einfacher als Gras. Aber Moos zog Feuchte aus dem Boden und daher hielt sie es für nicht so geeignet als Dämmmaterial.

Sollte das Moos aber auf den Ästen feucht werden, so könnte sie es einfach austauschen.

“Du setzt dich wirklich ein.”, sagte Sarina, als Myrie mit der zweiten Ladung Moos zurückkam und er zum zweiten Mal seinen Liegeplatz verändern musste, weil etwas unter ihm verteilt wurde.

“Es wird Winter.”, antwortete Myrie nur.

“Ah, ich verstehe.”, sagte Sarina.

Myrie breitete ihren Schlafsack neben ihm auf dem Moos aus und kroch hinein. Sie fühlte sich wohl, stellte sie fest. Das Gespräch mit Amon Krknschnock hatte ihr Sicherheit gegeben, sodass sie sich um die Gefahren keine Sorgen mehr machte. Es roch nach Moos und Wald und ihre Muskeln waren müde vom Sammeln und durch die viele Bewegung im Wald. Es war angenehm kühl außerhalb des Schlafsacks und sehr behaglich darin. Es gab keine vier Wände, keine Tür und keine Decke, die sie eingesperrt hätten. Nur ein loses Astwerk wölbte sich über ihr in nicht allzu hoher Höhe. Das würde sich zwar noch ändern, aber es würde niemals undurchdringlichen Wänden gleichen, was sie vorhatte zu bauen. Es würde immer zugiger sein, immer mehr nach Wald riechen, als ihr Zimmer, selbst bei offenem Fenster. Und es war auch besser, einen Ort zu zweit zu bewohnen als zu viert. Ohne Frage, wenn Myrie ein Zimmer zu zweit angeboten worden wäre, sie hätte es genommen. Aber sie hätte in der Tat Merlin oder Daina gefragt.


Nun nicht mehr so weit vom Schulgebäude entfernt war ihre Aufstehzeit verträglicher und sie war wach und ausgeschlafen am neuen Tag. Es fiel ihr leichter, dem Unterricht zu folgen, als an irgendeinem Tag in der Vergangenheit und sie war sogar so kühn, sich an einer Stelle sinnvoll zu beteiligen. Sogar Biologie machte ihr mehr Spaß als sonst, auch wenn sie immer noch nicht sicher war, ob Julov Floster eine bessere Lehrkraft für sie wäre, als Omantra eine war. Immerhin benutzten sie viel das Mikroskop, was Spaß machte, aber sie taten dabei nichts, was nicht auch in einer einfachen Virtualität machbar gewesen wäre.

Am Nachmittag telefonierte sie erst mit Ahna, – und ihr fiel es dabei schwer, nicht von ihrer neuen Schlafstätte zu berichten –, und machte sich dann wieder in den Wald auf. Sie musste lange dafür warten, bis sie Gelegenheit fand, das Gitter unauffällig zu überwinden, da es noch hell war. Sarina hatte noch Unterricht und Myrie würde ihn später abholen.

Sie baute zunächst den oberen Teil der Hütte fertig, indem sie dünne Äste zwischen die gewachsenen Äste des Busches flocht und Moos in das entstandene Gitter verklemmte. Wäre das Konstrukt leicht erreichbar mitten im Wald gewesen, wäre es zu auffällig gewesen, aber zwischen den umgefallenen Bäumen und Büschen, unter niedrigen Ästen anderer Bäume fiel es kaum auf. Es war eine kleine Hütte geworden, in der Myrie an einer Stelle gerade so stehen konnte, und deren Boden nicht viel mehr Platz bot, als für Sarina und sie und ein wenig Gepäck. Den Eingang hatte Myrie an einer Stelle gelassen, vor der ein Gestrüpp wucherte, dass sie zur Seite biegen mussten, um in ihre Schlafstätte zu kriechen. Auf diese Weise war er nicht nur versteckter, sondern auch noch windgeschützter, als dieser Ort im Wald eh schon war.

Myrie brauchte nicht so lang wie am Vortag, um ihr Vorhaben abzuschließen. Es wurde jetzt erst langsam dunkel, und sie setzte sich auf den umgefallenen Brückenbaum, um Abendessen zu sich zu nehmen, und sich auszuruhen. Sie war gerade fertig mit einem Stäbchen, als Sarina endlich anrief um abgeholt zu werden. Myrie traf ihn bereits im Wald, er war dieses Mal allein über das Gitter gestiegen und hatte direkt hinter der Gestrüppgrenze im Wald auf Myrie gewartet.

