Die Asymmetrie der Schneeflocken

Myrie gab sich aus verschiedenen Gründen keine Mühe, Spuren zu verwischen. Zum einen war es in dem Schnee beinahe unmöglich und hätte viel zu viel Zeit gekostet. Zum anderen fühlte sie sich für Daina in der Verantwortung. Sollte doch irgendetwas passieren, so wären sie wenigstens auffindbar.

Allerdings wählte sie natürlich auch einen Weg, den in letzter Zeit einige gegangen waren, sodass ihre Spuren erst später, wenn sie vom Wanderweg abkommen würde, auffindbarer werden würden.


Myrie ging zielstrebig und zügig, aber auch nicht zu zügig, damit Daina mithalten konnte, an die Stelle, an der Merlin bei ihrem ersten Spaziergang die höhlenartigen Felsspalten entdeckt hatte und ihr gezeigt hatte. Hier wurde Myrie merklich langsamer und besah sich die Böschung auf der dem Ehrenberg zugewandten Seite. Daina stützte die Hände auf die Oberschenkel und versuchte ersteinmal wieder zu Atem zu kommen. Als sie sich etwas gefangen hatte, zeigte sie auf eine Stelle. “Da vielleicht.”, sagte sie atemlos.

Myrie folgte ihrem Fingerzeig, und tatsächlich. An dieser Stelle stand eine sehr kleine Tanne, deren eine Seite nicht mit Schnee bedeckt war. Myrie trat näher und suchte den Boden an der Stelle nach Spuren ab, die Richtung Berg führen könnten. Sie sah keine Spuren, nicht direkt zumindest. Aber sie sah, dass der Schnee von der Tanne nicht etwa natürlich heruntergefallen war, sondern auf dem Boden gezielt über Stellen verpulvert worden war, über die dann frischer Schnee gefallen war. Sie griff mit ihren nackten Fingern in den kalten, händisch verteilten Schnee und fühlte den härteren darunter ab. Stellen waren zusammengedrückt, und als Myrie eine der zusammenpappenden Schneestücke aus dem lose zerstäubten Schnee darüber hervorholte, erkannte sie ein kleines Stück Profil eines Schuhs. Sie nickte. Obwohl sie nicht wusste, wie Merlins Schuhprofil aussah, und somit eigentlich immer noch eine Unsicherheit gegeben war, war sich Myrie nun sicher, dass sie recht hatte, dass Merlin versucht hatte, den Berg zu erklimmen. Es gab einfach sonst nicht viel Grund für irgendwen, Spuren zu verstecken.

“Hier hoch. Du zuerst.”, forderte sie Daina auf.

Daina zögerte einen Augenblick. Dann trat sie an Myrie vorbei in den Schnee abseits des Wanderweges. Sie ging ein paar Schritte bergauf.

“Ich habe so etwas noch nie gemacht.”, murmelte sie.

“Ich weiß. Ich passe auf dich auf.”, sagte Myrie beruhigend in der Hoffnung, dass sie wirklich qualifiziert genug dafür war.

Sie stiegen zwischen einigen wenigen sehr niedrigen Bäumen hindurch. Der erste Baum blieb nicht der einzige, dem Schnee fehlte. Wann immer Merlin der Schnee zum Verdecken der Spuren ausgegangen war, hatte er, wie es aussah, ein weiteres Tännchen besucht, um Nachschub zu besorgen. Problematisch war die Strategie anscheinend geworden, als eine längere einigermaßen ebene Wegstrecke durch Gelände ohne Baum führte. Die Verwischungsversuche sahen nun anders aus. Er hatte nun wohl den Versuch unternommen, Schnee mit den Händen hinter sich gleichmäßig über seinen Spuren zu verteilen.

“Er muss rückwärts gegangen und ständig in die Hocke gegangen sein. Meine Güte.”, sagte Daina.

Myrie nickte stirnrunzelnd.

Ihr fiel ein Vorteil und ein Nachteil von Merlins Unterfangen ein, seine Spuren zu vertuschen. Der Vorteil war, dass es anstrengend gewesen sein musste, und er entsprechend nach weniger Wegstrecke verausgabt gewesen sein würde, als anders, und außerdem wäre er dabei schön warm geblieben. Das würde bedeuten, sie müssten weniger lang suchen. Der Nachteil war, dass die Vertuschungsversuche zumindest zeitweise die Suche sehr erschwerten, wodurch sie wieder länger brauchen würden, ihn zu finden.

Dann überlegte sie, wie unsinnig diese Gedanken waren. Die Drohnen hätten wahrscheinlich die Spuren gefunden, wenn sie deutlich gewesen wären. Hätte er sie nicht versteckt, so wäre er vielleicht längst gefunden worden.


Schließlich gelangten sie zunächst an eine etwas steinigere, steilere Stelle, und dann an eine Felswand, die eine etwa einen Meter hohe Kante bildete. Sie schaute links und rechts an der Kante entlang, konnte aber keinen weiteren Spurenvertuschungsversuch ausmachen.

“Da hoch?”, fragte Daina schließlich.

Myrie nickte.

“Und ich muss es alleine schaffen. Hmm.”, überlegte Daina. “Also ich habe sowas schon oft in Virtualitäten getan, aber da tut man sich halt nicht weh.”

“Solltest du stolpern oder rutschen, fange ich dich ab. Weh tun würdest du dir trotzdem, aber du bist doch sicher schon mal gegen einen Türrahmen gerannt, oder nicht? Kannst du ein paar Schrammen ab?”, fragte Myrie.

Daina nickte und suchte die Felskante nach einer geeigneten Stelle ab, um mit dem Fuß darauf zu steigen. Ihre Hände erreichten mühelos die Kante und als sie schließlich eine passende Stelle für einen Fuß fand, nahm sie dort Schwung und landete bäuchlings auf der Kante. Die Beine baumelten noch herunter. Sie robbte vorsichtig über die Kante und stand oben wieder auf. Myrie folgte ihr ohne Mühe.

Hier wuchsen wieder kleine Tannen und Merlin hatte die Taktik vom Anfang fortsetzen können. Sie gingen eine ganze Weile still hintereinander her. Einige weitere solcher Felskanten waren ihnen im Weg, aber eher kleinere als die erste, und schließlich wurden die Bäume größer und dichter und leiteten in einen Waldabschnitt über, der nicht zum Dämmerwald gehörte. Hier hatte Merlin aufgegeben, Spuren zu verwischen, aber sie waren trotzdem schwer zu finden. Der Waldboden war durch die Bäume überdacht. Deshalb lag hier weniger oder sogar gar kein Schnee. Sie mussten sehr nach zerknackstem, totem Gewächs auf dem Boden Ausschau halten, oder nach abgebrochenen Ästen. Myrie hatte die Befürchtung, dass sie irgendwann aus Versehen eher einem Waldtier folgen würden, anstatt Merlin, denn das waren keine eindeutigen Kennzeichen. Es half, dass sie seine grobe Richtung erahnen konnte. Er wollte zum Berg hin und hinaufklettern, also versuchte sie die Spur in einer darauf passenden Richtung zu finden. Hin und wieder einmal bedeckten dünne Eisschichten den Boden, über den sie gingen, in das sich sein Schuhprofil gedrückt hatte, sodass sie wussten, dass sie immer noch richtig waren.

Dann hörte Myrie ein Knacksen, das nicht von Daina kam und erstarrte, lauschte. Daina bemerkte es und blieb auch still. Es knackste und raschelte wieder, hinter ihnen. Myrie ordnete ein, was es sein könnte. Es war ungefähr zwischen halb so schwer und doppelt so schwer, wie sie, so schnell wie sie eben gegangen waren und kam von hinten, aber es hatte nun ebenso aufgehört, sich fortzubewegen. Es wirkte vom bisherigen Schritttempo und der für Waldtiere untypisch behäbigen Bewegung zu urteilen wie eine einzelne Person, die ihnen folgte und sie nun nicht mehr hörte. So früh hatte Myrie beim besten Willen nicht damit gerechnet. Sie schaute sich um, ob sie die Person schon sehen könnte. Dann raschelte es wieder, aber leiser und vorsichtiger. Myrie überlegte, was sie tun konnte. Wäre sie allein gewesen, hätte sie wohl versucht, wegzurennen und sich in einem Baum zu verstecken. Aber mit Daina ging das nicht. Es war zu früh, viel zu früh! Sie entschied sich, die Person einfach auf sie zukommen zu lassen und zu schauen, wer es war, ob man verhandeln konnte. Daina begann etwas zu zittern, blieb aber ruhig.

