Klettern und Fallen

Als sie das nächste mal wirklich wahrnahm, dass sie wach war, wusste sie nicht, wie lange sie schon wach gelegen hatte, oder ob es überhaupt nur Einbildung war, dass sie wach war. Ihr Kopf schmerzte heftig und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Einzelne Gedanken, wie dass ihr Papa vielleicht informiert war und sich sorgte, oder dass sie alles schlimmer machen würde, wenn sie einfach hier blieb, oder dass um sie herum vielleicht gefährliche Tiere waren, konnte sie kurz greifen, aber sie entzogen sich sofort wieder ihrer Kontrolle. Sie bemerkte zwischendurch auch ein helleres Licht als das Nachtdunkel, aber ihr Gehirn brauchte eine halbe Ewigkeit um von da darauf zu schließen, dass dies dann wohl nicht der Finsterwald war. Die Schmerzen waren so unerträglich, dass sie nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Irgendwann bewegte sie sich doch, weil sie sich heftig übergeben musste, und es fertig brachte dies vom Baum herab zu tun. Danach ging es kurz besser. Sie überlegte nach unten zu klettern, um sich den Mund im Bach auszuspülen. Dabei fiel ihr ein, dass sie ja gestern aus dem Bach getrunken hatte, und ob sie jetzt tatsächlich vergiftet sein könnte. Etwas kam ihr daran unlogisch vor, aber ihre Gedanken purzelten wieder durcheinander und der Schmerz kehrte zurück. Sie legte sich wieder in den Schlafsack und presste sich die kühlen Finger in die Stirn und gegen die Nase.


Sie übergab sich mehrfach, wusste nicht wie oft, und gab es bald auf auch nur zu versuchen zu denken, aber auch das mit wenig Erfolg. Es wurde nie ganz hell. Nur ein vages Dämmerlicht vermittelte ihr, dass es wohl zwischendurch Tag gewesen war. Irgendwann schlief sie erneut ein, trotz der Schmerzen, wälzte sich lange hin und her, und endlich ließen sie nach.


Omantra weckte sie als warme Empfindung an ihrem Unterarm. Sie öffnete die Augen und war hellwach und schmerzfrei. Die Luft war angenehm kühl und es war sehr dunkel. Es musste tiefste Nacht sein. Die zweite Nacht, dachte Myrie.

“Omantra?”, fragte sie in einer Mischung aus Verstörung und Überraschung.

Sie hatte Omantra die ganze Zeit im Standby gehabt, so eingestellt, dass sich die KI eigentlich nicht selbst hochfahren durfte, wenn Myrie es nicht anders einforderte. Nicht einmal, wenn jemand sie anrief.

“Es hat jemand um Hilfe geschrien.”, hörte sie Omantras Stimme leise in ihrem Ohr. Ein Notfall, dachte Myrie. Interessant.

“Ist noch jemand im Wald?”, überlegte sie.

“Ein verängstigtes Kind. Auf der anderen Seite.”, antwortete Omantra.

Damit meinte sie die Richtung, in die Myries anderer Arm zeigen würde, der an dem nicht das Schweißband mit Omantra war, würde sie senkrecht vom Körper wegdeuten.

Myrie schwang sich aus dem Baum, ließ sich fallen und rollte geschickt ab. Dann schlich sie in die gedeutete Richtung. Sehr vorsichtig. Sie fühlte sich zwar nun ausgeruht und im Prinzip in der Lage, anderen gegenüberzutreten, aber man musste es ja auch nicht übereilen. Außerdem war vielleicht Gefahr, wo jemand um Hilfe rief. Sie lauschte angestrengt, und nun hörte sie es auch.

“Hilfe?”, es war ein zaghaftes Schreien, wenn es so etwas gab, das gleichzeitig eine Frage war, ob überhaupt jemand da war. Und sie erkannte die Stimme. Es war Merlin. Was suchte Merlin im Wald?

Sie trat auf eine kleine Waldlichtung, an deren Rand ein sehr hoher Baum stand. Lichtung war vielleicht etwas viel gesagt. Der Wald hatte hier eine Stelle mit etwas weniger Bäumen als ringsumher. Der eine Baum überragte die anderen um einiges, und hatte praktischerweise eine Menge Äste, sodass man ihn bemerkenswert einfach hinaufklettern konnte. Fast wie eine Leiter mit Sprossen mit etwas zu großem Abstand, dachte Myrie. Mondlicht fiel hier durch das Blattwerk, wenn auch nicht viel, aber genug, um einen Überblick zu bekommen. Hoch oben hing Merlin an einem Ast, mindestens eine volle Armlänge vom Stamm entfernt.

“Hilfe?”, schrie er erneut.

Wieder mit diesem Tonfall, als ob er nicht so recht daran glauben würde, dass ihn irgendwer hier draußen hören würde. Er hatte Myrie noch nicht bemerkt. Myrie überlegte, wie er in diese Lage gekommen sein könnte. Der Baum machte einen solch stabilen und freundlichen Eindruck. Er hätte sich sicher auch nicht ohne Grund soweit vom Stamm wegbewegt. Oder wusste er nicht, dass Äste leichter abbrachen, je weiter man vom Stamm weg wäre, wegen der Hebelwirkung.

Es schien wahrscheinlich, dass er von dem Ast aus, an dem er hing, den schräg dazu verlaufenden Ast oberhalb hatte erwischen wollen, überlegte Myrie. Dieser war vom Stamm aus nicht so gut zu erreichen. Dabei war er wahrscheinlich ausgerutscht, und hatte sich dann gerade noch an dem Ast festhalten können, auf dem er zuvor balanciert war. Ein riskantes Unterfangen, aber vielleicht hätte sie das nicht anders gemacht. Jetzt, wo sie genau hinsah, konnte sie kleine Ästchen am Ast darüber sehen, die abgeknackst herunterbaumelten, was ihre Hypothese bestärkte.

“Warum zieht er sich nicht hoch?”, murmelte sie verwirrt.

“Er ist vermutlich nicht stark genug.”, erwiderte Omantra.

Myrie konnte sich kaum mehr daran erinnern, einmal nicht stark genug gewesen zu sein, sich an einer Stange oder einem Ast hochziehen zu können.

“Myrie?”, fragte Merlin plötzlich.

Er hat mich offenbar gehört, dachte Myrie. Ob es eine Möglichkeit gab, mit Omantra zu kommunizieren, ohne dass es gehört würde? Sie würde sich darüber nachher wohl mit der KI austauschen.

“Es ist ein wenig zugig hier oben. Die Haltung ist, sagen wir, auch nicht optimal bequem.”, sagte Merlin. Er klang nun etwas zuversichtlicher.

Myrie begann zu überlegen, wie sie ihm am besten helfen könnte.

“Kannst du raufkommen und mir runterhelfen?”, fragte er.

Sie überlegte, dass die Äste da oben womöglich nicht ihrer beider Gewicht tragen würden. Das sollte sie nicht probieren, das wäre sehr gefährlich.

“Nein.”, rief sie.

“Ich weiß nicht, ob ich so lange aushalten kann, aber könntest du eine Lehrkraft holen?”, fragte er dann.

Er klang schon wieder mutloser. Myrie ging auch diesen Vorschlag im Kopf durch. Zum einen hatte er recht, es könnte sein, wenn er schon nicht stark genug war, sich hinaufzuziehen, dass er sich nicht über einen so langen Zeitraum festhalten könnte, den sie brauchen würde, um jemanden zu holen. Noch dazu war es mitten in der Nacht. Sie wusste nicht, wo die Lehrkräfte schliefen, und es war auch viel zu unsicher, ob sie eine davon überzeugt bekäme, mitzukommen. Und sie wusste auch nicht, was die Besseres tun könnten als sie mit ihrer Ausrüstung. Außerdem wusste sie noch nicht so genau, wie gut sie darin war, im Wald alles wiederzufinden, was sie einmal gesehen hatte.