“Wie orientierst du dich hier?”, fragte er.

Myrie hatte noch nie über die Frage nachgedacht. Es kam ihr so natürlich vor. Sie blieb stehen und vergegenwärtigte sich, was ihr alles auffiel.

“Generell weiß ich, in welche Richtung ich gehe. Ich weiß, wie die Bäume zueinanderstehen. Ich weiß, was es für Bäume sind. Ich weiß, wie hoch sie im Verhältnis zueinander sind. Ich erinnere mich an Äste, die ihnen auf besonderen Höhen wachsen, oder die schief wachsen. Ich erinnere mich an die Form der Bäume. Das macht sie eindeutig, sodass ich eben weiß, wo ich bin.”, erklärte sie.

Sie fragte sich, ob das bei anderen nicht einfach so war und kam zu dem Schluss, dass es nicht so sein konnte. Sonst würde es überhaupt keinen Sinn ergeben, dass sich andere im Wald verlaufen könnten.

“Hmm.”, machte Sarina und schaute in die Bäume um ihn herum. “Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Baum und dem Baum?”, fragte er und deutete auf zwei Nadelbäume in ihrer Umgebung.

“Der da hat auf halber Höhe eine lichtere Stelle.”, sagte Myrie sofort und deutete auf den einen von beiden.

Sie lächelte bei dem Gedanken, dass sie diesen Baum als besonders herausstechend empfand.

Sarina nickte bedächtig. “Ich muss das lernen.”, sagte er.

“Dann gehen wir dieses Mal sehr langsam und du siehst dich genau um.”, schlug Myrie vor.

“Eine gute Idee, schätze ich.”, antwortete Sarina. “Und du nimmst dieses Mal einen direkten Weg.”


Myrie brachte Sarina auf diese langsame Art und Weise zu ihrer Schlafstätte. Er begutachtete ihr Werk kritisch, und machte keinen abwertenden Kommentar, nickte sogar zustimmend. Dann ließ sie ihn dort zurück, und machte sich auf, einen Waldspaziergang zu unternehmen. Ohne Ziel, einfach um den Wald zu erkunden. Sie kletterte nacheinander auf ein paar der höheren Bäume, um den Ehrenberg über den Wald hinweg anzusehen. Es reizte sie auch, ihn zu erkunden, aber sie ließ davon ab, weil sie dort nicht der Wald vor Blicken schützen würde.

Sie kehrte um, als es dunkel war, und sie die Sterne am Himmel sehen konnte und schlief vergleichsweise früh und sehr zufrieden ein.

Sie weckte Sarina früher als am Tag zuvor, damit er versuchen konnte, den Weg aus dem Wald hinaus zu finden. Er war unsicher dabei. Sie machten einige Male Halt und Myrie beschrieb die ihr auffallenden Besonderheiten der Umgebung. Obwohl es länger dauerte, waren sie dennoch wie immer sehr pünktlich auf dem Gelände.

Während Sarina sich warmduschte und seine Haare in Ordnung brachte, traf sich Myrie vor der Schule zum Morgenwandern mit Merlin.

“Das Zimmer ist zu zweit ganz schön leer. Wir haben deine Matratze auf Sarinas gelegt und ich habe mich in der Ecke noch mehr ausgebreitet.”, erzählte ihr Merlin.

Dann erkundigte er sich danach, wie Sarina und sie sich nun im Wald eingerichtet hätten und Myrie erzählte ihm von ihrem Hüttenaufbau.


Am Nachmittag traf sie sich mit Daina, Theodil und Gafur für die vorletzte Etappe Schatzvulkan. Sie war kampflastiger als die vorangegangenen, und sprach Myrie daher weniger an, als die vergangenen. Im Anschluss an die Etappe berieten sie darüber, welches Spiel sie als nächstes gern gemeinsam spielen wollten. Myrie kannte keins der vorgeschlagenen. Zwar stellte Daina jedes kurz vor, aber sie tat es viel zu schnell, sodass Myrie noch über das eine nachdachte und sich versuchte den Namen einzuprägen, während Daina schon mit dem nächsten längst angefangen war. Am Ende standen vier Spiele in der engeren Auswahl und sie wollten beim nächsten Treffen endgültig darüber entscheiden.

Myrie verabschiedete sich, und weil es schon dunkel war und sie müde, beschloss sie, direkt zu ihrer Hütte zu laufen. Sie sendete Sarina eine Kurznachricht, dass sie sich hinter dem Gewächshaus treffen wollten, und musste nur kurz warten, bevor er auftauchte.