Es brauchte einige Augenblicke, bis die Person in Erscheinung trat, eine dunkle, schmale Gestalt, kaum größer als Merlin, und es war Sarina.

“Was machst du hier?”, fragte Myrie.

“Was macht ihr hier, sollte ich fragen.”, erwiderte Sarina energisch, “Du fliegst von der Schule, wenn du erwischt wirst, und zwar sicher.”

“Wenn dir die Schule so wichtig ist, solltest du zurück gehen. das Gleiche gilt für dich.”, erwiderte Myrie sachlich.

“Wenn du mitkommst.”, sagte Sarina.

“Merlin ist da draußen. Und es ist eisig kalt. Das Problem ist mir wichtiger als Schule.”, widersprach Myrie bestimmt.

“Aber du hättest den Lehrkräften Bescheid sagen können.”, gab Sarina jammernd zurück.

“Habe ich.”, seufzte Myrie. “Sie haben Drohnen losgeschickt. Aber Merlin war nicht dort, wo ich ihn vermutet hatte. Und auch nicht irgendwie leicht auffindbar. Sie haben bestimmt zwei Stunden lang alles abgeflogen, aber bisher ohne Erfolg. Ich dagegen habe nun Spuren gefunden. Ich denke, wenn allein die Möglichkeit besteht, dass ich ihn zuerst finden könnte, sollte ich es versuchen. Er könnte erfrieren, wenn er nicht bald gefunden wird.”

“Oh, Scheiße. Ach, Myrie. Bist du sicher, dass es seine Spuren sind? Glaubst du wirklich nicht, dass er einfach nach Hause gefahren sein könnte?”, fragte Sarina.

Myrie nickte.

“Und warum hast du Daina mitgenommen?”, fragte er dann irritiert.

“Nun, ich habe ziemlich gute Kletterfähigkeiten. Die hat Merlin nicht. Ich brauche jemanden, um herauszufinden, ob gewisse Hindernisse durch ihn überwindbar wären.”, erklärte Myrie.

Daina verschränkte bei diesen Worten die Arme und stellte sich aufrechter hin.

“Dann komme ich auch mit. Ich habe eher die Statur von Merlin.”, erwiderte Sarina.

“Ganz bestimmt nicht. Zwei reichen.”, erwiderte Daina.

“Weil?”, fragte Sarina.

“Weil Myrie mich gefragt hat.”, sagte Daina.

“Das beantwortet, warum du mitgekommen bist, aber nicht, warum ich nicht auch mitkommen sollte.”, sagte Sarina und wurde lauter dabei.

“Sie hat halt nur mich gefragt. Sie hätte dich schon von Anfang an gefragt, wenn sie dich dabei hätte haben wollen.”, rief Daina zurück.

“Hey, ruhig.”, sagte Myrie. “Mir ist das ehrlich gesagt egal ob du mitkommst oder nicht, solange du nicht nölst oder uns aufhältst. Wenn du nun zurück zur Schule gehst und gesehen wirst, dann wissen sie, dass wir hier sind, und sie werden uns suchen. Wobei sie dann vielleicht auch endlich effektiver nach Merlin suchen. Wenn du aber nicht gehst, dann fliegst du ziemlich sicher von der Schule. Deine Wahl.”

“Und ich darf gar nicht entscheiden?”, fragte Daina verärgert.

“Du meintest eben als Begründung dafür, dass Sarina nicht mit solle, dass ich das nicht gewollt hätte. War das nicht alles?”, fragte Myrie verwirrt.

Daina zögerte ein wenig, dann schüttelte sie den Kopf. “Doch. Ist schon gut.”, sagte sie.

“Ich komme mit.”, beschloss Sarina.


Sie setzten also nun zu dritt ihre Suche fort, aber Myrie konnte sich nicht so gut auf das Spuren suchen konzentrieren, wie zuvor. Schließlich hielt sie inne. “Aber du hast mir noch nicht gesagt, was du hier machst.”, sagte sie schließlich an Sarina gewandt.

“Nun ja, ich wollte halt nicht, dass du von der Schule fliegst. Ich hatte euch beobachtet, wie ihr durch das Haupttor gegangen seid, und ich wollte dich überreden, zurückzukommen.”, sagte er.

“Warum bist du so interessiert daran, dass ich nicht von der Schule fliege, dass du selbst den Rauswurf riskierst?”, fragte Myrie verwirrt.

“Weil du mein Herzwesen bist.”

Es drehte sich einen kurzen Augenblick in Myries Kopf und sie streckte die Hand nach dem nächsten Baumstamm aus, um sich abzustützen. Herzwesen. Sie war jemandes Herzwesen. Nie zuvor hatte sie jemand so bezeichnet, nicht einmal Merlin. Es fühlte sich fremd an. Sie hatte sich das gewünscht, irgendwann jemandes Herzwesen zu sein, aber jetzt und hier fühlte es sich falsch an.

“Warum?”, sagte sie so leise, dass es beinahe ein Flüstern war.

“Erinnerst du dich an Neujahr?”, fragte er.

Myrie nickte.

“Da hast du mich einfach so ernst genommen. Ich habe gesagt, ich müsse weg vom Schulgelände. Du hast nicht ‘warum’ gefragt, du hast mich einfach angesehen und zugestimmt, mir einfach geholfen.”, fuhr er fort.

Myrie blieb still, eine Hand am Baum, und sah nach unten auf den Raureif, der sich an dieser Stelle auf den Waldboden gelegt hatte. Sie fror ein wenig.

“Du hast, ohne mich zu kennen, riskiert, dass sie dich verwarnen, oder gar von der Schule werfen, um mir zu helfen. Und dann die Art, in der du mit mir umgegangen bist. Ich habe das Vertrauen in dich gewonnen, dass ich dir alles Mögliche über mich anvertrauen könnte, und du mich nie auslachst, sondern mich einfach ernst nimmst.”, erzählte er weiter.

“Das würden wir doch alle tun. Dich nicht auslachen, meine ich.”, warf Daina ein.

“Ich bin unter Mondzeugen groß geworden.”, sagte Sarina in einem beinahe herausfordernden Tonfall.

Daina schnaubte, lachte aber nicht. Aber sie lachte auch nur deshalb nicht, weil sie es sich verkniff, und das sah man deutlich.

Myrie aber zeigte keine Regung. Sie versuchte sich zu erinnern, was Mondzeugen waren. Sie erinnerte sich düster, den Begriff in einer Unterrichtseinheit vor vielen Jahren bei Omantra gehört zu haben.

“Das ist eine kleine Religion, nicht wahr?”, fragte sie, den Blick hebend, in die Ferne schauend, sofern das in diesem Wald ging.

“Eine Sekte.”, sagte Daina. Aus ihrer Stimme klang Belustigung.

“Eine Sekte ist an sich doch eine sehr kleine Religion, oder nicht?”, fragte Myrie und sah nun Daina an.

“Wenn du so willst ja. Außer, dass eine Sekte auch immer irgendwie auf blödsinnigen Ansichten basiert.”, erwiderte sie und verbarg kaum ihre Herablassung.

“Das meine ich. Du lachst mich nicht aus, Myrie.”, sagte Sarina, und blickte Daina böse an.

“Oh, das würde sie, wenn sie nicht in manchen Punkten einfach ungebildet wäre.”, schnaubte Daina zurück.

