Fordergrund

Marim

Nurek erzählte ihm oft, dass er immer gelassen wirkte. Er war sicher auch oft gelassen. Aber nun war er es nicht. Er fragte sich, ob sie es mitbekam, oder was sie überhaupt mitbekam. Vielleicht war seine Außenwirkung auch immer noch gelassen. Aber er hatte Angst. Sie sprach überwiegend nicht, außer vorhin, als sie ein paar Passierende angeschrien hatte, mit Worten, die keinen Sinn ergeben hatten. Sie zitterte und heulte. Letzteres immer noch, dabei waren sie längst im Zelt. Marim fragte sich, ob er mehr tun konnte oder sollte, ob er das Securiteam informieren sollte. Aber wenn dies ein Overload oder Meltdown war, dann waren mehr Leute, die sich kümmerten, oder ein Umzug kontraproduktiv. Solange es kein Umzug durch ein Portal nach Röversjard war. Er brauchte gefühlt viel zu lange, um auf die Idee zu kommen, Linoschka anzurufen. Linoschka war nicht erreichbar, also probierte er es bei Ivaness.

“Shit.”, war saine Reaktion als er berichtet hatte. “Das ist heftig.”

“Weißt du, was ich tun sollte?”, fragte Marim. Nun merkte er es selbst: Er klang gelassen und ruhig, aber er fühlte sich, als hätte er es heulend geschrien.

“Nurek hatte so eine Reaktion schon einmal, als ich noch jugendlich war, sie vielleicht auch gerade so noch.”, erinnerte sich Ivaness. “Das war kein wholesomes Umfeld. Im Wesentlichen wurde ihr gesagt, sie solle ins Bett und sich wieder einkriegen. Ich bin dann mit, weil sie das nicht alleine hingekriegt hat. Klingt ein bisschen, wie bei dir.” Ivaness seufzte nachdenklich. “Nun bist du natürlich da und könntest dich wirklich kümmern, was damals niemand gemacht hat. Aber ich glaube, mehr als Abwarten kannst du auch nicht. Das ließ damals einfach irgendwann nach und Schlaf half. Aber erwarte nicht, dass es ihr morgen wieder munter geht.”

“Auf keinen Fall.”, sagte Marim.

Auch, wenn Ivaness keinen besseren Plan hatte, tat es gut, mit Nureks Reaktion auf das Geschehen, und auch mit dem nicht reagieren auf jegliche Fragen, nicht allein zu sein.

“Hattest du probiert, Linoschka anzurufen?”, fragte Ivaness.

Marim bestätigte und berichtete, dass sie nicht erreichbar war.

“Ja, ich hatte sie auch nicht erreicht.”, sagte Ivaness.

Irgendwann, als sie weiter nichts zu sagen hatten, verabschiedete sich Ivaness zum Schlafen, aber bat ihn, iem eine Nachricht zu schreiben, sobald es Nurek etwas besser ginge.

Als das Gespräch beendet war, fühlte Marim sich überraschend allein. Er legte sich auf die Seite und beobachtete Nurek beim Wimmern. Es kam in Schüben. Manchmal lag sie auch eine Weile einfach ruhig da. Irgendwann – vielleicht dauerte alles überhaupt nicht lang und kam ihm nur lang vor – gewöhnte er sich ein bisschen an die Situation. Und dann strömte die Erkenntnis in sein Bewusstsein, dass Linoschka vor allem heute sicher versucht hätte, erreichbar zu sein, und Ivaness bestimmt auch gefragt hatte, weil as sich sorgte. Er verdrängte die Sorge. Von hier konnte er nichts tun.

“Es war schön.”, murmelte Nurek mit kaum vorhandener Stimme, bevor sie wieder wimmerte.

“Hast du Schmerzen?”, fragte Marim. Er hatte das vorhin schon einmal gefragt.

Nurek hatte eine Hand gegen die Stirn gepresst. Das hatte sie die ganze Zeit mal mehr und mal weniger getan und nun verstärkte sie den Druck. “Ja.”