Dieses Mal fand Sarina den Weg das erste Mal allein, auch wenn er immer noch keinen zielgerichteten Eindruck machte. Sie kamen dabei nur langsam voran und Sarina blieb einige Male eine Weile stehen, um sich zu erinnern. Myrie wartete dann stets geduldig.

Auch am nächsten Morgen, standen sie früher auf, als nötig gewesen wäre, hätte Myrie sie geführt. Doch Sarina wollte den Weg nun wirklich sicher selbst finden können. Es war Lantag, das Wochenende nahte und Myrie würde nach Hause fahren, während Sarina das Wochenende in der Schule und die Nächte allein im Wald verbringen würde.

Sie kamen ein wenig schneller voran, als am Abend zuvor. Sarinas Pausen waren kürzer und er wusste auswendig, welche Besonderheiten in welcher Reihenfolge kamen, musste sie nur suchen. Myrie vertraute bald darauf, dass er den Weg finden würde, entspannte sich, sah sich die Umgebung an, während sie langsam hinter ihm her ging, bis sie den Wald verließen.

“Daina.”, sagte Sarina mit starkem Unbehagen in der Stimme.

Myrie wendete den Kopf von den Vögeln in den Bäumen am Waldrand ab und sah zum Gitter. Am Gewächshaus hinter dem Gitter lehnte Daina mit vor der Brust verschränkten Armen. Sie trug einen langen, dunkelbraunen Mantel, der sich kurz unter ihrem Schritt schlitzte, sodass er ab dort an ihren Beinen vorbeifiel. Sie hatte das eine Bein vor das andere gelegt. Myrie gefiel die Pose. Aber dass sie da stand, versprach nichts Gutes. Das erste Mal, seit sie mit Sarina zusammen unterwegs war, nahm sie Anlauf und sprang in zwei Sätzen über das Gitter, rollte ab und kam vor Daina wieder auf die Beine.

“Hallo Myrie.”, sagte Daina leise und bedrohlich.

Myrie fragte sich, was sie tun sollte, ob es überhaupt einen Sinn ergab, etwas anderes zu sagen, als die Wahrheit. Vielleicht konnte sie Daina klar machen, dass sie nicht die Nächte im Wald verbracht hätten, sondern heute morgen erst das Schulgelände verlassen hätten aus irgendeinem Grund. Aber wenn Daina hier jetzt stand und wartete, hatte sie gewusst, dass Myrie und Sarina von hier kommen würden, hatte sie wahrscheinlich schon gestern Abend beobachtet. Myrie forderte Omantra mit einer Geste auf, die noch nicht abgehörten Nachrichten abzuspielen. Sie hatte 6 entgangene Anrufe von Daina, in der sie keine Nachricht hinterlassen hatte, und eine Sprachnachricht von kurz nach Mitternacht:

“Myrie, nimm bitte endlich deine Gespräche entgegen. Ich weiß, wo ihr jede Nacht schlaft. Ich…”

Myrie machte die Geste für pausieren. Es waren unscheinbare Gesten, aber Daina entgingen sie nicht.

“Du hast deine Nachrichten endlich abgehört?”, fragte sie im selben bedrohlichen Tonfall.

“Zum Teil.”, antwortete sie.

“Dann mag ich dich zunächst erstmal beruhigen. Ich habe euch nicht verraten. Aber vielleicht tu ich es noch. Ich hätte nur eine Frage.”, sagte Daina. “Warum hast du Sarina und nicht mich gefragt?”

Myrie beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen.

“Sarina hat mich gefragt. Sarina hatte auch das ursprüngliche Problem. Er hört die EM-Felder.”, sagte Myrie.

Daina starrte sie einen Augenblick regungslos an, dann nickte sie langsam. Ihr wütender Ausdruck im Gesicht schwand allmählich. Sie nickte Sarina zu, der sie inzwischen auch erreicht hatte.

“Guten Morgen.”, sagte sie.

Sarina nickte bloß zurück.

“Nun, ich habe euch nicht nur nicht verraten.”, sagte Daina schließlich und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. “Nachdem ich erstmal beschlossen hatte, dass ich es eher nicht tu, habe ich den ganzen Rest der Nacht an dem Problem gebrütet, wie ich euch Haupttorberechtigungen geben kann. War wirklich nicht einfach. Aber ich habe nun zwei Berechtigungen, die ich euch zuschicken kann. Damit könnt ihr einfach durch das Haupttor rausgehen. Das fällt weniger auf. Es war wirklich ein Leichtes, dir gestern einfach nachzugehen, Myrie. Ich hoffe, ich bin die einzige Person, die auf diese Idee gekommen ist.”