“Nein.”, rief sie also erneut. Merlin seufzte schwer.

“Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich doch fallen zu lassen, oder? Würde ich das überleben? Kannst du das einschätzen?”, fragte er schließlich.

Drei Fragen. Das war viel. Aber er hatte sich ja bisher als geduldig erwiesen, dachte Myrie. Das würde sie vielleicht hinkriegen.

“Zur ersten Frage: Ich denke, dass es andere Möglichkeiten gibt. Zur dritten, ich denke, ich kann das einigermaßen sinnvoll einschätzen. Und zur zweiten, die ja darauf aufbaut, und wohl die schwierigste der drei ist: Du würdest durch allerlei Geäst fallen. Das bremst den Fall, aber bricht dir auch Knochen. Ich würde die Wahrscheinlichkeit, dass du das überlebst, auf so 60% schätzen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass du hinterher nicht heftig wieder zusammengeflickt werden müsstest und keine bleibenden Schäden davon tragen würdest, ist etwa 0.”

“Puh, das ist immer noch besser, als was ich geschätzt hätte.”, rief er, “Aber es klingt, als hättest du einen Plan, wie ich hier anders runterspazieren könnte. Was schlägst du vor?”

Myrie löste ihren Gürtel.

“Du willst dich ausziehen?”, fragte Merlin. “Das ist eine interessante Strategie, ich bin gespannt.”

Myrie grinste. Er sah also die ganze Zeit nach unten, dachte Myrie. Das gefiel ihr irgendwie, sie konnte auch nicht genau sagen warum.

Sie fädelte mehrere Lagen ordentlich zusammengelegten Stoffs durch die Gürtelschnalle und warf sie auseinander. Dann öffnete sie das Ventil an der Schnalle und die Stoffbahnen füllten sich mit Luft. Der plattgedrückte Schaumstoff darin plusterte sich auf, sodass sie bald ein angenehm in der Hand liegendes, meterlanges Kletterseil in der Hand hielt.

“Oh!”, rief Merlin aus. “Die Frage ist nur, wie es hier hochkommt, wenn du nicht hochkommst. Kann es klettern?”

“Nicht ganz!” Darüber hatte Myrie bereits nachgedacht.

Sie zog ein kleines Kästchen aus einer ihrer Westentaschen. Es war außen weich gepolstert, weil sie keine harten Kanten auf ihrer Haut spüren mochte. Im Kästchen befand sich eine kleine Drohne, die sie nun entpackte und zusammensteckte. Sie hakte die Gürtelschnalle in einen Greifmechanismus der Drohne.

“Flieg nach oben.”, sagte sie zu der Drohne.

Das Gerät startete ein wildes Sirren, das viel höher klang als das der Drohne des Lehrers vorhin, und schwirrte, Ästen ausweichend und ansonsten senkrecht, nach oben, bis Myrie “Stopp.” sagte. Myrie gelang es, das Seil mit der Drohne links von Merlin am Ast zu befestigen. Leider war das Seil nicht lang genug um auf den Boden zu reichen. Es endete wenige Meter über dem Boden oberhalb eines Astes, über dem leider eine längere Astlücke war. Merlin würde entweder schon einige Meter höher vom Seil zurück auf einen Ast klettern müssen, oder sich von dort fallen lassen müssen. Das würden sie später entscheiden, abhängig davon, wie er sich beim Herabklettern verhielt, und was ihm selbst besser gefiel, beschloss Myrie vorläufig.

“Nun wickele ein Bein in das Seil ein, klemme es mit dem anderen am einen fest und übergib langsam und vorsichtig das Gewicht an das Seil. Lass den Ast nicht ganz los.”, kommandierte sie.

Sie sah, wie Merlin nach unten schaute, und versuchte zu tun, was sie sagte, zittrig dabei war. Aber es gelang ihm.

Myrie überlegte, dass er sicherlich nicht so gut Fallen und Abrollen gelernt hatte wie sie, während sie ihm Anweisungen gab, wie er sich dann völlig dem Seil übergeben solle und sich herunterlassen sollte. Ein weiteres Problem, dass sie nicht bedacht hatte, waren seine empfindlichen Hände. Eigentlich waren sie auch nicht übermäßig empfindlich, aber Myrie hatte eine sehr robuste, feste Haut, und hatte einfach nicht daran gedacht, dass das bei anderen nicht unbedingt gegeben war. Vor allem nicht bei Menschen.

Innerhalb kurzer Zeit waren Merlins Hände wund und blutig. Er jammerte nicht, er hatte es irgendwo in einem Nebensatz erwähnt. Myrie überlegte fieberhaft, ob sie ihm etwas geben könnte, was dagegen half. Ihr EM-Anzug hatte Handschuhe. Zwar waren ihre Finger kürzer als Merlins, aber vielleicht würde es trotzdem helfen. Sie holte EM-Anzug und Messer aus den Taschen ihrer Kleidung, durchtrennte die Stellen, an denen die Arme in die Hände übergingen. Dann kletterte sie flink den Baum hinauf und gelangte an die Stelle, an die Merlin bereits herabgerutscht war und überreichte ihm die so entstandenen Handschuhe. Er zog sie dankbar und stirnrunzelnd an.

“Im Unterricht brauchen wir funktionierende EM-Anzüge. Dafür brauchst du dann wohl einen neuen, oder dieser hier muss geflickt werden.”, überlegte er.

Nun in der Nähe, sah Myrie deutlich, dass sein Gesicht feucht von Schweiß war, ziemlich gerötet, und er zitterte. Sie blieb ab jetzt stets in seiner Nähe, das schien ihn etwas zu beruhigen.

“Mach eine Pause.”, empfahl sie, weil Omantra das am Anfang viel gesagt hatte, wenn sie sehr angestrengt und aufgeregt war. “Schließ eine Weile deine Augen, halt dich ganz dicht am Seil und nimm deinen Atem wahr.”

“Haben wir Zeit dafür?”, fragte er atemlos.

“Wir nehmen uns die, das macht es besser.”, sagte Myrie.

Merlin tat, was sie gesagt hatte und wurde tatsächlich ruhiger. Während des weiteren Abstiegs sah Myrie beständig in sein Gesicht und legte hin und wieder eine solche Pause ein, oder gab eine andere Empfehlung zur Fokussierung, wie sie es von Omantra gelernt hatte, und völlig darauf fokussiert bekam sie erst zu spät mit, dass er am letzten Ast, der noch vom Seil erreichbar war, vorbeigerutscht war. Nun würde er wohl entweder wieder hochklettern müssen, oder sich fallen lassen müssen, überlegte Myrie. Vielleicht könnte sie das Fallen sinnvoll begünstigen. Zwischen dem Waldboden und dem Endpunkt des Seils, an dem Merlin hing, gab es noch einen Ast, der aber vom Seil aus nicht erreichbar war. Sie kletterte auf diesen Ast unterhalb von ihm und wippte etwas darauf. Er könnte sie vielleicht gerade so beide aushalten, aber vielleicht sollte sie nicht damit rechnen. Dennoch sollte er gut geeignet sein, sie abzufedern. Sie setzte sich unterhalb von ihm aufrecht hin, so, dass der Ast in ihrer Kniekehle klemmte.

“Der Plan ist, dass du gleich mit den Händen das Seil loslässt, und dich nur noch mit den Beinen festhältst. Dann hängst du kopfüber und kannst meine Hände mit deinen erreichen. Okay?”, erklärte sie.

“Kopfüber?”, sagte Merlin mit zittriger Stimme. Er sah zu ihr nach unten, dann auf seine Beine und schaute in die Umgebung. “Na gut!”

Er ließ sich über den Rücken herab und baumelte nun nur noch an den Beinen. Er streckte die Arme aus und Myrie ergriff seine Handgelenke, als er an ihr vorbeischaukelte. Er blickte ihr in die Augen, ein Blick voll Angst aber auch voll Vertrauen. Das war Myrie nicht gewohnt, aber es fühlte sich gut an, fand sie.