“Ich glaube nicht.”, widersprach Sarina.

“Und warum, glaubst du, würde irgendjemand, der einen Funken Verstand besitzt, nicht über Mondzeugen herziehen. Wer würde sich zum Beispiel freiwillig darauf einlassen, ab einem Alter von 13 Jahren nicht mehr warm zu duschen, wenn man nicht völlig Banane im Kopf ist?”, fragte Daina bissig, beinahe zornig.

Sarina sagte nichts. Myrie blickte sich zu ihm um und sah im schwachen Licht, dass durch die Bäume fiel, dass seine Augen glänzten und der Mund sich etwas verzog. Und plötzlich bekam sie Wut auf Daina. Glühende Wut. Sie schloss die Augen, atmete ruhig und ging ein paar Schritte auf sie zu, um ihr ruhig zu sagen, dass das ganz schlecht war, was sie da tat.

“Weinst du jetzt etwa?”, rief Daina in Sarinas Richtung in einem hämischen Tonfall, der Myrie zu viel war.

Sie holte aus, hielt sich dann aber auf, rannte die drei Schritte zurück, zu dem Baum, an den sie sich gestützt hatte, sprang gegen den Stamm, stieß sich ab, und erreichte mit einer Hand einen Ast. Sie zog sich mit beiden Armen hinauf, setzte sich an den Stamm gelehnt auf den schmalen unbequemen Ast, zog die Beine an, und umarmte die Knie mit den Armen. Ihre Füße stabilisierten sie, indem sie die Sohlen links und rechts an den Ast drückte. Die Haltung kostete enorme Kraft, aber alles war besser, als Daina etwas anzutun.

“Hättest du mich gerade beinahe geschlagen?”, rief Daina zu ihr herauf. Sie klang nicht mehr so zornig, eher überrascht.

Myrie antwortete nicht. Sie versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen.

“Mondzeugen.”, murmelte Daina. Dann sah sie in Richtung Sarina.

“Echt, nun reiß dich mal zusammen! Sowas musst du abkönnen.”, rief sie.

Eine Weile sagte niemand etwas. Sarina weinte leise, Myrie sah es von oben. Myrie sprach nicht und Daina hatte anscheinend kein Bedürfnis, allein zu sprechen.

“Kann mir jemand sagen, was los ist?”, fragte sie schließlich. “Und ich hoffe, ich muss nicht behaupten, Mondzeugen seien in Wirklichkeit gar nicht so dumm. Sie benehmen sich nämlich so.”

Myrie sprang vom Baum und Sarina holte erschrocken Luft ein. Auch Daina erschreckte sich, doch Myrie rollte einfach ab und stand wieder auf den Füßen, direkt vor Daina.

“Ich möchte, dass du ein bisschen still bist und nur zuhörst.”, sagte sie.

“In Ordnung.”, sagte Daina und nickte.

“Ich bin in einem Dorf groß geworden, in dem außer mir nur Zwerge waren.”

“Ah, anders sein und der Kram. Aber du bist eben sehr cool so wie du bist!”, warf Daina ein.

Myrie legte ihr einen Finger auf den Mund und sie verstummte.

“Das fanden die anderen Kinder im Dorf halt nicht. Es haben viele darüber Witze gemacht, dass ich keinen Bart hatte. Das fanden sie sehr komisch.”

Myrie überlegte, wie sie fortfahren könnte, doch Daina hielt sich nicht daran, still zu sein und erschwerte ihr so das Denken.

“Naja, das muss man halt einfach abperlen lassen. Dann spielt man halt nur mit denen, die damit klar kommen.”, sagte sie.

“Es hat niemand mit mir gespielt. Es kam niemand damit klar. Nur meine Familie. Ich vermute, ich bin nur deshalb so erfahren im Klettern, weil ich eben immer allein war.”, sagte Myrie.

“Hmm.” Daina überlegte einen Moment. “Aber jetzt hast du ja mich als Herzwesen, das dich sogar deswegen cool findet!”

Schon zum zweiten Mal wurde sie auf der Suche nun Herzwesen genannt, aber dieses Mal drang es gar nicht erst in ihre Gefühlswelt hinein.

“Kommt drauf an.”, sagte Myrie.

“Was kommt wo drauf an?”, fragte Daina.

“Ob wir befreundet sein können.”, überlegte Myrie.

“Worauf kommt das an?” Daina klang leise und bedrohlich, als hinge von der Antwort auf diese Frage sehr viel ab.

“Ich mag dich, Daina. Wir haben vieles Schönes zusammen erlebt und wir hatten Spaß dabei. Und ich hatte noch nie mit anderen so viel Spaß, wie mit dir. Vielleicht mit Merlin, aber das war eher etwas anderes als Spaß.” Myrie machte eine kurze Sprechpause, bevor sie fortfuhr mit dem komplizierten Teil, den sie nun sagen musste. “Es kommt also darauf an, ob ich es hinbekomme, darüber hinwegzusehen, dass du Leute so mies behandelst, wie sie mich damals behandelt haben. Wie mich manche immer noch behandeln. Als wäre ich falsch. Das ist ein schreckliches Gefühl.”

“Du meinst, weil ich Sarina mies behandeln würde, weil er Mondzeuge ist? Das muss er wirklich abkönnen. Ernsthaft, Myrie.”, sagte Daina bestimmt.

“Sowas kann man nicht abkönnen. Nicht, wenn man keine Herzwesen hat. Oder wenn man mal lange keine hatte. Und selbst wenn man es könnte, wieso sollte es in Ordnung sein, sich in einer Weise zu verhalten, die andere höchstens abkönnen könnten, aber die dennoch schlecht ist?” Myrie sagte dies sachlich und ruhig.

“Willst du mir gerade sagen, ich wäre falsch? Das fühlt sich nicht gut an!”, sagte Daina und wiederholte so Myries eigene Worte.

Myrie rollte innerlich die Augen, drehte sich um und fuhr fort, Spuren zu suchen. Es hatte keinen Sinn. Und es gab so viel Wichtigeres. Sie wäre weggelaufen, wollte am liebsten allein weitermachen, aber tat es aus vielen Gründen nicht. So brauchte sie mindestens eine der beiden anderen Personen immer noch, um herauszufinden, welche Hürden für Merlin möglich wären. Und sie fühlte sich auch verantwortlich. Sie wusste nicht, ob die beiden heile wieder zur Schule zurückfinden würden. Oder schlimmer noch, ob sie versuchen würden, Myrie zu finden, wenn sie weggelaufen wäre. Das wäre sehr unbedacht, weil beide nicht im mindesten Kondition und Sicherungsfähigkeiten wie sie hatten, und sich dadurch in große Gefahr begeben würden. Aber sie traute es den beiden zu so unbedacht zu handeln.

Und zu guter Letzt war sie auch einfach nicht sehr schnell im Finden der Spuren. Nicht so schnell, dass sie den anderen beiden hätte entwischen können, allerdings schon zügig, sodass Daina und Sarina, die erst etwas gezögert hatten, bevor sie Myrie gefolgt waren, nun durchaus aus der Puste waren, als sie mit ihr aufschlossen.

Es fiel Myrie zunehmend leichter, die Spuren zu finden, weil sie immer klarer eine feste Richtung einschlugen, und Myrie zunehmend geübter darin wurde, auf die richtigen Zeichen zu achten. Etwa suchte sie nun gezielt nach vereisten Stellen und konnte die Ursache für abgebrochene Äste besser einordnen.

“Myrie, warte kurz.”, rief Daina schließlich.

Myrie reagierte erst, als sie das zum wiederholten Male rief und wurde langsamer. Daina holte sie ein.

“Es tut mir leid.”, rief sie. “Ich will nicht, dass du traurig bist.”

Myrie wusste nicht so richtig, was sie darauf erwidern sollte. Eigentlich ging es hier gar nicht um sie, sondern um Sarina.

“Lass uns Merlin finden.”, sagte sie einfach.