Marim holte Medizin und die Wasserflasche hervor und wollte sie zur Einnahme präparieren, aber er ließ sich vom lauter werdenden Wimmern unterbrechen.

“Wasser ist eklig.”, sagte Nurek.

“Weißt du, was ginge?”, fragte Marim.

“Kalter Gewürzaufguss ohne Kümmel.”, sagte sie. Es war ein Gemisch aus Wimmern und Kichern, aber das Wimmern gewann.

Sie musste sich die ganze Zeit Gedanken gemacht haben, was gerade ginge, und hatte deshalb zuvor die Frage nicht beantworten können. Und nun amüsierte sie in diesem Zusammenbruch, dass sie oddly specific war. “Das sollte doch machbar sein.”, sagte Marim. “Wir leben schließlich nicht ohne Grund in einer Zeit mit Lebensmitteldruckern.”

“Nicht weggehen.”, erschwerte Nurek die Challenge. Und nur Momente, nachdem Marim seinen Taschenrechner gezückt hatte, noch ein wenig mehr: “Nicht telefonieren.”

Marim lächelte sie an. Bis jetzt blieben Möglichkeiten übrig. Das reichte doch. Er tippte lautlos eine Nachricht ans Securiteam:

Marim Präsenz: Wir bräuchten zwecks Medikamenteneinnahme kalten Gewürzaufguss ohne Kümmel, aus einem Karbon- oder Metallgefäß mit Deckel. Wir können uns darum beide gerade nicht kümmern. Wir sind in unserem Zelt.

Marim fühlte sich trotzdem etwas seltsam dabei, die Nachricht zu verschicken. Nicht, weil er es nicht absolut richtig und valid fand, das zu tun, sondern einfach, weil er so etwas noch nie gemacht hatte. Es folgte eine rasche Antwort:

Anonym41: ETA in 0.07h. Bereite auf Eintreffen von Fremdperson vor, wenn geht. Soll ich möglichst schnell wieder weg sein?

Das war schnell. Unter einer Zehntel Stunde, damit hätte Marim nicht unbedingt gerechnet. Er tat, wie ihm geheißen und berichtete Nurek davon, gab die Frage an sie weiter, aber sie konnte sie ebenso wenig beantworten. Schließlich schloss Marim, dass die Personen des Securiteams so schnell da sein konnten, dass es nichts ausmachte, mit ‘ja’ zu reagieren, zumal, wenn Nurek ihm Telefonieren verboten hatte, dann vielleicht auch reden generell schlecht war.

Reden blieb allerdings nicht ganz aus, als das Getränk gebracht wurde. Statt ein akustisches Zeichen zu geben, schrieb die Person per Nachricht, dass sie vorm Zelt stünde. Marim öffnete es und Nurek fing wieder leise zu wimmern an. Vor dem Zelt hockte die Urukene, die ihnen anfangs das Zelt gezeigt hatte. “Meistens sagen kranke Personen kalt, aber meinen, nicht heiß oder warm. Für den Fall habe ich den zweiten Becher mitgebracht.”, sagte der Ork leise und drückte Marim zwei Becher in die Hände, beide aus kühlem Metall mit Deckel, dazu Trinkhalme aus einem dünnen karbonartigen Material, die nicht heiß wurden und weich waren.

Sie brauchten sie nicht. Nurek mochte das Gefühl von Schlucken durch Trinkhalme nicht. Aber Marim schaltete nicht sofort, sie gleich wieder mit abzugeben. “Wie heißt du eigentlich?”, fragte Marim.

“Auf diesem Festival Anonym41, Pronomen sie.”, sagte Anonym41.

Marim vermutete, dass vor allem die Zahl am Ende wechselte, wenn sie auf anderen Veranstaltungen unterwegs war, und dass das Namensschema verbreitet war. Aber es reichte. Er wollte einfach wissen, wie er genau sie wieder erreichen könnte, wäre dies nötig.