Myrie durchströmte ein warmes, starkes Gefühl. Sie zitterte ein wenig davon und hatte das Gefühl nicht mehr zusammen zu halten. Daher spannte sie die Muskeln an, drückte ihre Fäuste in die Wangen und hielt die Luft an.

Daina runzelte die Stirn. “Ist das Freude?”, fragte sie skeptisch.

Myrie nickte.

“Das ist wirklich nett von dir.”, bedankte sich Sarina bei Daina.

Es klang wenig emotional, fand Myrie. Daina nickte Sarina nur einmal zu und Myrie wurde klar, dass Daina das vor allem für sie gemacht hatte. Ihr war eigentlich auch noch gar nicht so sehr bewusst, ob es etwas war, was sie sich gewünscht hätte. Es kam ihr seltsamerweise noch schlimmer vor, mit einer gefälschten Zugangsberechtigung das Schulgelände zu verlassen, als über den Zaun, aber sie wusste nicht sofort warum. Vielleicht war es so, dass über das Gitter zu steigen eine Art ehrliche, bewusste Regelverletzung blieb, aber das Verlassen des Geländes durch das Haupttor es so darstellte, als fühlte sie sich auch berechtigt dazu.

Aber Daina hatte recht damit, dass es weniger auffallen würde. Würden sie Leute beim Verlassen des Haupttors beobachten, so würden sie einfach denken, sie hätten zurecht eine Berechtigung. Es war unauffälliger.

Ein weiterer Vorteil, der Myrie sofort in den Kopf kam, war, dass sie auch weniger Spuren direkt um das Schulgelände herum hinterlassen würden. Beim Haupttor waren so viele Spuren, dass ihre darin untergehen würden. Sie konnten dann den Wald an irgendeiner passenden Stelle von einem Wanderweg aus betreten. Myrie ging im Geiste die Pfade ab und ihr fiel sehr schnell eine gut geeignete Stelle ein, an der der Pfad direkt an einer Stelle des Waldes vorbeiführte, die aufgrund einer beliebten Blumendecke aus kleinen lila Blümchen dazu einlud, dort ein Stück vom Weg abzuweichen und in den Wald hineinzugehen. Es führten viele Spuren von Lernenden an der Stelle in den Wald hinein, einige tiefer, einige weniger tief. Ihre würden dort in keinster Weise auffallen.

Myrie war im ersten Augenblick aber vorwiegend deshalb dankbar, weil sich Daina so für sie eingesetzt hatte. Außerhalb ihrer Familie hatte noch nie jemand etwas in dieser Art für sie getan, und es überwältigte sie.

“Danke!”, sagte sie sehr leise, aber mit einem Strahlen auf dem Gesicht.

“Schon gut.”, sagte Daina und lächelte auch.


Die Wochen kamen und gingen, Laub begann von den Bäumen zu rieseln, nur die Nadelbäume blieben natürlich grün. Myrie fuhr an den Wochenenden nach Hause, wo sie allmählich die Nächte nicht mehr im Gebirge verbrachte. Es war oft zu nass und ungemütlich kalt draußen. Eisiger Wind wehte ihr durchs Gesicht, wenn sie kletterte. Sie mochte auch den Wind, natürlich. Sie hatte auch darüber nachgedacht, sich einen Schlafsack zu beschaffen, der sie auch bei eisigen Temperaturen gut schützen könnte, aber so einer wäre ihr zu sperrig gewesen, hätte sich nicht so klein entplustern lassen. Und sie hätte auch ihr Gesicht verpacken müssen, und das mochte sie nicht.

Es war ihr aber auch recht, die Nächte im Haus zu verbringen, in dem sie groß geworden war, das sie ja nun viel seltener sah. Sie mochte es, am Morntag früh aufzubrechen, einen ausgiebigen Spaziergang zu machen und Abhänge zu erklimmen, sich zu spüren, den Fels zu riechen und die Geräusche der Natur zu hören, und anschließend am frühen Abend sich warm zu duschen, und zu merken, wie die Kälte aus ihrem Körper wich. Sie mochte auch danach mit ihrer Familie zu Abend zu essen, sich mit den Brüdern über das neue semirealistische Etappenabenteuer zu unterhalten, was sie nun spielte, und zum Abschluss des Tages neue Virtualitäten der Schwester mit dieser zu erforschen.