“Ich erkläre dir nun den Plan. Höre erst zu Ende zu, bevor du den befolgst, ja?” Myrie wartete ein Nicken ab, bevor sie fortfuhr. “Als nächstes löst du die Beine. Ich schwinge dann auch herab, schwinge dich an den Händen um mich herum nach unten, und lasse dich los, sodass du gut gebremst mit den Füßen zuerst auf dem Boden ankommen wirst. Wenn du es hinkriegst, bleib beim Fallen steif, aber geh beim Aufkommen weich in die Hocke und kugele dich irgendwohin. Sonst verstauchst du dir vielleicht was.”

“Verstauchungen klingen ja noch voll im Rahmen in diesem Abenteuer, aber lass mich kurz nachdenken.”, antwortete Merlin.

Seine Finger schlossen sich nun ebenfalls um ihre Handgelenke. Seine Finger waren fein und kühl. Sie konnte es durch die Handschuhe hindurchfühlen, und es war ein schönes Gefühl.

“Okay.”, sagte er und sein Griff wurde fest. “Sobald du los sagst.”

Myrie atmete einmal tief ein und aus, und sagte: “Los.”

Merlin wand seine Beine aus dem Seil, geschickt, fand Myrie, sodass, als er ganz losließ, er nicht darin hängen blieb. Myrie gab ihm einen Impuls, sodass er nicht auf den Ast krachte, auf dem sie saß, sondern daran vorbei fiel. Sie selbst schwang sich nach hinten, bis sie an ihren Knien hing. Mit einem Ruck spürte sie das Gewicht Merlins plötzlich an ihren Armen. Der Ast knackste. Sie gab ihm noch etwas Schwung, sodass er etwas weiter hinten und mit dem Gewicht nach vorn landen würde, und ließ los. Ab diesem Moment hatte sie keine Kontrolle mehr darüber, was mit Merlin passieren würde, und konzentrierte sich auf ihr eigenes Fallen. Sie löste ihre Knie von dem sich an der angeknacksten Stelle neigenden Ast, rollte sich über eine Schulter ab, als sie aufkam, und stand direkt wieder auf. Sie blickte sich um, wo Merlin auf dem Boden lag und keuchte, aber nicht schrie oder wimmerte, und hinauf zum Ast, der nun einen etwas scharfen Winkel nahe des Stammes aufwies, an dem helles Holz hervorlugte. Dann sah sie wieder zurück zu Merlin, der nun mühsam aufstand. Und seine Gelenke vorsichtig bewegte.

“Scheint nichts abgefallen zu sein.”, kommentierte er.

“Tut was weh?”, fragte Myrie.

“Also um genau zu sein, alles ein bisschen.”, sagte er. “Aber nichts doll schlimm außer die Hände.”

Er streifte die Handschuhe wieder ab und gab sie Myrie zurück. Die Hände sahen wirklich schlimm aus. Einige Stellen bluteten, dort wo die Reibung am höchsten gewesen war, aber viel schlimmer waren die Stellen, die nicht bluteten, sondern wo bloß mehrere Hautschichten fehlten und nur winzige Bluttröpfchen nach außen drangen. So etwas brannte höllisch, das wusste Myrie. Sie kramte aus ihren Taschen ein kleines Notfallset heraus. Es war dünn und flach und enthielt ein paar Tücher mit desinfizierender Flüssigkeit und Hautklebstoff.

“Hmm, am besten, du wäschst erstmal im Bach das Gröbste ab, dann desinfizieren wir das.”, schlug Myrie vor. “Wenn du willst, kannst du vorgehen. Der müsste dort irgendwo sein.” Sie deutete in die Richtung, aus der sie schwach das Plätschern hörte. Sie selbst sammelte mit Hilfe der Drohne das Kletterseil wieder ein. Sie verpackte die Drohne ordentlich, während sich das Seil entplusterte mit einer an der Schnalle befestigten Pumpe.

“Ich warte lieber.”, meinte Merlin und sah interessiert zu. “Du hast da eine wirklich feine Ausrüstung. Die lässt sich in der Tat viel praktischer verpacken, als so eine Musikanlage.”

Myrie grinste. Sie ließ sich Zeit damit, ihr Seil ordentlich zu falten und wieder in einen Gürtel zu verwandeln. Das war vielleicht nicht nett gegenüber Merlins Händen, aber sie mochte es einfach nicht, wenn die Dinge nicht ordentlich waren. Dann brachen sie auf.

Auf dem Weg hörte Myrie an Merlins Atemgeräuschen, dass ihm die Bewegungen sehr schwer fielen. Womöglich war der Muskelkater vom Treppensteigen noch gar nicht abgeklungen. Das war schließlich erst vorgestern Abend gewesen. Auf der anderen Seite kam ihr vorgestern Abend schon recht lange her vor. Aber das kannte sie schon. Die Ruhe allein irgendwo draußen brachte immer Abstand zwischen die Dinge.

“Hast du eigentlich mich gesucht?”, fragte Myrie.

“Ja. Ich dachte, ich klettere auf einen hohen Baum in der Nähe der letzten Spur von dir und rufe. Ich hatte überlegt, vielleicht hast du Angst, dass dich niemand mag, aber ich mag dich.”

Die Worte rührten etwas in Myrie. Ihr Atem war auf einmal sehr heiß und sie spürte, dass ihre Augen feucht wurden. Aber es verging auch schnell wieder.

“Wir kennen uns noch gar nicht so lange. Wie kannst du so schnell sicher sein, dass du mich magst?”, fragte sie kritisch.

“Ich weiß es halt.”, erwiderte er achselzuckend.

Sie kamen an den Bach. Myrie trank, weil sie erneut feststellen musste, wie wenig sie getrunken hatte, seit sie im Wald war, und sie reinigten und desinfizierten Merlins Hände, bis sie beide plötzlich innehielten. Ein Getrappel direkt in ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Einige Meter vor ihnen stand ein Tier. Es wirkte eigentlich recht harmlos, fand Myrie. Es war wie ein Reh in der Größe einer Hauskatze, mit zotteligem, dunkelgrünem Fell. Myrie drehte ihr Handgelenk so, dass Omantra es sehen konnte.

“Omantra, was ist es?”, flüsterte sie.

Erneut überlegte sie, wie praktisch es wäre, mit Omantra lautlos kommunizieren zu können. Auch im Viererzimmer würde es praktisch sein.

“Es ist eine Waldschnuge. Allerdings eine mit untypischem Verhalten. Schnugen sind normalerweise scheuer und würden sich nicht so nah an ein Wesen wie dich herantrauen.”

“Was ist es?”, fragte Merlin an sie gewandt.

Myrie fragte sich, ob er selbst gar keine KI dabei hatte. Sie wiederholte für ihn, was Omantra gesagt hatte.

Diese Schnuge war allerdings wirklich nicht scheu. Sie hoppelte auf Myrie zu und ließ sich kurz berühren. Dann galoppierte sie davon, aber wartete, sich umblickend, ob ihr die Kinder folgten.

“Könnte es eine Falle sein?”, überlegte Merlin.

“Ich würde es riskieren.”, beschloss Myrie und folgte der Schnuge in einigem Abstand.

Merlin hatte die Wahl dazwischen, sich von Myrie zu trennen, oder zu folgen. Er entschied sich für letzteres. Leise aufstöhnend setzte er sich in Bewegung.