Sie schwiegen einen Moment, und als Marim beschloss, dass nun verabschieden sinnvoll wäre, aber völlig vergessen hatte, wie das ging, sah Anonym41 ihm das vielleicht an. Sie machte eine Geste zwischen Abschied und Danke-sagen, stand elegant und vor allem Gelassenheit ausstrahlend auf und ging. Zügig, aber nicht hetzend, wohl einfach so rasch, wie das mit der Körpergröße und Kraft natürlich war.

Nurek richtete sich auf und verzog dabei so heftig das Gesicht, hielt die Luft an, dass Marim die Schmerzen fast mitfühlte. Sie hatte allerdings mitgehört. Sie nahm das Gefäß mit der abgekühlten aber nicht kalten Flüssigkeit und schluckte die Medizin, die Marim ihr reichte. Dann zwang sie sich, den ganzen Becher in kleinen Schlückchen leer zu trinken. Das erschöpfte sie völlig. Sie legte sich wieder hin und den Becher gegen ihre Stirn. Allerdings nur für ein paar Momente. Vielleicht war ihr das Material unangenehm.

Wieder fühlte es sich lange an, bis sie wieder sprach. Aber dann sprach sie immerhin nicht mehr wimmerich, als hätte sich etwas gelöst. “Anonym41 versteht was von Gewürzaufgüssen.”, murmelte sie.

“Du meinst, das war nicht der Standard, den ein Drucker druckt, wenn so ein Auftrag gegeben wird?”, fragte Marim.

“Ich kann mir sogar vorstellen, dass der nicht einmal gedruckt war.”, sagte Nurek. Sie drückte nun wieder ihre Finger in die Stirn. “Kannst du mich vorsichtig mit kalten Fingern im Nacken massieren?”

Marim registrierte erst jetzt, dass er den anderen Becher mit den Fingern umklammert hatte, um für so einen eventuellen Zweck selbige abzukühlen. Er lächelte. “Gern.”, sagte er. Und das tat er dann auch, bis sie eingeschlafen war.


Er schlief unruhig ein. Sein Kopf war zu überfordert mit den ganzen neuen Erlebnissen, um sinnvoll rasch runterfahren zu können. Stattdessen hörte er die Stimmen und Musik, die er im Laufe des Tages gehört hatte, zu schnell und übereinandergelagert im Kopf, die Kopfschmerzen, die er vorhin verdrängt hatte, wurden schlimmer, und ihm fiel erst nach einer gefühlten Stunde ein, dass er sehr wohl auch Medikation einnehmen konnte, auch wenn Nurek das bereits getan hatte, dass sich das nicht gegenseitig ausschloss. Aber er brauchte noch einmal einige lange Momente, bis er es tatsächlich schaffte, sich dazu auch zu bewegen.


Er wachte viel später auf als sonst und trotzdem noch vor Nurek. Er fühlte sich erschöpft und matt. Er lauschte auf Nureks ruhigen Atem, der sehr leise war. Als es ihn ausreichend beruhigt hatte, setzte er seine Brille auf und entrollte den Minifaltrechner, den sie mitgenommen hatten, um das Internet zu lesen.

“Wie geht es dir?”, fragte Nurek verschlafen.

Marim erschreckte sich und warf dabei fast den frisch entfalteten Rechner durchs Zelt. “Ich wollte dich nicht wecken.”

“Hast du nicht.”, sagte Nurek. “Ich habe nur halb geschlafen und mich einfach gar nicht gerührt.” Das tat sie auch jetzt noch fast nicht. “Du hast unruhig geschlafen und im Schlaf geredet. Wie geht es dir?”

Marim legte Rechner und Brille zur Seite und sich wieder hin. Was für eine Frage. Manchmal war sie ganz schön schwierig. “So viel auf einmal.”, sagte er. “Besorgt, erschöpft, verliebt.”, zählte er auf, dachte nach und fügte hinzu: “Angespannt. Ich fühle Schamgefühl oder sowas. Erschöpft hatte ich schon, oder?”

