Prolog {#prolog .prolog .unnumbered}

Heddra stapfte durch den tiefen Schnee. Der Himmel hatte einen dieser wundersamen graurötlichen Farbtöne, die eigentlich dunkel wirken, aber doch leuchten. Man erkannte keine einzelnen Wolken, es war eher eine einzige diffuse Wolkenschicht, die sich nicht sicher war, wann sie keine Wolkenschicht mehr war, sondern Himmel. Für jeden Schritt musste sie eines ihrer fast knietief im hellen Schnee versunkenen Beine aus der kaltfeuchten Schneemasse heraushieven und durch die angefrorene Schicht vor ihr wieder hinabsenken. Es gab dabei ein brechendes und dann das vertraute knarzende Geräusch, wenn der Schnee zusammengedrückt wird. Es war mühsam und schön.

Das Kind auf ihrem Rücken fand die ganze Aktion nur mäßig gut. Es war nun zwei Wochen alt und hatte sich in der Zeit genügend über das Umhergewandere beschwert. Sehr dicht an Heddras Ohr. Sehr laut. Und Heddra, die es gern ruhig hatte, hatte schon nach wenigen Tagen beschlossen, dass sie die Erziehung eines Kindes zu sehr stressen würde. Wahrscheinlich war es auch besser für das Kind, wenn nicht sie das tat. Sie hielt sich nicht für besonders geeignet, ein Kind zu erziehen. Sie zog umher, mochte Abenteuer und die Einsamkeit. Nur gelegentlich mochte sie mal jemanden besuchen, aber meist war sie lieber für sich.

Der Vater wäre dazu sicher wesentlich besser geeignet. Er war ein sensibler, warmherziger Mann, der einen einfach sein lassen konnte. Einer der ganz wenigen, die Heddra gern immer wieder für einige Zeit um sich hatte. Er erwartete keine Regelmäßigkeiten und keine Mindestaufenthalte. Er machte keine zynischen Bemerkungen, wie “Ach, du auch mal wieder hier.”. Wenn sie kam, kam sie, und er freute sich, und wenn sie gehen musste, weil es in ihren Fußsohlen juckte, dann war das stets in Ordnung.

Heddra liebte ihn und lächelte bei diesem Gedanken.


Es musste doch hier irgendwo sein, dachte sie. Es war ein wunderschönes Gebirge, das sie bisher immer überquert hatte, um das Dorf zu erreichen, in dem der Vater des Kindes lebte. Sie hatte einen sehr ausgeprägten Orientierungssinn und fand jeden Weg wieder, wenn sie ihn auch nur einmal erklommen oder durchwandert hatte. Dieses Mal aber ging sie einen etwas anderen Weg. Bisher hatte sie deutlich steilere Wege genutzt. Aber auf eine solche Kletterpartie wollte sie dann doch für das Kind verzichten und sie nahm stattdessen eine weniger gefährliche Route. Es wäre allerdings wesentlich angenehmer und einfacher gewesen anders. Auf den steilen Hängen lag weniger Schnee.

Der Abend dämmerte und violettes Licht glomm am Horizont oberhalb der vollgeschneiten Tannen, deren Äste schwer herabhingen, als wären sie müde. Ein romantisches Bild. Heddra blieb stehen, um es zu bewundern. Es schneite gerade nicht. Das stimmte das Kind etwas gnädiger.

Als sie oben auf dem nächsten Hügel am Rande des Gebirges angekommen war, sah sie es endlich. Ein Dorf, vielleicht ein paar mehr als 40 Häuser, ein breiter Bach oder schmaler Fluss, der sich dazwischen hindurchschlängelte, eine kleine, hölzerne Brücke, die sich darüber beugte. Eine wirklich schöne Brücke aus dunklem Holz, mit einem verzierten Geländer, gleichmäßigen Planken, schön gedrechselten Pfeilern. Das Dorf trug den passenden Namen Byrglingen und der Strom, der so dahinplätscherte, war die Glukka.


Als Heddra endlich das Dorf betrat, war es weit nach Mitternacht. Die Lichter waren erloschen, nichts regte sich. Es war angenehm still. Heddra ging die Hauptstraße entlang und bog dann in den Holzweg ein. Dabei ging sie so leise, wie es ihr möglich war, um die Stille nicht zu unterbrechen. Das letzte Haus in der Straße hatte einen Garten, der in einen wunderschönen Holzzaun eingefasst war. Er war im gleichen Stil angefertigt wie die Brücke, die über die Glukka führte. Das Törchen war dunkel und Reliefs von Tieren waren eingearbeitet. Besonders gefiel Heddra der detailreiche Drache. Sie hatte erst einmal einen echten aus der Ferne gesehen und das war auch schon Jahre her. Sie strich mit ihren Fingern darüber.

Das Holz glänzte vom Beizen und roch dadurch gut. Dieser Geruch zog sich durch das ganze Anwesen und Heddra liebte ihn. Auch deshalb kam sie hier immer wieder her. Und auch, weil der Mann, der hier lebte, einen Sinn für so etwas hatte. Er war ruhig und geduldig und freundlich. Er ließ sich auf ihre merkwürdigen Eigenarten ein und schwieg, wenn sie es ruhig haben wollte. Im Sommer war der Garten voll mit duftenden Gewächsen, Blumen vor allem, aber auch Kräuter.