Die Schnuge trabte zielstrebig durch den Wald, die Richtung einschlagend, in der Myrie das Schulgebäude vermutete, und fand einen Weg, der verhältnismäßig frei von Hindernissen war. Sie sah sich immer wieder um, ob Myrie und Merlin noch folgten, dann trabte sie weiter. Es zog sich eine ganze Weile hin, der Wald lichtete sich allmählich und schließlich gelangten sie auf eine größere Waldlichtung und das erste Mal, seit Myrie im Wald verschwunden war, erblickte sie Himmel. An einigen Stellen waren Sterne zu sehen, andere Teile des Himmels waren von einer dünnen, durch das Mondlicht leuchtenden Wolkendecke bedeckt. Es war angenehm kühl und es war hier weniger feucht als in den Tiefen, in denen Myrie übernachtet hatte. Myrie mutmaßte, dass sie nicht weit vom Waldrand entfernt waren. Auf dieser Lichtung stand ein einzelner niedriger Baum und eine ganze Herde von Schnugen wuselte um ihn herum. Myrie und Merlin blieben am Rand der Lichtung stehen und konnten beobachten, wie sich der Baum zur ankommenden Schnuge herunterbeugte. Es war gar kein Baum, überlegte Myrie, sondern ein Aum. Sie hatte Äume in Lernvirtualitäten gesehen, aber sie hatten anders ausgesehen, größer und knorriger. Dieses Geschöpf hatte mehr etwas von einer Weide, biegsam und wendig, auf dem Kopf junge nach hinten gebogene Äste mit grünen Blättern. Nun richtete sich der Aum wieder auf und schaute in ihre Richtung. Er winkte.

“Es muss die Muhme sein.”, flüsterte Merlin andächtig. Dieses Mal machte er den Anfang und trat auf die Lichtung.

Die Muhme sprach nicht, aber ihre Gesten waren eindeutig. Sie führte Merlin und Myrie einen festgetretenen, schmalen Pfad entlang, wieder zwischen Bäumen hindurch zu einem kleinen, uralt wirkenden Haus. Es stand mitten im Wald und war komplett aus Steinen gebaut, die allein durch Statik hielten. Es machte gleichzeitig einen stabilen und krumm und schiefen Eindruck. Es war eben so gebaut, wie die Steine gerade passten, überlegte Myrie. Einzig nicht aus Stein war die Tür, die stattdessen aus einem kupferartigem Metall bestand.

Im Haus gab es keine Holzmöbel und das befremdete Myrie. Es gab einen Kamin aus Stein, in dem weiße Asche glühte, die etwas Restwärme von sich gab. Es gab aus Stein gehauene Sitzbänke, die mit unverarbeiteter Schurwolle gepolstert waren, einen Herd, der an den Ofen angrenzte, aus Eisen und dem kupferähnlichen Material der Tür, und ein paar Steinplatten, die zusammen einen Tisch ergaben. Wollvorhänge verdeckten einige Nischen, hinter denen Myrie Regale vermutete und hinter einem besonders großen Vorhang einen weiteren Raum. An einer Wand waren eiserne Kerzenhalter angebracht, auf denen echte Kerzen brannten und den Raum beeindruckend gut ausleuchteten.

Die Muhme füllte ihnen Suppe in Steinschälchen und erst jetzt merkte Myrie wie hungrig sie war. Die Muhme reichte ihnen die Schälchen, bedeutete ihnen sich hinzusetzen und beobachtete sie besorgt. Zumindest kam es Myrie besorgt vor, so genau konnte sie das nicht sagen. Die Muhme hatte durchaus Haut, die an verschiedenen Stellen in Rinde überging. Aber eben jene Stellen zeigten keinerlei Regung, höchstens am Rand und so war etwa ein Stirnrunzeln kaum auszumachen. Sie war in dunkelgrüne Filzkleidung gewickelt. Kleidung, die wie etwas zwischen Anzug und Kleid wirkte, und fast wie eine Moosschicht wirkte. Ein rostroter, geflochtener Wollstrang schlang sich auf der Höhe um ihren Körper, wo Myrie die Hüfte vermutet hätte. Der Körper der Muhme war allerdings eher gerade, vielleicht sogar eher runder in der Mitte, hatte jedenfalls keine Form, die an eine Hüfte erinnerte.

Myrie fasste in ihre Sitzunterlage, um die Schurwolle zu fühlen. Sie war zwar weich, aber auch etwas rau und pieksig. Nichts, was sie unbedingt permanent auf der Haut tragen wollte. Aber das würde bestimmt anders sein, wenn sie Rinde als Haut hätte.

Ihr Magen knurrte und unterbrach ihre Überlegungen. Die Muhme wirkte plötzlich bestürzt und bewegte ihre Hände zu ihren Wangen, deutete auf ihre Schale und schüttelte fragend den Kopf. Myrie schüttelte lächelnd den Kopf und begann zu essen.

“Können Sie nicht sprechen?”, fragte Merlin unvermittelt.

Die Muhme nickte.

“Ach diese doppelte Verneinungsgeschichte. Können Sie sprechen?”, fragte er sicherheitshalber.

Die Muhme schüttelte dieses Mal den Kopf.

“Oh.”, sagte Merlin, bevor er sich plötzlich an Manieren erinnerte. “Oh, das war sicher unhöflich und aufdringlich. Entschuldigung.”

Aber die Muhme schüttelte nur den Kopf und winkte ab. Ihr Blick fiel auf seine Hände und sie begann sie provisorisch mit weiterer Desinfektion und einer Salbe zu verarzten.


Obwohl es sehr gemütlich bei der Muhme war, konnte Myrie sich nicht entspannen. Zum einen war dies eine neue Umgebung mit einer neuen Person, und das bedeutete für sie immer Stress. Zum anderen ahnte sie, dass unvermeidliche, unangenehme Gespräche näher rückten, sofern sie auf der Schule bleiben wollte, und sie wusste nicht so recht, ob sie diese eher komplett vermeiden, oder mutig angehen sollte. Und weil es ein so unausweichliches Problem war, machte sie sich nun beim Löffeln der cremigen Suppe ihre Gedanken darüber. Wollte sie zurück in die Schule, wo eine Lehrerin war, die sie geschlagen hatte? Sie schämte sich so furchtbar. Aber dieser Umstand würde unabhängig davon sein, ob sie weiter zur Schule ging oder nicht. Würde er das wirklich? Würde es nicht vielleicht sogar besser werden, wenn sie mit der Lehrerin sprach und herausfinden würde, dass diese damit zurechtkäme? Würde die Lehrerin damit zurecht kommen, ein Kind zu unterrichten, dem so etwas passiert wäre? Würde sie fair zu Myrie sein können? Solche Entscheidungen waren vor allem deshalb schwierig, fand Myrie, weil sie auf existierenden Antworten auf solche Fragen beruhten, die sie aber nicht kannte, sondern nur versuchen konnte, bestmöglich einzuschätzen. Aus dem Gespräch im Wald konnte sie zumindest schließen, dass die Lehrkraft unglücklich darüber gewesen war, dass Myrie verschwunden war. Allerdings wusste sie die Beweggründe nicht, ob es aus Sorge um sie war, oder aus Sorge, etwas falsch gemacht zu haben. In beiden Fällen war diese Lehrerin aber vielleicht gar keine so verkehrte Person. Vielleicht sollte sie es auf einen Versuch ankommen lassen. Weglaufen konnte sie immer noch.

Aber warum hatte die Lehrerin sie überhaupt angefasst?


Nun, da sie diese Entscheidung für sich gefällt hatte, ging es ihr besser, obwohl sie sich fürchtete. Gleichzeitig dachte sie an Gespräche mit Omantra und ihrem Papa zurück, die ihr geraten hatten, es länger zu probieren und sie war ein wenig stolz darauf, es zu versuchen.

Nun nicht mehr auf das Denken fokussiert bemerkte sie, dass ihr die Suppe tatsächlich schmeckte. Es war eine Kartoffelsuppe, überlegte sie. Sie schmeckte zumindest nach Kartoffel und Petersilie.

Ein metallenes Pochen an der Tür ließ sie aufschrecken. War es so weit? Die Muhme öffnete die Tür und der Lehrer aus dem Treppenhaus trat sich die Schuhe ab und kam herein. Eine kleine Schnuge trabte neben ihm her in die Wohnung. Die Muhme kramte einen Salatkopf hinter einem Vorhang hervor und klemmte ihn der Schnuge ins Maul, die darauf freudig davon gallopierte.