Die Nächte im Gebirge fehlten ihr kaum und das lag vor allem daran, dass sie die Nächte in der Schule fast im Freien verbrachte. Wie sie vermutet hatte, bot der Wald mehr Schutz vor der Kälte, als das Gebirge in Byrglingen. Der Wind wurde durch die Bäume abgefangen und den Luftzug, der blieb, dämpfte wiederum ihre Hüttenkonstruktion ab. Ihre Hütte war frisch, aber sie war auch klein, und wenn sie dort zu zweit eine Stunde gelegen und geatmet hatten, war es warm genug, fand Myrie.

Sarina hingegen fror jede Nacht ein bisschen. Er kroch schon seit einiger Zeit mit Mantel in den Schlafsack und deckte sich zusätzlich mit Myries altem Schlafsack zu. Es war außerdem ein wärmerer Mantel als der, den er zu Anfang getragen hatte. Myrie bemühte sich, die Hütte noch weiter durch Moos und Rinde auf dem Dach zu isolieren und es gelang ihr auch ein wenig.

Dann folgte der Schnee.


Myrie wusste es, bevor sie die Augen aufschlug. Ein Wald roch anders, wenn Schnee lag. Er roch feucht und klamm und weniger grün, weniger nach Holz. Ein Wald machte auch andere Geräusche, wenn Schnee lag. Myrie mochte die Geräuschkulisse, die Schnee mit sich brachte, sie wirkte friedlich. Sie schlug die Augen auf und sah als erstes, dass sich ihr Dach tiefer wölbte. Aber es war ein elastischer Bau, sodass nichts gebrochen und lediglich die Decke niedriger war und die Wände sich nach außen bogen. Das Geäst vor ihrem Eingang lugte nun herein. Myrie war nachts dadurch wach geworden, lange bevor ihr Wecker sie geweckt hätte, lag nun mit offenen Augen da und machte sich Gedanken darüber, wie sie dieses Mal zur Schule gehen sollten. Denn würden sie den Weg gehen, den sie immer nahmen, seit Daina ihnen Haupttorberechtigungen gegeben hatte, so würden sie eine frische Spur im Schnee hinterlassen. Dass der Weg zum Haupttor ein viel genutzter Spazierweg war, würde ihnen nicht viel helfen, denn der Schnee war frisch und um diese Uhrzeit waren wahrscheinlich höchstens einzelne dort entlang gewandert. Die alte Variante über den Zaun hätte fast das gleiche Problem. Zwar würde dort eher weniger nach Spuren gesucht werden, aber wenn sie doch gefunden würden, läge es sehr nahe, dass das Schulgelände unbefugt verlassen worden wäre.

Myrie dachte lange nach und kam auf keine gute Lösung. Um die Schule herum gab es einen zugeschneiten Ring, der höchstens fliegend ohne Spuren überwunden werden könnte. Und fliegen konnten sie nicht. Es gab natürlich Flugdrohnen, aber an diese zu kommen, wäre auffälliger gewesen, als eine Spur zum Haupttor zu hinterlassen.

Es würde also wieder das Haupttor werden. Aber es wäre besser, wenn sie nicht dort den Wald verließen, wo sie es sonst taten, sondern vielleicht durch einen Bach hindurch, der eine Weile an einem Spazierweg entlang führen und dann in den Wald abbiegen würde. Myrie dachte eine Weile darüber nach, ob sie so einen kannte, aber wurde dadurch unterbrochen, dass Merlin sie anrief. Sie nahm das Gespräch mit einer Geste entgegen.

“Guten Morgen. Darf Daina mit dir sprechen?”, fragte Merlin.

“Ja.”, sagte sie nach einem Moment der Überraschung sehr leise, weil sie Sarina nicht wecken wollte.

Es raschelte ein wenig in der Leitung, und aus leisen Gesprächsfetzen, die sie hörte, die nicht an sie gerichtet waren, konnte sie schließen, dass Merlin seinen Hinterohrhörer an Dainas Kopf unter den Haaren befestigte. Dann wurde es wieder ruhig in der Leitung.

“Myrie?”, fragte Daina.

“Ja?”, sagte Myrie wieder, ebenso leise, wie vorhin.