Sie gingen still weiter. Still war nicht ganz richtig, sie sprachen nur nicht. Sarina und Daina holten schnell und geräuschvoll Luft. Daina ächzte hin und wieder, Sarina hielt sich zurück, aber von ihrer gemeinsamen Zeit im Wald wusste Myrie, dass Sarina nun entsprechende Geräusche unterdrückte, die er sonst gemacht hätte.

Der Wald dünnte sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder aus und ging in einen ziemlich steilen, steinigen Abschnitt über, auf dem wieder Schnee lag, in dem nun endlich Merlins Spuren mühelos erkennbar waren. Dann endete die Ebene vor einer Felswand, die zu steil war, um sie ohne Hände zu erklimmen. Merlins Spuren bogen an der Felswand entlang nach links ab, doch Myrie blickte nach oben.

Die Felswand war zwar zu steil für ein Erklimmen ohne Hände, aber auch wenig steil genug, dass man bäuchlings darauf liegen konnte und dabei nicht abrutschen würde. Es sei denn natürlich man hätte Schwung. Dann entdeckte sie ein kleines Stück rechts von ihr einen schmalen Felsspalt, etwa eine halbe Hand breit, der gleichmäßig bis weit in die Höhe durch den Stein verlief. So eine optimale Sicherungsmöglichkeit bot sich selten im Gebirge in Byrglingen. Myrie war so etwas erst ein einziges Mal bisher begegnet.

“Er ist unmöglich da hinaufgeklettert.”, sagte Daina aus der Puste, “Und, die Spuren führen da lang.” Sie deutete nach links.

“Wir kürzen ab.”, sagte Myrie.

“Was?”, fragte Daina ungläubig und sah nun auch nach oben.

“Das ist Olja.”, Myrie deutete auf den Plüschhai, der sich in einem Gestrüpp verfangen hatte, dass es fertig gebracht hatte, sich an der Wand festzuwurzeln.

“Wer ist Olja?”, fragte Daina.

“Merlins Plüschhai.”, antwortete Myrie. “Olja wird wohl von oben da heruntergefallen sein. Das heißt, wie auch immer er dahin gekommen ist, Merlin war da oben. Wenn wir schon wissen, dass er da oben war, können wir auch abkürzen, und finden dort seine Spuren wieder.”

“Können wir? Also ich meine, du bestimmt, aber wir? Sicher?”, fragte Daina skeptisch.

Myrie sah sich zu ihr um und nickte abschätzend. Daina trug eine feste Hose mit Gürtel unter ihrem Mantel. Wenigstens der Gürtel würde nicht reißen, aber auch die Hose machte einen sehr stabilen Eindruck. Das konnte durchaus als Gurt dienen.

Sarina dagegen trug einen langen, weiten, dunkelblauen Mantel, der zwar einen warmen, aber keinen reißfesten Eindruck machte.

“Was hast du unter?”, fragte Myrie Sarina.

“Das übliche.”, antwortete er.

Myrie erinnerte sich an die dünnen, einfarbig gefärbten Kleidungsstücke, die er stets eng anliegend unter durchsichtiger, ebenfalls dünner, weiter Kleidung trug.

Myrie seufzte. Da war absolut nichts Stabiles bei. Sie zog ihre Weste aus, die, wenn es so kalt war wie jetzt, allerdings Ärmel hatte, und sie daher gar nicht mehr den Eindruck einer Weste machte, und reichte sie Sarina.

“Wow!”, entfuhr es Daina.

Myrie und Sarina drehten sich zu ihr um.

“Ich meine nur, also, nicht wichtig. Du siehst schön aus.”, sagte Daina. Myrie wandte sich wieder Sarina zu. Sie fühlte sich durchaus geschmeichelt, aber verdrängte das Gefühl, versuchte es für später aufzuheben, wenn sie mehr Zeit dazu hatte.

“Zieh die unter.”, sagte Myrie.

Sarina zögerte kurz, zog dann aber seinen Mantel aus und reichte ihn Myrie zum Festhalten. Myrie legte ihn sich über eine Schulter, um die Hände frei zu behalten.

“Über oder unter diese Kleidung.”, fragte er fröstelnd.

“Über.”, antwortete Myrie. Die Weste war ein gutes Stück zu kurz für Sarina, aber weil sein Körper sehr dünn war, war sie wenigstens nicht zu eng. Myrie ging auf ihn zu und streckte die Hände nach den Einstellstrapsen aus. “Darf ich?”, fragte sie.

Sarina nickte.

Myrie stellte die Weste an den Schultern so weit wie möglich, sodass sie nun nur etwa eine handbreit oberhalb von Sarinas Bauchnabel endete. Dann stellte Myrie die Weste an der Hüfte relativ eng ein, legte die dafür vorgesehenen breiten Stoffbänder auf der Rückseite der Weste zwischen Sarinas Beinen hindurch und befestigte sie vorn.

“Wenn du fällst, wird das unangenehm zwischen den Beinen, aber dir passiert nichts. Versuch trotzdem dich so gut es geht, am Seil festzuhalten, dann tut es erst gar nicht weh.”, sagte Myrie.

Sarina wirkte ängstlich, nickte aber.

“Ich sehe das Seil noch nicht.”, stellte Daina fest.

Myrie gab Sarina den Mantel zurück, den dieser wieder überzog, und öffnete ihren Gürtel. Daina blickte aufmerksam und unverhohlen neugierig. Vielleicht hatte sie erwartet, dass Myrie sich weiter auszog, aber sie war auch nicht enttäuscht, als Myrie den Gürtel ausklappte und das Seil aufplusterte.

Myrie hatte sich schon den ganzen Weg lang ausgemalt, wie sie zusätzlich zu ihr zwei Personen mit insgesamt nur einem, immerhin sehr langen, Seil sichern würde. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es fast unmöglich war, sofern sie nicht eine sehr dicht mit Sicherungsmöglichkeiten ausgestattete Kletterstrecke vorfände. Diese Felswand vor ihnen war so eine.

Sie brachte im mittleren Fünftel auf der rechten Seite drei Klemmhaken an, die sich gut in kleinen Felslöchern, Nischen und Ritzen einhaken ließen. In diesem Fall würde sie die lange Felsritze verwenden.

Sie band sich das Seil links und rechts vom Teil mit den Haken mit einer festen und nicht zuziehbaren Schlinge um den Bauch, sodass die Haken in einer Schlinge für sie erreichbar waren und nicht verloren gehen konnten. Sie hatte die Schlinge nicht allzu groß gemacht, nur etwa so groß, dass zwischen je zwei Haken eine Armlänge gebracht werden könnte. Das kürzere Ende verkürzte sie noch einmal zusätzlich, um eine kleine Schlinge hineinzubinden, die lose auf Höhe ihrer Hüfte baumelte. An die beiden verschieden langen Enden band sie Dainas Hose und ihre Weste, die ja nun Sarina trug.

“Der Plan ist, ich klettere dort hinauf und ihr ebenfalls, wobei ihr das entsprechende Seilstück als Hilfe benutzen könnt, das an mir befestigt ist. Aber es wird für mich und für euch angenehmer, wenn ihr ein wenig versucht, euer Gewicht auf mich zu reduzieren, indem ihr es durch Festhalten auf den Felsen übertragt. Er ist ja sogar in unsere Zielrichtung geneigt, sodass das einigermaßen gehen sollte. Würdet ihr euch ohne Schwung flach darauf legen, würdet ihr nicht rutschen.”, erklärte Myrie.

“Hast du sowas schon mal gemacht? Zwei Leute zusätzlich zu deinem Gewicht zu tragen beim Klettern?”, fragte Sarina. Er klang dabei nicht gerade ängstlich, eher nüchtern und sachlich.

“Ich trainiere seit einiger Zeit in einer Virtualität klettern mit doppelter Schwerkraft und zusätzlich mit realem Gepäck.”, sagte Myrie, “Das ist was anderes, aber ich denke, ich kann das einschätzen. Hinzu kommt, dass wir hier gesichert sind.”