“Das ist eine gute Nachricht.”, rief der Lehrer und er klang sehr erleichtert. “Bin ich froh zu sehen, dass euch nichts passiert ist.”


Er brachte sie, nachdem sie ihre Schalen geleert hatte, durch die Nacht zurück zur Schule. Sowohl er als auch Merlin machten auf Myrie einen sehr erschöpften Eindruck. Im Eingangsbereich blieb er kurz stehen.

“Ich würde vorziehen, dass wir nun, noch vor dem Schlafen gehen, ein Konfliktgespräch führen, aber wenn deine Hände dir dringender erscheinen, kann ich dich auch zunächst zur Krankenstation bringen, Merlin.”, sagte der Mann.

Merlin schüttelte den Kopf. Und so führte er sie zurück in den Raum, in dem sie vorgestern das Treffen gehabt hatten, aus dem Myrie verschwunden war. Dort wartete die Lehrerin auf sie, die Myrie geschlagen hatte. Auch diese atmete erleichtert auf, stand auf, und bedeutete Myrie und Merlin sich hinzusetzen, bevor sie sich auch wieder setzte.

“Ich nehme an, das Vorstellen können wir uns sparen, weil wir uns alle schon mit Namen kennen?”, fragte die Frau in recht scharfem Ton und eröffnete so das Gespräch.

Myrie wusste natürlich nicht, wie sie alle hießen. Nur Merlins Namen kannte sie. Aber sie sagte nichts. Merlin hingegen nickte zaghaft.

“Gut. Myrie, weißt du, was du falsch gemacht hast?”, fragte sie, das Schweigen als Zustimmung deutend, doch der Lehrer unterbrach sie.

“Vielleicht sollten wir eine Antwort abwarten, meinst du nicht?”, warf er in freundlichem Ton ein. Die Frau seufzte tief.

“Gut.”, antwortete sie und sah Myrie erwartungsvoll an.

Nun musste sie also zugeben, dass sie versäumt hatte zuzuhören, als sie sich zuletzt vorgestellt hatten. Eigentlich hatte sie das vermeiden wollen. Sie schaute starr zurück in das Gesicht der Lehrerin und formulierte eine Antwort im Kopf, bevor sie sie aussprach.

“Ich war leider mit den Gedanken woanders, als ihr euch vorgestellt habt, und weiß nicht wie ihr heißt. Aber von mir aus können wir den Vorstellungsteil trotzdem überspringen.”, sagte sie schließlich.

“Nun, ich bin Herr Henne Lot und das ist Frau Ara Seefisch. Ich habe an dieser Schule die Funktion einer Vertrauenslehrkraft und bin hier, um vermittelnd tätig zu sein bei dem Problem, das zwischen euch vorgestern Abend aufgetreten ist. Wenn du im Laufe des Gesprächs feststellst, dass du unzufrieden mit mir in der vermittelnden Rolle bist, dann gibt es noch eine andere Vertrauenslehrerin, die herangezogen werden kann.”, antwortete der Mann immer noch mit der freundlichen Stimme.

Das Konzept von Vertrauenslehrkräften war ihr bisher noch nicht begegnet, aber es hörte sich sofort gut an. Auch zweifelte sie daran, dass sie das Bedürfnis bekommen sollte, nach der anderen zu fragen. Der Mann war ihr bislang freundlich und geduldig vorgekommen. Geduld war, was sie mitunter brauchte. Dass er hier war zum Vermitteln, machte ihr neuen Mut.

“Welchen Teil der Namen soll ich denn verwenden, um mit oder über euch zu sprechen?”, fragte Myrie.

“Das ist eine sehr respektvolle Frage. Mich kannst du Henne oder Herr Lot nennen, wie du möchtest.”, antwortete Henne Lot.

“Geht für den Anfang auch Henne Lot?”, fragte Myrie. Sie überlegte, dass sie sich den ganzen Namen vielleicht besser merken könnte, wenn sie ihn anfangs ganz benutzte.

“Natürlich.” antwortete er gelassen. Dann blickte sie zu Ara Seefisch.

“Ähm, Ara, Frau Seefisch, Ara Seefisch, was dir da am besten gefällt.”, sagte sie, wirkte dabei etwas überrumpelt.

“Sie wird deine Physiklehrerin sein, wenn wir den Konflikt gelöst bekommen.”, fügte Henne Lot erklärend hinzu.

“Ich bin Merlin Urgestein. Merlin ist mir am liebsten. Ich fühle mich komisch, wenn man mich Herr Urgestein nennen würde. Ich bin doch noch gar kein Herr.”, erklärte Merlin und wandte sich dann noch mal direkt an Myrie. “Aber ich würde akzeptieren, wenn du mich Merlin Urgestein nennen wolltest.”

Myrie schaute ihm ins Gesicht und verzog den Mund zu einem vorsichtigen Lächeln. Dann fühlte sie sich an der Reihe und sprach in die Runde:

“Ich bin Myrie Zange. Ich wurde mein Leben lang nur als Myrie bezeichnet. Das wäre mir, denke ich, am liebsten. Frau Zange ist mir auch nicht lieb, ich bin ja auch keine Frau.”

Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass die beiden Lehrkräfte vorhin über Heddra gesprochen hatten, womöglich die gleiche, die ihre Mutter war. Sie fragte sich kurz, ob sie das Ansprechen sollte, aber dann hätte sie zugeben müssen, dass sie sie im Wald belauscht hatte und das wollte sie nicht.

“Gut, dann hätten wir das hinter uns. Gibt es sonst etwas im Vorfeld zu klären?”, fragte Ara Seefisch, blickte sie der Reihe nach an, zuletzt in Henne Lots Gesicht, wo ihr Blick ruhen blieb.

Myrie fielen grünlich und bräunlich schillernde Schuppen auf, die an ihrer Myrie nun zugewandtem Seite auf Ohrhöhe begannen und auf ihrem Hals entlang in ihren Ausschnitt verliefen. Sie waren der Grund, warum sie Seefisch hieß. Als nächstes fiel ihr auf, dass Ara Seefisch überhaupt keine Ohren hatte, oder aber so versteckte kleine, dass sie unter ihren Haaren verschwinden konnten und nicht einmal eine Wölbung der Haare verriet, wo sie sitzen könnten. Die weißblonden Haare hatten keine einheitliche Länge. Strähnen hatten verschiedene Längen, einige reichten nur auf die Schulter und andere bis an die Unterkante ihrer Schulterblätter.

“Sie kann nicht gut zuhören scheint mir.”, hörte sie Ara Seefisch sagen, die dabei den Kopf schüttelte.

Myrie rief sich in Erinnerung, was sie zuletzt gehört, aber nicht verarbeitet hatte, aber sie konnte sich lediglich erinnern, dass Henne Lot irgendetwas gesagt hatte.

“Entschuldigung, ich war abgelenkt.”, sagte Myrie.

Das war nicht gut, dachte sie. Das ist kein guter Anfang, kein guter erster Eindruck. So kann das nicht weitergehen. Sie musste viel mehr bei der Sache bleiben.

“Dieses Mal wohl damit, meine äußerlichen Merkwürdigkeiten anzustarren.”, erwiderte die Frau bissig.

Myrie nickte.

“Weißt du, dass das sehr unangenehm ist?”, fragte sie. Ihr Ton war sehr streng, beinahe verärgert.

Myrie sah ihr bestürzt und überrascht ins Gesicht. “Nein, das wusste ich nicht! Das tut mir leid! Ich versuche es zu vermeiden.”

Myries schaute der Lehrerin dabei in ihre rötlich braunen Augen, deren Pupillen nicht ganz rund waren, sondern eher die Form eines Rechtecks mit abgerundeten Ecken hatten. Wie bei einem Frosch oder einer Kröte überlegte Myrie. Und sie registrierte, dass sie schon wieder starrte, also schloss sie die Augen.