“Warum Schamgefühl?”, fragte Nurek.

“Unser Gespräch über, nun ja, Abhängigkeit.”, sagte Marim. “Es fällt mir schwer, damit umzugehen. Willst du, dass ich darüber jetzt rede?”

“Ja.” Nurek hatte ruhig gesprochen, aber es klang trotzdem unverkennbar überzeugt.

“Da ist einmal das unlösbare Problem, dass weder du noch ich es mögen. Aber wir wollten auf dieses Konzert gehen, und für dich war das nur möglich, wenn wir das Abhängigkeitsverhältnis so aufbauen.”, erklärte Marim. “Es fühlt sich schon furchtbar an, es so auszusprechen irgendwie.”

“Das verstehe ich.”, sagte Nurek. “Ich freue mich ein bisschen darauf, wieder zu Hause zu sein. Aber eigentlich mehr wegen der Dauerbelastung, die ich hier habe, durch Geräusch- und Bewegungskulisse, Termine, Orte wechseln, lauter Routinenbrüche, und so weiter. Diese Abhängigkeitssache ist ein Stressfaktor, aber nur ein kleiner so im Vergleich. Ich möchte das eigentlich auch wieder tun.”

“Du möchtest auf noch ein Festival oder Konzert mit mir gehen?”, fragte Marim.

“Ja. Ich glaub’ schon.”, sagte Nurek leise. Sie hatte nicht einmal die Augen geöffnet, lag immer noch still da. “Was noch? Du hast mit ‘Da ist einmal’ eingeleitet.”

“Das Schamgefühl kommt wahrscheinlich daher, wie andere Leute uns sehen. Oder sehen könnten.”, sagte Marim. “Ich erinnere mich daran, dass ich mit Herzwesen viel über Beziehungen gesprochen habe, wie solche idealerweise aussehen sollten. Oder woran ich erkennen kann, dass sie toxisch sein könnten. Es gibt ja solche, wo Personen aneinanderkleben und die eine über die andere quasi bestimmt. Ich glaube, das ist bei uns anders. Es geht ja nie darum, dir einen Willen aufzuzwingen. Aber ich habe irgendwie Angst, dass es so rüberkommt.”

“Fällt es dir schwer, zuzugeben, dass dir nicht egal ist, was die Leute denken?”, fragte Nurek.

“Ja, weil ich das Gefühl habe, das sollte weit entfernt von meiner größten Sorge sein.”, gab Marim zu.

“Es ist weit entfernt von deiner größten Sorge.”, sagte Nurek. “Aus dem Grund bearbeitest du alle anderen Sorgen permanent und diese erst jetzt, wo du auf alle anderen zwar nicht unbedingt befriedigende, aber durchaus Antworten hast.”

“Und nun hilfst du mir, mit einem Problem zurechtzukommen, das eigentlich du als deine Sorge angesprochen hast.”, murmelte Marim, halb belustigt und halb frustriert. Aber er fügte ein sehr ernst gemeintes “Danke!” hinzu.

“Wir stecken da zusammen drin.”, erinnerte Nurek. “Warum habt ihr über möglicherweise toxische Beziehungen geredet? Möchtest du darüber reden, oder macht das schlimme Fässer auf?”

Marim lachte leise. “Beides. Vielleicht. Aber eigentlich sind die bei mir daueroffen. Ich war mal in einer toxischen Beziehung, in der unter anderem über mich bestimmt wurde. Ich bin dafür eigentlich ein bisschen anfällig sozusagen.”

“Das kann ich mir vorstellen. Das passt zu dir.”, sagte Nurek. Sie öffnete endlich die Augen und wirkte erschreckt. “Oh je, war das mies von mir?”