“Auf der anderen Seite ist dies die Realität.”, erwiderte Sarina.

Myrie zögerte. Sollten sie doch Merlins Umweg folgen? Aber er könnte sehr langwierig sein. Es war ein ganz schöner Höhenunterschied bis dorthin, wo die Felswand wieder begehbar wurde.

“Wenn du sagst, dass uns da nichts passiert, zumindest nichts Lebensbedrohliches, dann machen wir das.”, motivierte Sarina.

“Höchstens Kratzer und Schrammen. Sollte jemand von euch fallen, könnt ihr versuchen, euch dabei etwas vom Fels abzudrücken. Dann gibt es weniger. Aber ihr solltet auch nicht weit fallen, weil ihr ja an mir dranhängt. Sollte ich fallen, fallt ihr voraussichtlich auch ein Stück, bis die Haken uns auffangen. Dann müssen wir hoffen, dass sie halten, was sie tun werden, wenn ich alles ordentlich mache. Und ich werde da sehr achtsam sein.”, versicherte Myrie.

Sarina und Daina sahen sie vielleicht etwas ängstlich, aber doch entschlossen an.

“Kann es losgehen?”, fragte Myrie.

Beide nickten.

Myrie drehte sich zur Felswand um und betrachtete sie eine Weile. Dann nahm sie sie in Angriff. Bis Zug auf das erste Seilende kam, – Sarina hing am kürzeren –, kletterte sie ungesichert am Felsspalt entlang. Diese Tiefen machten ihr nichts. Dann klemmte sie den ersten Haken in die Ritze.

Ab nun ging alles relativ langsam, relativ zu ihrem gewöhnlichen Klettertempo, denn weil sie sich so wenig Platz gelassen hatte, musste sie dauernd neu sichern.

So unpassend es in dieser Situation auch erschien, es tat ihr sehr gut, wieder zu klettern, an einem realen, kalten Hang, mit dem kalten Wind um die Ohren und dem Geruch von Stein und Frost in der Nase. Das monotone Lösen und neu Setzen der Klemmhaken, auf das sie ihre volle Konzentration richtete. Es kam überhaupt nicht in Frage, dass einer der Haken nicht perfekt saß.

Sarinas Gewicht spürte sie erstaunlich wenig an ihrer rechten Seite. Dadurch, dass die Felswand nicht senkrecht war, sondern eben ein gutes Stück geneigt, gelang es Sarina, sich gut festzuhalten. Dennoch, Sarina kam nicht aus eigener Kraft hinauf oder benötigte das Seil dafür, und jedes Mal, wenn Myrie eine höhere Position errang, zog es unangenehm asymmetrisch an ihrer Seite, bis Dainas Gewicht auf der anderen hinzukam. Myrie tat noch einen Klimmzug, dann hielt sie an einer Stelle inne, an der sie gut Halt fand.

“Daina, ich möchte, dass du versuchst ein Stück selbst zu klettern, etwa bis zu Sarina, und dich dann fallen lässt.”, sagte sie.

“Bitte was?”, fragte Daina ungläubig.

Myrie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.

“Kannst du sagen, warum?”, fragte Daina in ruhigerem Ton.

“Um zu testen, ob deine Hose hält. Ich denke schon, dass sie hält, aber besser wir testen das weit unten.”, sagte Myrie.

“Ach so. Ich denke auch, dass die hält. Aber du hast schon recht. Sicher ist sicher.”, gestand Daina ein.

Sie versuchte sich daran, Stellen zu finden, an denen sie Halt fand, aber sie zitterte dabei und sie hatte kaum die Kraft sich selbst zu halten. Myrie zog an ihrem Seilende und unterstützte Daina auf diese Art. Als sie befand, dass es hoch genug war, sagte sie: “Stopp!”

Daina blickte nach unten. Sie zögerte. Sie hatte Angst, das konnte Myrie ihr ansehen. Das war ja auch nichts Ungewöhnliches, man sprang nicht alle Tage einen Berg hinunter, wenn man nicht gerade Myrie war.

“Ich sollte wahrscheinlich gar nicht drüber nachdenken.”, sagte Daina.

“Und nicht nach unten gucken!”, ergänzte Sarina.

“Kommt halt drauf an, was du so für ein Typ bist. Mir hilft beides tatsächlich, aber das scheint eher die Ausnahme zu sein, habe ich gehört.”, entgegnete Myrie.

Daina sprang. Mit einem Ruck fing ihre Hose sie etwa eine halbe Körperlänge über dem Boden auf, sie stieß sich mit den Füßen von der Felswand ab und hielt sich mit den Händen am Seil fest, das Seil spannte sich ruckartig und zog an Myries Hüfte. Sie war darauf vorbereitet und veränderte kaum die Position.

“Und, hat deine Hose Geräusche gemacht? Knarzen? Sowas?”, fragte Myrie.

“Nein, alles gut hier.”, rief Daina.

Ganz sicher nicht alles, aber die Hose war nun getestet, überlegte Myrie.

“Dann geht es weiter.”, bestimmte sie.

Nun hatte sie an beiden Seiten bei jeder größeren Positionsänderung ein zusätzliches Gewicht, was die Sache besser machte, als die Asymmetrie zuvor. Ihr Training in den Virtualitäten machte sich bezahlt.

Sie kamen schon langsam voran, aber doch schneller, vermutete Myrie, als hätten sie den Umweg genommen, den Merlin gesucht hatte.

Oh, Merlin. Hoffentlich ging es ihm gut. Gut genug, zumindest. Hoffentlich war ihm nichts sehr Schlimmes passiert. Nichts Lebensbedrohliches. Außer, hier draußen in der Kälte zu sein.

Stückchen für Stückchen eroberte sie den Felsen. Von unten hörte sie das Schnaufen der anderen beiden. Sie würden morgen in ihren Armen mindestens so schlimmen Muskelkater haben, wie damals Merlin an ihrem ersten Schultag vom Treppen steigen in den Beinen. Aber an Muskelkater starb man nicht.

Endlich erreichte sie Olja und Myrie befestigte den Plüschhai an der Schwanzflosse an der kleinen zusätzlichen Schlaufe, die sie rechts dafür gebaut hatte. Sie hielt sich nicht länger damit auf als nötig. Bis zu einer schmalen Kante, die waagerecht genug erschien, als das jemand darauf vielleicht hätte laufen können, hatten sie zwei Drittel geschafft. Aber diese Kante unterbrach nur den steilen Abhang und Myrie wusste noch nicht, ob Olja von dort heruntergefallen war, oder von noch höher. Sie war aufgeregt, das herauszufinden, aber sie könnte nicht schneller klettern als zuvor, ohne die Sicherung zu vernachlässigen, und das kam nicht in Frage. Allein hätte sie es vielleicht gewagt. Obwohl, nein, auch allein nicht, aber allein wäre es wesentlich weniger umständlich gewesen, weil sie mehr Raum gehabt hätte.


Als sie die Kante erreichte, sah sie erst einmal vorsichtig über sie hinweg, um nicht gleich alle Spuren zu zerstören. Und was sie sah, erschreckte sie. Sie sah nicht nur Merlins Spuren, die sehr kleinschrittig von links kamen, sondern sie waren hier an der Stelle, an der sie ankam, abgerutscht. Hier fehlte der Schnee, war von einem Körper weggewischt worden, bis auf dort, wo er von einem haltsuchenden Fuß festgedrückt worden war. Aber er konnte nicht abgestürzt sein, sonst hätten sie ihn unten gesehen. Tot vermutlich oder schwer verletzt. Myrie schauderte es. Sie schloss kurz die Augen, um ruhig zu atmen und um sich nicht von der Angst überwältigen zu lassen.

“Ist etwas?”, rief Daina.