“Es tut mir leid.”, sagte sie erneut.

“Ich schätze, das ist ein neues Konzept für sie.”, warf Henne Lot ein.

“Mit geschlossenen Augen reden ist auch keine Lösung, mach die mal wieder auf.”, sagte Ara Seefisch und ihr Tonfall hatte sich verändert. Sie klang nun milder und nur noch wenig genervt.

Henne Lot wandte sich nun leise an die Lehrerin: “Ich möchte dich auch darauf aufmerksam machen, dass nicht jede Person angestarrt werden unangenehm findet und nicht jede jedes Starren als gleich schlimm empfindet.”

“Da hast du wohl auch recht. Dennoch ist es bei den meisten so, und ich denke, Myrie sollte da etwas drüber lernen.”, sagte Ara Seefisch.

Myrie öffnete ihre Augen wieder und es gelang ihr nicht im mindesten zu vermeiden, Ara Seefisch weiter zu mustern. Es war immer so gewesen. Sie registrierte das Äußere einer Person oft nicht sofort, aber wenn sie einmal dabei war, dann tat sie es bis es sich für sie erschöpfte. Ihr fiel auf, dass Ara Seefischs Haut auch dort, wo sie nicht schuppig war, ganz leicht silbrig glänzte. Ansonsten war sie verhältnismäßig blass. Sie trug ein schwarzes, schlichtes Oberhemd, dessen oberster Knopf offen war, sodass ihre geschuppten Schlüsselbeine herauslugten. Myrie sah zurück in ihre Augen.

“Um auf meine erste Frage zurückzukommen: Weißt du nun, was du falsch gemacht hast?”, fragte sie erneut. Ihr Ton war immer noch streng, aber deutlich milder als das letzte mal, als sie die Frage gestellt hatte.

“Ich habe dich geschlagen und bin in den Wald gerannt.”, antwortete Myrie prompt.

“Noch etwas?”, fragte Ara Seefisch.

Myrie mochte den Namen. Sie mochte Fische gern und der Name Ara war so schön einfach. Aber sie schweifte schon wieder vom Thema ab. Noch etwas? Myrie war sich nicht sicher. Hatte sie vielleicht Merlin oder andere dadurch angestachelt ihr zu folgen? Ara Seefisch hatte in der Frage zuvor das ‘nun’ betont. Ob es etwas mit Anstarren zu tun hatte?

“Weil ich die Person mit den schwarzen, langen, fein gelockten Haaren und den Augen, deren Augenweiß auch eher hellbraun ist, angestarrt habe?”, fragte Myrie.

Ein träumerischer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Das Bild hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt und sie würde es sich immer wieder vorstellen müssen.

“Ja. Das. Man erkennt es wohl auch daran, wie gut du sie beschreiben kannst.”, erwiderte Ara Seefisch nachdenklich. Myrie runzelte die Stirn.

“Gut?”, frage sie. Das war doch eine wirklich grobe, unpräzise Beschreibung gewesen.

“Es geht natürlich besser, aber viele hätten sich in deiner Position jetzt auf eine Beschreibung beschränkt, die ausreicht, um sie von den anderen zu unterscheiden.”, erklärte Henne Lot.

“Aber ich weiß nicht, wie die anderen aussahen.”, entgegnete Myrie.

“Erstaunlich.”, murmelte Ara Seefisch.

“Aber brauchen nicht alle eine gewisse Menge an Zeit, um wahrzunehmen, wie Leute aussehen? Ich war doch erst ganz kurz da! Wie hätte ich in der Zeit wissen sollen, wie alle aussehen?”

“Nun,”, sagte Henne Lot. “Die meisten hätten sich wahrscheinlich die Gruppe in der Gänze einmal angeschaut und die seltensten äußerlichen Merkmale in sich aufgenommen, ohne auf Details zu achten. Etwa weiß vermutlich jede Person aus der Gruppe, dass es nur ein Kind mit langen, schwarzen Haaren gab.”

“Oh.”, sagte Myrie.

“Das Verhalten ginge auch in die Richtung, die ich dich bitten würde mal auszuprobieren.”, fügte Ara Seefisch hinzu. “Dass du nicht über lange Zeit eine Person anstarrst, sondern vielleicht nur eine Sache einer Person ansiehst, und dann eine andere Person aussuchst und vielleicht zwischendurch einfach einen Tisch.”

Sie schaute nun Myrie in die Augen und Myrie schaute zurück. Diese Farbe war beeindruckend. Es war kein klares rot, aber doch unübersehbar rot genug, als dass es nicht versehentlich als eine der klassischen Brauntöne der meisten Augen aufgefasst werden könnte.

Die Bitte klang ungewohnt, aber vielleicht durchaus machbar, überlegte Myrie.

“Ich werde mich bemühen.”, antwortete sie.

“Viel mehr kann ich nicht erwarten.”, antwortete Ara Seefisch. “Nun zum nächsten Teil. Warum hast du meine Nase blutig geschlagen?”

“Naja, weil du nicht riesig und nicht winzig bist. Sonst wäre ich vielleicht nur an deinen Bauch oder deine Schulter gekommen oder…”

“Wieso hast du mich überhaupt geschlagen!”, schrie sie plötzlich.

Es war wie, wenn jemand gegen beide ihre Ohren geschlagen hätte. Aber das war es immer, wenn jemand schrie. Myrie saß da mit halb geöffnetem Mund und wartete bis die Lähmung aufhörte. Ara Seefisch holte erneut Luft, und hätte vielleicht weitergeschrien, wenn Henne Lot nicht die Hand erhoben hätte.

“Ich, äh, du hast mich angefasst. Es tut mir leid und ich schäme mich sehr. Aber wenn man mich anfasst und ich nicht damit rechne, reagiere ich meistens unkontrolliert. Aber geschlagen habe ich bis jetzt noch nie. Vielleicht schüttele ich dann etwas ruppig die Hand ab oder renne weg. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.”

Eine Erinnerung der Szene, bildlich mitsamt ihrer Emotionen, schoss ihr in den Kopf und verschwand wieder. Ein Nachhall des Gefühls blieb haften und sie zitterte, alle Muskeln angespannt.

“Wieso sagst du das nicht gleich? Wieso erzählst du mir erst einmal etwas über meine Körpergröße?”, fragte Ara Seefisch wieder in ruhigerem Ton. Sie wirkte auch etwas zittrig, so wie Leute es manchmal sind, wenn sie kurz zuvor sehr zornig waren.

“Du hast gefragt, warum ich die Nase gewählt habe.”, antwortete Myrie.

Ara Seefisch hob die schmalen, hellen Augenbrauen. Dann nickte sie bedächtig. “Verstehe.”, sagte sie langsam.

Sie schwiegen eine Weile und sahen sich in die Augen. Als Myrie sich an die Bitte von zuvor erinnerte, senkte sie den Blick auf den Tisch, wo nun Ara Seefischs Hände lagen. Sie hatte schmale Finger und Schwimmhäute zwischen ihnen bis zu den Fingerspitzen. Die Fingernägel waren kurz, naturbelassen und gesund, wenn auch teils nicht ganz sauber. Unter einem der Zeigefingernägel etwa war etwas golden schimmernder Dreck.

“Nun, wenn es dir so unangenehm ist, wie du sagst, und ich möchte dir da gern Glauben schenken, dann tut es mir auch leid, dich angefasst zu haben. Auf der anderen Seite frage ich mich, wie ich andernfalls deine Aufmerksamkeit auf mich lenken kann, wenn ich sie brauche. Dich mehrfach anzusprechen war wirkungslos.” Sie hatte nun ihren zwar strengen, aber nicht verärgerten Tonfall zurück.

“Das ist in der Tat schwierig.”, antwortete Myrie.