Heddra klopfte an die Haustür und es kam ihr vor, als würde sie etwas des Zaubers zerstören, der auf diesem Anwesen lag. Zu allem Überdruss reagierte auch niemand. Nach einigen Minuten, bevor der Zauber wieder zurückkriechen könnte, klopfte Heddra ein weiteres Mal, dieses Mal energisch. Es brauchte eine Weile, bis Schritte sich der Tür näherten und sie geöffnet wurde. Und Vadime stand in der Tür. Er reichte Heddra bis zur Hüfte und legte den Kopf in den Nacken, um ihr ins Gesicht zu schauen.

“Heddra!”, sagte er mit seiner tiefen, weichen Stimme, “Komm rein!”

Er hielt ihr die Tür auf, natürlich eine schön gearbeitete Holztür, und Heddra bückte sich unter dem Türrahmen hindurch in die Werkstatt. Es war gemütlich warm hier drin. Die Mauern isolierten gut. Ein warmes, oranges Leuchten erhellte den Raum von einer Wand gerade so, dass die Umrisse der Werkbänke und Stühle zu sehen waren und man sich orientieren konnte. Mit einer Geste regelte Vadime die Helligkeit ein wenig hoch, sodass Heddra sein Gesicht besser sehen konnte. Vom Gesicht war dennoch nicht sehr viel zu sehen. Über seinen dunklen Augen waren buschige, braune Augenbrauen, und seine Stirn verriet, dass er feste, rötlichbraune Haut hatte. Der Rest war behaart. Sein brauner Vollbart bestand allerdings nicht aus so festem Haar wie bei vielen anderen, sondern war ungemein weich. Heddra streckte die Hände fragend aus und Vadime legte sie, die angefangene Bewegung zu Ende führend, an seine Wangen. Heddra strich ihm darüber, fädelte die Finger zärtlich in das Barthaar und berührte die Haut darunter. Der Bart war gut gepflegt und fühlte sich einfach wundervoll auf der Haut an. Vadime griff nach ihren Handgelenken, nicht, um ihre Hände wegzuziehen. Seine festen Hände waren warm und strichen ihr über ihre Handballen und Unterarme.


Sie standen eine Weile so da, ohne zu sprechen, bis sich das Kind auf Heddras Rücken durch Wimmern bemerkbar machte. Heddra ließ etwas bedauernd von ihrem Austausch an Zärtlichkeiten ab und schnürte das Kind vom Rücken. Sie gab es Vadime in die Arme, der es sofort leicht wippte und liebevoll ansah. Es hörte zu wimmern auf und sah ihn aus großen grauen Augen an. Heddra kramte in einer ihrer Taschen, fischte einen zerknüllten Zettel heraus, strich ihn glatt und legte ihn auf den Bauch des Kindes in Vadimes Armen. ‘Myrie’ stand darauf.

“Myrie”, murmelte Vadime leise, doch Heddra schüttelte den Kopf.

“Das ist kein langes i. Der Name hat drei Silben, nicht zwei. Anders als bei deinem Namen ist das e nicht stumm.”

“Myri-je?”, fragte Vadime.

Heddra nickte. Für den Fall, dass er es nicht gleich verstanden hätte, hatte sie einen Vergleich mit dem Wort Arie angedacht, aber war froh, dass sie ihn nicht brauchte.

“Du bist der Vater.”, sagte Heddra verlegen, “Wirst du das Kind großziehen?”

Vadime lächelte sofort.

“Natürlich!”, sagte er. Er drückte das Kind glückselig etwas mehr an sich und es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich freute. Heddra freute sich auch. Sie hatte schon vermutet, dass es klappen würde. Dass er das Kind behalten würde. Aber sie hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass er sich darüber so freuen würde. Er zog bereits drei andere Kinder groß, und sicher war das eine Belastung. Aber so war es besser. Und Heddra fühlte sich bestätigt in ihrer Annahme, dass ihr Kind es hier bestimmt besser haben würde als bei ihr.

Sie drehte sich um und schritt zur Tür.

“Ich freue mich immer, wenn du vorbeikommst!”, sagte Vadime. Er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten, aber es klang doch anders, als es sonst klang, wenn er sie verabschiedete. Und Heddra begriff, dass er sie schon wieder besser eingeschätzt hatte, als sie sich selbst. Sie würde so bald nicht wiederkommen. Sie hätte Angst, dass ihr eigenes Kind sie nicht mögen würde, oder böse auf sie wäre, weil sie es allein gelassen hätte. So albern diese Ängste auch sein mochten, Heddra hatte sie schon jetzt. Sie drehte sich noch einmal um und küsste Myrie und Vadime noch einmal auf die Stirn, sanft und vorsichtig. Voll Liebe. Dann strich sie Vadime noch einmal zart von der Schläfe über seine Wange zum Kinn, zwirbelte dabei vorsichtig eine Strähne seines Bartes um ihre Finger. Mit dem Bart war sie inzwischen nicht mehr allein. Das Kind hatte längst die winzigen Hände in Vadimes Bart gestreckt und Vadime musste aufpassen, dass es nicht daran zog.

Dann verließ sie das Haus, den Garten, das Dorf und verschwand aus Myries und Vadimes Leben. Es machte sie traurig, aber auf der anderen Seite freute sie sich, dass es das Kind mit Vadime und Vadime mit dem Kind sicher gut hatten. Vadime war nicht groß im Vermissen und das Kind würde sich vermutlich nicht an sie erinnern, und konnte kaum eine Person vermissen, die nie da war. Vor allem nicht, wenn es ihm an so wenig fehlen würde, wie bei Vadime.