Myrie öffnete die Augen wieder und schaute entlang der Kante nach rechts. Die Spuren führten weiter, in noch kleineren Schritten. Eigentlich nicht einmal mehr Schritte. Es war eher eine einzige schmale Spur, völlig plattgetreten, in der ab und zu mal die Idee eines Profils erkennbar war.

“Er war hier.”, rief Myrie.

Sie drückte sich die Kante hinauf, sicherte sich an der Felswand hinter der Kante im Spalt, der sich auch hier weiter den Hang hinaufzog. Sie richtete sich langsam auf und sogar dabei setzte sie die Sicherung einmal um. Dann zog sie erst an Sarinas, dann an Dainas Seilende, bis die beiden hinter ihr auf der Kante standen.

“Puh, ist das schmal.”, sagte Daina und sie hatte recht.

Es passten kaum zwei Füße nebeneinander auf die Kante. Dainas große Füße passten gar nicht nebeneinander und sie musste sie hintereinander aufsetzen. Myrie konnte sich kaum vorstellen, dass Merlin sich diese Kante freiwillig ausgesucht hatte. Wahrscheinlich hatte sie viel weiter hinten breiter begonnen und war dann zu doll ausgedünnt. Und sich hier ungesichert umdrehen war sicher noch riskanter, als weiterzugehen. Es sei denn, die Kante würde noch schmaler werden.

“Wie weit, würdest du schätzen, ist Merlin noch gekommen?”, fragte Sarina. Er atmete flach und schnell.

Myrie überlegte. Wenn Merlin an dieser Stelle Olja verloren hatte und fast heruntergefallen war, dann hatte er zu dem Zeitpunkt mächtig Adrenalin im Kreislauf. So ein Erlebnis, wenn man nicht tatsächlich nicht mehr leben wollte, führte meist dazu, dass man wackelig auf den Beinen wurde und auch nicht mehr so trotzig seinem Ziel folgte wie zuvor. Es musste nicht so sein, aber Myrie hielt es für wahrscheinlich.

“Ich vermute, er hat sich nun nur noch was Besseres als diese Kante gesucht, um zu verweilen.”, sagte Myrie.

Oder er ist runtergestürzt, dachte sie. Aber das wollte sie nicht aussprechen. Vielleicht ein wenig, weil sie sich selbst von der Angst davor distanzieren wollte, aber vor allem, weil sie befürchtete, sie könnte Sarina und Daina damit Angst machen. Obwohl es ihnen eigentlich klar sein müsste.

Myrie nahm die Wanderung auf der schmalen Kante in Angriff und zwar wahrscheinlich in einem Tempo, das kaum weniger langsam war, als Merlins gewesen sein mochte. Es kam auch auf dieser Kante nicht in Frage, dass sie eine Sekunde die Sicherung außer Acht ließe, aber ihre Felsritze verlief nach oben und nicht entlang des Weges. Sie musste genauer hinsehen und suchen, wo sie die Klemmen gut verklemmen konnte, und an einigen Stellen musste sie den Steinbohrer nutzen, um andere Arten von Sicherungen zu montieren, die sie dann später wieder lösen musste. Und so sicherte sie jeden Schritt, den sie schlichen, neu, mit dem Unterschied, dass dieses Mal kein Gewicht von Daina und Sarina an ihren Seiten zog. Stattdessen machte sich nun Olja störend bemerkbar. Sie schliff mit ihrem Haikopf an der Kante entlang und Myrie hätte den Hai am liebsten höher gebunden. Aber das hätte bedeutet, die Sicherung umzugestalten, und dadurch zwischendurch ungesichert zu sein. Sie hätte den Hai auch wieder fallen lassen können, aber auch das wollte sie nicht.

“Myrie?”, sagte Daina. Ihre Stimme zitterte.

Myrie drehte sich um und sah, dass Daina schweißgebadet war, trotz der Kälte, und am ganzen Leib schlotterte. Das war nicht gut. Optimale Bedingungen, um krank zu werden. Und noch dazu ein Zustand, in dem man sich alles andere als wohl fühlte. Myrie war selbst nie so weit in diesen Zustand geraten, aber sie kannte Vorstufen davon.

“Es kann dir nichts passieren, Daina. Versuch ruhig zu atmen und dich auf deinen Atem zu konzentrieren. Du musst nicht darauf achten, dass du langsam atmest, aber gleichmäßig. Finde ein gutes Atemtempo für dich.”, sagte Myrie und versuchte so besänftigend wie möglich zu klingen.

“Ich kann nicht. Ich habe so eine verfluchte Angst und ich muss so aufpassen, nicht runterzufallen. Ich bin schon zweimal abgerutscht und konnte mich gerade fangen.”, sagte sie, beinahe schluchzte sie.

“Wir bleiben erstmal ein bisschen stehen.”, sagte Myrie.

Eigentlich taten sie das schon, seit sie sich umgewendet hatte, aber Myrie wollte es dennoch noch einmal klar stellen.

“Solltest du Abrutschen, passiert dir nichts. Wir haben die Hose getestet, und du bist an mir festgebunden. Ich bin hier immer ganz dicht an den Haken und sollte mich eigentlich schnell genug festhalten können, und dich dann wieder hochziehen.”, erklärte Myrie.

“Ich weiß. Aber wenn du auch fällst! Wenn die Haken nicht halten?”, fragte Daina weiter.

“Wenn ich auch falle, fallen wir etwas tiefer, aber die Haken fangen uns auf. Und ich sichere hier mit je mindestens zwei Haken. Ich gebe sehr genau Acht. Ich weiß, was die halten. Ich habe da Erfahrungen. Die halten uns auf jeden Fall.”, versicherte Myrie.

Daina nickte und versuchte sich damit zu beruhigen. Schließlich versuchte sie auch auf das Atmen zu achten, wie Myrie gesagt hatte. Das Zittern ließ nach, aber sie fing nun tatsächlich an zu weinen. Myrie kramte einer Idee folgend in ihren Taschen nach dem vierten der Klemmhaken. Sie brauchte eigentlich nie vier, aber sollte ihr einer verloren gehen, hatte sie dann immer noch einen in Reserve. Aber solange die drei Haken, die sie im Moment benutzte, am Seil befestigt waren, konnte keiner von ihnen verloren gehen.

Als Daina die Augen wieder auf Myrie richtete, zeigte Myrie ihr, wie der Haken funktionierte. Dann drückte sie ihn Daina in die Hand.

“Es wäre gut, wenn du ihn nicht fallen lässt. Aber wenn es doch passiert, dann ist das auch nicht so dramatisch.”, sagte Myrie.

Daina probierte den Haken aus. Sie setzte ihn ein paar Mal und löste ihn wieder.

Es half ihr, etwas in der Hand zu haben, was, solange sie es nicht umsetzen musste, ihr weiteren Halt gab, woran sie sich festhalten konnte. Und es half ihr auch, auf diese Art mehr zu tun zu haben.

Auch Sarina ließ es nicht kalt auf einer schmalen Felskante zu spazieren, aber er kam damit etwas besser zurecht, als Daina. Es wäre die Gelegenheit für ihn gewesen, über Daina zu lästern, überlegte Myrie, aber Sarina tat nichts dergleichen.


Endlich, nach einer Weile, die Myrie ewig vorkam, der Mond hatte sich ein gutes Stück über den Himmel bewegt und es mochte vielleicht bald der Morgen zu grauen anfangen, bog der schmale Weg um eine Felsnase und ging in flacheres Gelände über. Hier wölbte sich der Fels unter ihnen nach außen und bildete ein unebenes, ungemütlich bröckeliges Plateau, auf dem wieder ein paar vereinzelte Bäume Halt gefunden hatten. Es mündete in einer schrägen Felsspalte, der Boden in dieser schien nur leicht abschüssig und die Decke bildete etwa einen sechstel Vollwinkel dazu, etwa wie ein Giebeldach. Es war dunkel in der Nische, aber Myrie, deren Augen an das Dunkle gewöhnt waren, machte Umrisse darin aus, die die eines Schlafsacks sein könnten. Sie wäre am liebsten losgerannt, aber sie war immer noch mit Daina und Sarina verbunden. Also wartete sie, bis sie sich alle auf sicherem Gelände befanden, und löste dann das Seil von ihrer Hüfte. Weiter hielt sie sich allerdings nicht auf, sondern rannte nun wirklich in Richtung der Felsnische und sie hatte sich nicht geirrt. Hier lag Merlin in seinem Schlafsack, den er sich nachbestellt hatte, nachdem er seinen ersten an Myrie weiter gegeben hatte. Myrie kniete sich neben ihn, fühlte am Hals nach seinem Puls und beuge ihr Ohr über seine Nase und seinen Mund.