Sie beobachtete weiter die Hände, die Ara Seefisch nun wieder entspannte. Die Schwimmhäute, die sich zwischen den gespreizten Fingern gespannt hatten, zogen sich zusammen, sodass sie nicht herumlabberten. Das beantwortete die Frage in Myries Kopf, die ihr jüngst gekommen war. Sie beschloss, dass sie das wieder durfte und blickte auf in Ara Seefischs Gesicht, dass sie jetzt wieder im Profil sah, weil sie sich Henne Lot zugewandt hatte.

“Hast du einen Vorschlag?”, fragte sie.

“Ich habe allerlei Vorschläge, für die wir herausfinden müssen, ob sie für euch beide okay sind, und die dann ausprobiert werden können. Ich habe natürlich für keinen davon eine Garantie, dass es funktioniert. Dafür kenne ich dich nicht gut genug, Myrie.”

Er wartete einen Augenblick, bis sich alle ihm fragenden Blickes zugewandt hatten.

“Eventuell reicht es schon aus, dass nun Myries Name bekannt ist. Erfahrungsgemäß können Leute Worte erlernen, deren Aussprechen ein Aufwachen oder volle Aufmerksamkeit der angesprochenen Person zur Folge hat. Oft ist es der Name und er erscheint auch sehr geeignet.”, stellte er seine Überlegungen vor.

“Ich weiß aus Erfahrung, dass ich selbst dann manchmal nicht aus meinen Gedanken aufschrecke, wenn mein Name gerufen wird. Manchmal erst beim dritten oder vierten Mal”, entgegnete Myrie.

“Aber immerhin nach wiederholtem Male, scheint mir. Ich denke, wir sollten das verfolgen und weiter trainieren. Etwa könnte uns Merlin helfen.” Er wandte sich an Merlin. “Du könntest in bestimmten Zeitfenstern, die ihr ausmacht, versuchen, wenn Myrie in Gedanken ist, durch Aussprechen ihres Namens ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.”

Merlin sah Myrie an und nickte dann.

“Wenn das für sie in Ordnung ist.”, sagte er.

“Natürlich nur dann.”, bekräftigte Henne Lot.

“Wir können das ausprobieren.”, erlaubte Myrie, wenn auch eher unglücklich. Es gefiel ihr gar nicht so gut, aber vielleicht würde es helfen.

“Und im Falle dass etwas sehr Dringendes ist, und nur dann, würde ich so etwas wie eine Wasserpistole vorschlagen, oder ein versperren der Sicht durch ein Tuch, falls ihr einverstanden seid.”

“So etwas würde ich ganz sicher nur im Notfall machen.”, sagte Ara Seefisch bestimmt.

“Ja, das ist auch höchstens dafür gedacht.”, bekräftigte Henne Lot erneut.

Myrie runzelte die Stirn. Eigentlich hielt sie das für eine ganz passable Methode. Wasser auf der Haut zu spüren, würde sie in der Tat vermutlich aus ihren Gedanken reißen, überlegte sie.

“Ich verstehe das Problem nicht.”, sagte sie schließlich.

“Es wäre schon etwas recht Herabwürdigendes, das an eine Art Strafe aus der späten Industrialisierung erinnert, in der man Kinder noch mit Demütigung oder Strafen oder schlechten Bewertungen versucht hat dazu zu zwingen, viel zu leisten.”, erklärte Ara Seefisch.

“Aber darum geht es doch hier gar nicht. Hier geht es doch darum, dass ich anfange in meine Gedanken zu versinken und mich dann schlecht verhalte.”, erwiderte Myrie.

“Aber wer oder was definiert, dass das schlecht ist? Glaubst du nicht, dass du anfängst, manche Verhaltensweisen mehr aus Angst zu vermeiden, als aus Verständnis?”, fragte Ara Seefisch.

“Nein, ich denke nicht. Es geht ja dabei um Verhalten, dass nicht nett zu anderen ist, und ich möchte nett zu anderen sein, ich kann es nur nicht.”, widersprach Myrie.

“Aber es wäre schon besser, wenn du es auf eine Weise lernst, die du ohne etwas schaffst, das nach außen wie eine Strafe aussieht und dass du vielleicht doch eines Tages als eine auffassen könntest.”, erklärte Henne Lot. “Es besteht die Gefahr, dass du das nassgespritzt werden dann in deinem Kopf anfängst damit zu verknüpfen, dass du etwas falsch gemacht hast. Das Potential, das dadurch entsteht, ist nicht gut. Du könntest auf eine Gruppe von Leuten treffen, die dich ärgern wollen, und die dich dann nass spritzen und damit jedes Mal auslösen, dass du dich schuldig fühlst. Und von der anderen Seite aus kann der Fehler begangen werden, dass das Nassspritzen ein wirksames Mittel darstellt, um dich dazu zu bekommen, in ein gewünschtes Muster zu fallen, das vielleicht aus der Sicht der spritzenden Person genau richtig erscheint, das aber über halbwegs objektiv bewertete Rücksichtnahme hinaus geht.”

Myrie nickte langsam. Diese Gedanken kamen ihr naheliegend vor, gerade der Teil mit den Leuten, die sie ärgern könnten. Sie überlegte, ob sie genau nach dem Prinzip bereits geärgert worden war. Aber ihr Kopf war noch zu voll, um darüber nachzudenken.

“Gut, dann nur im Notfall.”, sagte sie schließlich.

“Dann, würde ich sagen,” übernahm nun wieder Ara Seefisch das Gespräch, “müssen wir nur noch über das Weglaufen in den Wald sprechen. Denke ich.” Den kurzen Nachsatz hatte sie an Henne Lot gerichtet, der nickte.

“Merlin”, sagte sie und wandte sich in seine Richtung. “Warum bist du eigentlich in den Wald hinterhergerannt. Hast du uns Lehrkräften nicht zugetraut, Myrie zu finden?”

“Ich habe am Abend vor dieser Nacht im Lehrkraftzimmer fragen wollen, ob Myrie gefunden wurde. Aber als ich an der Tür stand, hörte ich schon, wie darin von Myrie gesprochen wurde, und ich konnte nicht anders und habe zugehört. Ich hörte jemanden sagen, – ich glaube, das waren Sie, Herr Lot –, dass es vielleicht helfen könnte, mich mitzunehmen, weil Myrie mich kennt und mir vielleicht vertraut und sich zu erkennen geben würde, wenn sie meine Stimme hören würde. Aber dass man mich nicht mitnehmen wolle in den Wald, weil mich Tiere dort doll erschrecken könnten und das wiederum mir vielleicht dauerhaft Angst vor dem Wald machen könnte, was nicht gut für meine Zukunft und meine Psyche wäre. Aber ich dachte dann, Myries Überleben ist mir wichtiger als meine Psyche.”, erklärte Merlin.

Myrie schaute ihn eindringlich an. Er war tatsächlich für sie in den Wald gegangen. Das war beeindruckend, fand sie. Naiv und beeindruckend. Naiv, weil er sich mit dem Baum überschätzt hatte und aus den selben Gründen, warum es auch schon für sie naiv gewesen war, da hineinzurennen. Und vielleicht auch, weil er sie unmöglich hätte finden können. Sie hatte ihre Spuren auf dem letzten Abschnitt verwischt, sonst hätten auch die Lehrkräfte sie finden können. Niemand hatte wissen können, wie weit sie von ihrer letzten Spur entfernt gewesen war. Es war vermutlich reines Glück gewesen, dass er auf einer Lichtung gelandet war, auf der ihn Omantra hatte hören können.

“Ich mag erwähnen, dass die Gefahr des Waldes sich nicht nur auf Psyche beschränkt. Das wäre nur der Fall, wenn jemand Erfahrenes dich begleitet.”, stellte Henne Lot klar.

Merlin nickte bedrückt.

“Wie wolltest du Myrie finden, wenn wir Lehrkräfte das nicht geschafft hatten?”, fragte Ara Seefisch im gewohnt strengen Ton.