“Du musst den Wald verlassen, möglichst geräuschlos, und am besten auf einem Weg, den ihr noch nie genommen habt, und möglichst ohne Spuren zu hinterlassen. Ihr müsst alles mitnehmen. Ich denke, es ist sehr wahrscheinlich, dass ihr verraten worden seid.”, sagte Daina hastig und leise.

“In Ordnung.”, sagte Myrie. “Ich lege auf.”

Sie legte mit einer Geste auf, und wartete einen einzigen tiefen Atemzug lang, um sich zu organisieren. Sie war ganz ruhig. Sie hatte keine Angst. Angst hätte ihr nichts mehr gebracht und es gab viel zu tun.

Sie weckte Sarina, indem sie vorsichtig an ihm rüttelte. Er hatte ihr schon länger die Erlaubnis dazu gegeben, aber sie nutzte sie nun zum ersten Mal. Er wachte sofort auf, und bevor er etwas sagen konnte, legte Myrie ihre Hand sanft auf seinen Mund. Seine Lippen waren kalt, aber obwohl sie ständig der Kälte ausgesetzt waren, waren sie zart und weich. Sie nahm die Hand wieder weg und legte den Finger auf die Lippen. Sarinas Blick war fragend, aber er hielt sich an die klar gestikulierte Anweisung und sagte nichts.

Myrie kroch leise aus dem Schlafsack und rollte ihn eilig zusammen, ihre Priorität dieses Mal nicht darauf legend, dass er ordentlich wäre, sondern, dass es schnell und still vor sich ginge. Sarina tat es ihr eifrig mit seinem Schlafsack nach und weil Myrie schneller war, rollte auch ihren alten Schlafsack ein. Sie sah sich noch einmal gründlich um, ob sie nichts vergessen hatte und ob es sonst Spuren gab, die sie oder Sarina identifizieren würden. Haare, überlegte sie. Sie versuchte sie, so gut es ging, zwischen den Ästen hervorzusammeln, zwischen denen sie sich verfangen hatten.

Sarinas Gesichtsausdruck klärte sich, er schien verstanden zu haben, worum es ging, und er beteiligte sich daran, die Haare einzusammeln. Das war gut so, denn er konnte viel besser im Dunkeln sehen als Myrie.

Schließlich verließen sie die Hütte. Die Hütte war natürlich klar erkennbar ein Eigenbau, aber es würde auf diese Weise vielleicht nicht so leicht nachzuvollziehen sein, dass Myrie oder Sarina dahintersteckten. Sie könnten es abstreiten.

Allerdings hatten sich vor allem im Busch vor der Hütte Haare verfangen. Sarina und Myrie beeilten sich, aber sie waren doch ein paar wertvolle Minuten damit beschäftigt, diese einzusammeln. Während des Sammelns machte Myrie sich Gedanken, welchen Weg sie nun tatsächlich nehmen würden. Sie überlegte, dass es unter diesen Umständen wohl doch besser wäre, einen Weg über das Gitter zu wählen. Wenn noch nicht bekannt war, dass sie durch das Haupttor kommen könnten, wäre Daina weniger gefährdet, mit in die Sache hineingezogen zu werden. War bekannt, dass sie durch das Haupttor kommen könnten, so würden sie besser fahren, wenn sie eben dies nicht täten.

Auf jeden Fall sollten sie auch durch einen Bach gehen, um eine Lücke in ihren Spuren zu hinterlassen. Die Frage, die sich Myrie stellte, war allerdings, ob das viel bringen würde. Wenn Spuren im Bach verschwänden, gab es nur die Möglichkeit, dass sie bachaufwärts oder bachabwärts gegangen wären. Die Spuren im Schnee, wo sie den Bach verlassen müssten, würden es dann wieder eindeutig machen.

Myrie entschied sich dafür, dass sie bachaufwärts gehen würden. Entweder, der Wald würde irgendwann dicht genug werden, dass es auf dem Boden genügend wenig Schnee gäbe, um den Bach spurenarm zu verlassen, oder aber, er würde ins Gebirge führen und dort vielleicht irgendwann eine Strecke hinauf, die ihnen nicht zugetraut würde, weshalb die Suchenden dann die andere Richtung nehmen würden, die aber sehr weit sein könnte.

Als sie am Fuß des umgefallenen Brückenbaums ankamen, wurden all ihre Ideen dadurch zunichte gemacht, dass die Muhme hinter einem Baum hervortrat und sie erwartete. Und nun endlich spürte Myrie Angst. Angst, die alles in ihr zusammenzog die ihre Atemwege verengte.