Daina hatte sich anscheinend zuerst vom Seil befreit, und näherte sich nun auch eilig, aber Myrie machte ein abwehrendes Handzeichen, weil ihre Bewegungsgeräusche alles übertönten, was Merlin an Atemgeräuschen machen könnte. Sein Hals war eiskalt, sein Puls zwar langsam, aber kräftig, und als Daina stehen blieb, hörte sie ganz leise seinen flachen Atem, und spürte ihn an ihrem Ohr. Erleichterung durchströmte sie. Sie wusste, dass durch Unterkühlung auch ein Punkt erreicht werden konnte, an dem beides nicht wahrnehmbar wäre, selbst wenn die Person noch lebte.

Merlin rührte sich nicht und es war nicht gesagt, dass er nicht schlimme Folgen, wie Erfrierungen, davon tragen würde. Oder Bewusstseinseinschränkungen. Sie ließ die Hand sinken und Daina näherte sich wieder. Myrie griff vorsichtig an Merlins Nacken unter seine Kleidung, möglichst ohne ihn dabei zu bewegen, und ertastete, ob er seinen EM-Anzug anhatte. Er hatte. Er blinzelte und gab leicht stöhnende Laute von sich. Sie öffnete vorsichtig und zügig den kalten Schlafsack, weiterhin ohne Merlin dabei zu bewegen. Dann nahm sie ihr Messer und schnitt seinen Pullover an den Schultern auf.

“Ich weiß nicht, was du vorhast, aber es erscheint mir nicht sinnvoll, noch mehr Kälte an ihn ranzulassen. Du bist kalt. Wir sind alle kalt. Wir können ihn nicht wärmen.”, gab Daina zu bedenken.

Myrie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Als sie den Oberkörper genügend frei gelegt hatte, ertastete sie unter seiner weiten Unterkleidung irgendwo in Schultergegend den Anschluss, den sie suchte. Sie löste Omantra von ihren Handgelenk und holte die KI aus dem Suspend. Sie schloss das Schweißband und die Wärmebatterie aus ihrer Ausrüstung an Merlins Anzug an.

“Gibt es irgendeine schonende Möglichkeit, wie man halb erfrorene, vielleicht bewusstlose Leute wieder aufwärmt?”, fragte sie.

“Gibt es.”, antwortete Omantra.

Die KI musste nun wissen, wo sich Myrie befand. Myrie hatte, sofern Omantra nicht im Suspend war, der KI die Rechte gegeben, ihren Ort zu bestimmen. Aber Omantra sagte nichts dazu.

“Leite das ein.”, befahl Myrie.

“Vorgang läuft.”, antworte Omantra. “Ich leite außerdem eine Herz-Kreislaufüberwachung ein, falls ein Eingreifen durch Stromimpulse notwendig werden sollte.”

Myrie schob Merlin die Kapuze des EM-Anzugs über den Hinterkopf, wobei er weitere Laute von sich gab, packte ihn wieder ein und wartete. Nun konnte sie nichts tun als abwarten. Die Felsspalte hatte auch eine Wand, die einigermaßen senkrecht verlief. Myrie lehnte sich dagegen und atmete tief durch. Omantra teilte ihr mit, dass alle durch den EM-Anzug messbaren Biosignale stabil waren und Myrie gab die Information an die anderen beiden weiter.

Dann weinte sie.


Sarina hatte sich schon seit einer Weile von seiner Befestigung gelöst, hatte sich aber zunächst Abseits gehalten. Nun untersuchte er Merlin ebenfalls. Dieser fing an, sich unruhig zu bewegen, vielleicht etwa so, als habe er einen schlechten Traum.

“Warm.”, sagte Sarina und drehte sich zu Myrie um. “Du hast nicht zufällig noch so etwas?”

Myrie schüttelte den Kopf.

“Oh, du weinst ja.”, sagte Sarina. Er stand auf, und setzte sich neben Myrie an die Felswand.

Daina setzte sich auf die andere Seite. “Was sollte denn jetzt noch passieren. Wir sind doch jetzt sicher und er scheint auch auf dem Weg der Besserung zu sein.”, fragte sie.

Myrie antwortete nicht. Aber sie weinte auch nicht aus Sorge. Sorge brachte nun nichts mehr. Entweder es ging gut, oder Merlin würde Schäden davontragen. Sie hatte es ab nun nicht mehr im Griff. Und das war der Grund dafür, warum sie nun weinte. Weil sie die ganze Anspannung seit sie den Verdacht bekommen hatte, Merlin könne nicht nach Hause gefahren sein, nun nicht mehr verdrängte. Aber sie konnte auch nicht sprechen. Sie begann ein wenig zu frieren. Sarina merkte es sofort und gab ihr ihre Weste zurück. Das bisschen Körperwärme, mit dem Sarina sie durch seine Kleidung hindurch gewärmt hatte, tat gut. Und Myrie wurde allmählich wieder ruhiger.

So sehr sie sich gewünscht hatte, einmal in diesem Berg herumzuklettern, dies waren sicher nicht die Umstände gewesen, die sie dazu hatte haben wollen. Es fühlte sich gerade überhaupt nicht gut an. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Weinte still vor sich hin und atmete.

Dann schließlich, als die Tränen versiegten, stand sie wieder auf und ließ sich im Schneidersitz neben Merlin nieder, schaute ihm ins vertraute Gesicht. Es war schön. Es war noch bleicher als sonst, weich und zart. Sie hauchte ihm vorsichtig ins Gesicht, dass auch dort Wärme hinkäme und er schlug die Augen auf. Er sah ihr direkt ins Gesicht, in die Augen. Er mag mich, dachte Myrie, und lächelte.

“Myrie.”, flüsterte er.

Myrie nickte.

“Ich habe hier oben sehr, sehr viele Schneeflocken gesehen. Völlig unförmige. Oder welche, die vielleicht Symmetrien gehabt hätten, wenn sie nicht zerpflückt gewesen wären. Du hast gelogen.”, sagte er sehr leise, die Stimmbänder wollten noch nicht so richtig.

Myrie überkam es und sie konnte sich nicht aufhalten, ihre Hand auszustrecken und ihm über die Wange zu streichen. Sie fühlte etwas sehr Wohliges in sich, etwas, was aber auch an ihr zerrte. Ein Gefühl von Erleichterung und sehr große Zuneigung, nur so plötzlich und so viel, dass sie dem unmöglich Ausdruck verleihen konnte. Etwas, was sie manchmal hatte, wenn ihr Papa mal wieder etwas sehr Liebes getan hatte. Sie hielt die Luft an, und lächelte. Man konnte nicht gleichzeitig atmen und so etwas fühlen. Und sie streichelte vorsichtig Merlins Gesicht. Dann rieb sie sich die Hände und hauchte mehrfach hinein, bevor sie es weitertat. Merlin lächelte auch.

“Es dünkt mir, ich habe mich bei meiner Aktion von Quatsch, auf den Ehrenberg steigen zu wollen, beim Spuren verwischen wohl zu ungeschickt angestellt, sodass der erste Quatsch durch den zweiten Quatsch aufgeflogen ist.”, sagte er.

Myrie beugte sich vor und küsste ihn auf die Stirn.

“Wenn ich weiter so einen Quatsch sage, küsst du mich dann irgendwann auf den Mund?”, fragte er.