Myrie war beinahe etwas beruhigt, dass dieser Tonfall offenbar nichts mit ihr persönlich zu tun hatte.

“Mein Plan war gar nicht unbedingt, sie zu finden. Ich hatte mich gestern in der Mittagspause ein bisschen auf dem Gelände umgeschaut und eine Spur in den Wald ausmachen können, die durch die Pflanzen am Waldrand führte. Ich dachte, vielleicht käme ich der Spur folgend immerhin in Hörweite, und fände dort einen hohen Baum, von wo aus ich sie rufen wollte.”, entgegnete er.

Sie überlegte, ihm einiges über Sicherheitsvorkehrungen beim Klettern zu erzählen, falls ihm wieder danach war, auf einen Baum zu klettern. Vielleicht war es ja beim nächsten Mal auch ein Fels oder etwas anderes.

“Hat der Plan denn funktioniert?”, fragte Ara Seefisch.

Merlin und Myrie blickten sich an. Wollten sie das Erlebnis von ihrer Rettungsaktion erzählen? Für Merlin hätte es sicher eher Nachteile. Sie würden ihn für verantwortungslos und fahrlässig halten. Für sich selbst war Myrie nicht sicher. Es konnte sein, dass sie dadurch als eher verantwortungsbewusst eingestuft würde, weil sie viel Kontrolle über die Situation gehabt hatte und für Merlin das beste entschieden hatte. Aber es könnte auch sein, dass die Lehrkräfte zu zu viel Vorsicht tendierten und auch sie ebenfalls als verantwortungslos einstufen würden. Da sie nicht einmal wusste, was es ihr bringen sollte, wenn ihre Kontrolle über sich und ihren Körper und ihr Gefühl für Gefahren beim Klettern von den Lehrkräften eingestuft würden, entschied sie sich dafür, lieber Merlin in Schutz zu nehmen.

“Ja, das hat soweit funktioniert.”, sagte sie.

Ganz falsch war das auch nicht. Myrie bemühte sich zumeist absolut ehrlich zu sein, doch gerade im Bezug auf das Kennenlernen anderer Leute hatte Omantra ihr hin und wieder vorgeschlagen, in manchen Situationen zwar den wahren Kern zu erzählen, aber einige Einzelheiten auszusparen. Myrie empfand diesen Zeitpunkt als angemessen, dies auszuprobieren.

“Und dann hat euch eine der Schnugen aus der Schnugenherde zur Muhme gebracht?”, fragte Ara Seefisch.

Merlin und Myrie nickten.

“Wir können also davon ausgehen,”, wandte sie sich an Merlin. “dass du nicht erneut allein in den Wald rennst, wenn sich niemand der Mitlernenden in den Wald verirrt.”

Merlin nickte.

“Und wenn dies doch passiert,”, fuhr Ara Seefisch fort. “und wir dir versprechen, dass wir dich doch mitnehmen würden, wenn du danach fragtest, dass du dann zu einer von uns Lehrkräften kämst, wenn du wieder das Gelüst verspürst, eine befreundete Person im Wald zu suchen?”

Merlin nickte erneut. Nun wandte Ara Seefisch sich an Myrie.

“Ich habe über dein Verhalten mit Henne gesprochen und es macht auf uns den Eindruck, dass du vor allem Bewegung brauchtest, um von einem Emotionstrip runterzukommen. Ist das richtig?”

Myrie überlegte kurz, dann nickte sie.

“Könnten wir das Problem lösen, indem wir dir Zugang zu einem der Spielräume verschafften, in dem du dir eine Virtualität aussuchen kannst, in der du laufen kannst?”

Über diese Frage dachte Myrie etwas länger nach. Sie rief sich die Situation von gestern in Erinnerung, so gut sie konnte und fragte sich, welche Virtualität geeignet gewesen wäre, sie zu beruhigen. Sie überlegte, dass sie wahrscheinlich zunächst eine kalte Virtualität gebraucht hätte, in der sie tatsächlich über Wiesen oder etwas ähnliches gerannt wäre, und dann wäre sie vermutlich ein wenig geklettert und dann in ihre Ozeanvirtualität entflohen. Allein bei dem Gedanken darin, tief Unterwasser den fluoreszierenden Quallen zuzusehen, wurde sie ruhiger. Sie schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief und langsam durch. Als sie sie wieder öffnete war ihr Kopf klar und sortiert.

“Ja.”, sagte sie.

Ara Seefischs Blick ruhte auf ihr und wirkte etwas erstaunt. Sie sagte aber nichts.

“Du hast gelernt zu meditieren, nicht?”, fragte stattdessen Henne Lot.

“Omantra nennt das auch so. Aber eigentlich gibt sie mir lediglich Atemübungen. Den Rest habe ich mir selbst ausgedacht.”, entgegnete sie.

“Wer ist Omantra?”, frage Ara Seefisch und sie klang dieses Mal nur neugierig, überhaupt nicht streng.

“Meine Lern-KI.”, antwortete Myrie.

“Meditation muss auch nicht nach bestimmten Regeln ablaufen. Du kannst dir die Übungen selbst ausgedacht haben und sie können dennoch meditativ sein.”, erklärte Henne Lot.

“Ich weiß nicht, ob ich das als Übungen bezeichnen würde.”, sagte Myrie.

“Bevor ihr euch ins Detail verliert, es war eine sehr lange, anstrengende Nacht. Morgen Vormittag ist wieder Unterricht. Myrie hat schon den ersten Tag verpasst. Ich finde, wir zeigen ihr den Spielraum, den sie nutzen kann, und geben ihr Zugangsrechte und dann gehen wir schlafen. Und morgen könnt ihr euer Gespräch weiterführen, wenn ihr möchtet.”, warf Ara Seefisch ein.

“Sehr vernünftig.”, gestand Henne Lot ein und stand auf.

Myrie sah leicht verdattert in sein freundliches Gesicht. “Heißt das, ich werde nicht verwarnt oder verwiesen?”, fragte sie.

“Nein. Dieses Mal nicht.”, sagte Henne Lot.

“Ich habe eine Lehrerin geschlagen. Das ist doch irgendwie Gewalt und damit ein Verbrechen oder nicht?”

“Vorgestern hatten wir alle einen langen Tag. Die meisten von uns sind viele Stunden angereist. Wir haben neue Leute kennen gelernt. Für dich ist es sogar das erste Mal auf einer Schule. Und du hast es als Reaktion auf ein Eindringen in deinen persönlichen Raum gemacht. Das ist zwar nicht in Ordnung, aber kommt immer Mal wieder vor unter diesen Umständen. Da machen wir jetzt kein Drama draus, sondern schauen erst einmal, wie sich das weiter entwickelt. Okay?”, erklärte er.

Myrie nickte langsam. Nun erhoben sich auch die anderen und Myrie folgte ihnen zur Tür.

“Ich habe noch eine Frage.”, sagte Myrie.

“Stell sie ruhig.”, bat Henne Lot.

“Wurde mein Papa informiert?”

“Wir hätten ihn morgen früh informiert. Wenn du möchtest, dass er in Zukunft über solche Vorfälle früher informiert würde, dann darfst du das deiner KI oder Ulka Brandenschmied am Empfang mitteilen, dann wird darauf in Zukunft Rücksicht genommen.”

Aber Myrie schüttelte nur beruhigt den Kopf. Sie würde vielleicht, wenn sie etwas ruhiger wäre, mit ihrem Papa in Verbindung treten und ihm alles erzählen, was passiert war. Aber nun würde sie sich erst einmal ausruhen. Sie war nicht wirklich müde, weil sie den ganzen Tag über halb geschlafen hatte. Aber in einem weichen Bett zu liegen und sich zu entspannen und ruhig über die Zeit seit ihrer Ankunft nachzudenken, erschien ihr eine sehr gute Sache zu sein.