“Nein.”, antwortete Myrie. “Es sei denn, der Quatsch, den du sagst, wäre eine Bitte, das zu tun.”

“Mache ich nicht.”, sagte Merlin.

Leichte Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit und Myrie vermutete, dass er an Fadja denken musste. Dann setzten bei ihm Schmerzen in den Beinen ein. Omantra erklärte, dass das völlig normal wäre, wenn man wieder warm würde, und dass er womöglich auch Muskelkrämpfe bekommen würde, und es gut wäre, wenn er etwas Warmes mit Zucker trinken würde. Myrie presste ihren Trinkschlauch an ihre Brust um ihn zu wärmen. Daina hatte Traubenzucker dabei. Sie meinte, sie bräuchte das manchmal, um besser denken zu können. Sie bröselten etwas davon in den Schlauch und Myrie wärmte ihn weiter, bis sie fand, dass es vielleicht in Ordnung wäre. Merlin trank es vorsichtig, nahm dazu eine leicht sitzende Haltung ein, und legte sich dann wieder hin. Er sollte sich zunächst noch ruhig halten, niemals die Gliedmaßen über den Körper heben.

Merlin weinte nicht. Er verzog das Gesicht, bog den Rücken, dann begann er zu zittern, immer wieder durchfuhr ein Beben seinen Körper, er wimmerte leise, aber er weinte nicht. Myrie versuchte herauszufinden, was sie noch tun sollte, aber es gab weiter nichts zu tun. Myrie verließ den Felsspalt, sammelte Holz von den umliegenden Bäumen und machte mit Hilfe des kleinen Flammenwerfers, den sie dabei hatte, ein Feuer, – natürlich nicht in der Felsnische. Neben dem Effekt, dass es wärmte, konnte sie Schnee schmelzen. Mit Feuer war es zwar nicht so einfach, aber das resultierende Wasser war warm. Sie bekam es mit Hilfe von Dainas Traubenzucker fertig, Merlin einen ganzen Trinkschlauch süßen, warmen Wassers einzuverleiben. Er fand es widerlich äußerte er hinterher, aber wenn es half, war es gut.

Inzwischen dämmerte der Morgen. Es wurde nicht richtig hell, der Himmel war bedeckt und es war diesig. Merlin hatte sich in seinem Schlafsack an die äußere Felswand vor das Feuer gelehnt und wärmte sich auf. So saßen sie alle drei darum herum und warteten, bis sie entweder von einer Drohne gefunden würden, oder Merlin sich soweit erholt hätte, dass Myrie ihm zutraute abgeseilt zu werden, oder, wenn beides nicht eintreffen würde, darauf, dass sie sich entschlossen, Hilfe zu rufen.

“Ich frage mich, warum die Drohnen uns noch nicht gefunden haben.”, murmelte Daina.

“Vorhin war eine hier.”, erwiderte Merlin. “Ich dachte schon, ich wäre gerettet. Sie schwirrte eine Weile hier herum, aber ich war zu lethargisch um mich zu bewegen, geschweige denn um meinen Körper aus dem Schlafsack zu schälen und dann ist sie wieder weggeschwirrt.”

Daina saß neben ihm. Sie blickte ihn böse von der Seite an, dann richtete sie ihren Oberkörper auf und schlug ihm ins Gesicht.

“Du bist so dumm. Mach so etwas nie wieder.”, spie sie aus.

Merlin wehrte sich nicht, er wirkte sogar gelassen. “Bin ich wohl.”, gab er zu.

Myrie sah zwischen den beiden hin und her und fragte sich, ob ein Eingreifen nötig wäre. Sie saß Merlin gegenüber und damit am nächsten zum Abhang.

“Warum bist du überhaupt weggelaufen.”, wollte Sarina wissen.

“Erinnerst du dich an Fadja?”, fragte Merlin.

“Wie sollte man darum herum kommen, sich an den Namen zu erinnern, wenn du sie dauernd erwähnst?”, erwiderte Sarina.

“Sie ist tot.”, sagte Merlin schlicht.

“Oh, wie ist das passiert?”, fragte Daina und ihre Wut verflog fast so schnell, wie emotionaler Ausdruck bei Ara Seefisch wechseln konnte.

“Sie war alt.”, antwortete Merlin.

Daina runzelte die Stirn. “Wie alt?”, fragte sie skeptisch.

“214.”, sagte Merlin. “Mindestens.”

Dainas Wut war so schnell wieder da, wie sie verflogen war und sie schlug Merlin ein weiteres Mal. Dieses Mal sprang Myrie auf, bewegte sich rasch am Feuer vorbei, griff nach Dainas Handgelenk, wie sie es von Olge gelernt hatte, und drehte den Lobbud auf den Bauch. Ihr ging dabei Olges Warnung durch den Kopf, dass Lobbuds sehr empfindlich wären. Sie kontrollierte ihre Kraft genau auf das Nötigste und fixierte Daina mit eben dieser Kraft auf dem Boden.

Daina keuchte.

“Du hörst auf, Merlin zu schlagen und wir tauschen Plätze.”, ordnete Myrie an.

Sie ließ allerdings nicht los, sondern wartete zunächst ab, ob Daina zustimmen würde.

“Ich möchte nicht am Abhang sitzen, aber ich höre auf.”, versprach Daina mit wenig Atem, weil sie auf ihrem Brustkorb und in einer verklemmten Haltung lag.

Myrie überlegte, dass es ihr genügte und ließ wieder los. Sie überlegte auch, ob sie sich vielleicht zwischen Merlin und Daina quetschen mochte, aber das war ihr doch zu eng. Also begab sie sich zurück auf ihren Platz und beobachtete Daina skeptisch, die sich wieder aufrappelte.

“Was ist eigentlich das Problem am Alter?”, fragte Myrie.

Daina holte aus um zu antworten, tat es dann aber doch nicht. Sie grübelte eine Weile und sah ins Feuer.

“Vielleicht nichts. Ich hatte die ganze Zeit Angst um Merlin, seit wir seine ersten Spuren gesehen hatten. Und nun stellt sich raus, dass er sein Leben riskiert hat, mehrfach, weil, naja, quasi weil er eine Beziehung zu einer sehr alten Person geführt hat.”, antwortete Daina und hob den Kopf dabei. “Mir hat man mitgegeben, dass es keine gute Idee wäre, wenn der Altersunterschied so sehr massiv ist. Aber ich weiß auch nicht warum. Vielleicht eben wegen solcher Situationen wie dieser.”

Sie senkte den Kopf und sah wieder in die Flammen, diejenigen, die ihr am nächsten züngelten.

“Ich habe mir das nicht ausgesucht. Es hat sich so ergeben. Aber ich bereue es nicht.”, ergänzte Merlin.

Daina warf ihm wieder einen bösen Blick zu, aber ihre Wut, die sie zu körperlicher Reaktion bewegt hatte, war verraucht.

“Das Weglaufen schon.”, murmelte Merlin kleinlaut und Daina beruhigte sich wieder.

“Wenn wir aktuell nichts anderes tun, als abzuwarten, aber generell in Sicherheit sind, mag ich dich, Daina, auf etwas Interessantes aufmerksam machen.”, sagte Sarina lebhaft.

Nicht nur Daina richtete ihren Blick auf ihn.

“Solltest du den Mut besitzen, bis zu der Felskante vorzukriechen und hinabzublicken, wirst du sehen, dass es an dieser Stelle tiefer hinabgeht, als der Hang hoch war, den wir hinaufgeklettert sind.”, fuhr er fort.

“Ich habe den Eindruck, du hast herausgefunden, dass ich Angst vor Höhen habe, und willst dich nun an mir rächen.”, entgegnete Daina bissig.

“Der Abgrund hier geht ein gutes Stück weiter hinab in die Tiefe. Man kann den Boden nicht sehen, er wirkt von oben schwarz und dunkel und hat die Form eines Halbmondes.”, kam Sarina unbeirrt zum Schluss.