“Nein, du hast recht.”, sagte Marim. “Ich glaube nur, dass ich auch aus dem Grund hier so empfindlich reagiere. Weil mein soziales Umfeld mir damals eben Tipps gegeben hat, wie ich erkenne, ob eine Beziehung toxisch ist, und es mir in dieser Situation schwer fällt zu differenzieren.”

“Und weil du große Angst hast, toxisch zu sein.”, fügte Nurek hinzu.

“Ja.”, gab Marim zu.

“Und wenn ich sage, dass dies die untoxischste Beziehung ever ist, bringt es gar nichts, weil Personen in toxischen Beziehungen oft nicht merken, wenn sie toxisch wäre.”, überlegte Nurek.

Marim grinste. “Das wäre eine Angst. Aber ich vertraue deinen Fähigkeiten, sowas zu erkennen, mehr als meinen.”

“Und wenn ich dir sagte, dass es unwahrscheinlich ist, dass dies eine toxische Beziehung ist, weil du Angst hast, dass es eine sein könnte, und gleichzeitig sehr kritikfähig bist?”, fragte Nurek.

Marim ließ sich die Logik dieser Frage eine Weile durch den Kopf gehen, bis er erfasste, dass da wirklich was dran war. “Hui.”, sagte er. “Das Argument ist gut.”

Nurek schlang einen Arm um ihn und er ließ zu, dass sie seinen Kopf sachte auf ihre Brust zog. Er hatte das gern. Er fühlte sich sehr gemocht. Und allmählich entspannte sich das Schamgefühl und verzog sich erstmal.


Es war Linoschkas Anruf, der ihn wieder aus dem Schlaf riss. Ihm war nicht einmal klar gewesen, dass er wieder eingeschlafen war. Sein Hinterkopf traf beim Hochschnellen an Nureks Kinn, zum Glück nicht besonders doll. Er hatte in ihrem Schoß geschlafen, während sie dieses Mal halb in Kissen aufgerichtet gesessen und gelesen hatte.

“Nehmen wir das Gespräch wieder gemeinsam an?”, fragte sie und rieb sich dabei das Kinn.

Marim nickte. Er fragte sich, inwiefern Nurek mitbekommen hatte, dass Linoschka nicht erreichbar gewesen war.

“Es tut mir so leid!”, rief Linoschka, als sie die Verbindung angenommen hatten.

“Braucht es nicht. Uns geht es inzwischen wieder ganz gut.”, beruhigte Marim. “Was war?”

“Mir geht es auch gut.”, sagte Linoschka, statt zu antworten. “Es ist nichts Schlimmes passiert. Ich war sehr abgelenkt. Ich möchte davon eigentlich lieber erzählen, wenn wir zusammen in der Hack-Kommune sind. Aber ich verstehe, wenn das stresst und würde in dem Fall auch jetzt schon kurz was erzählen.”

“Wann sehen wir uns dort denn wieder?”, fragte Nurek.

“Wenn ihr nach Hause kommt.”, sagte Linoschka. “Ich brauchte Pause. Ich habe mich für eine Woche abgemeldet und bin nach Hause gefahren.”

“Das klingt irgendwie schon, als wäre was Schlimmes passiert.”, sagte Nurek nachdenklich. “Aber wenn du sagst, da war nichts, vertraue ich darauf und ich persönlich kann das gut bis dahin aushalten.”

“Es ist wirklich nichts Schlimmes passiert.”, wiederholte Linoschka. “Es sind einfach viele neue Eindrücke und ich vermisse euch.”


Das Gespräch dauerte nicht lange. Als Marim auch bestätigt hatte, dass für ihn warten in Ordnung ging, vertagten sie es. Nurek beschloss, dass vom Konzert zu erzählen dann auch entspannter wäre, wenn sie es erst daheim täten.

“Haben wir eigentlich Die Fenster verpasst?”, fragte sie.

“Nein, noch nicht. Traust du dir das zu?”, fragte Marim. “Uns?”

“Ich glaube schon. Wollen wir einfach mal aufstehen und essen gehen?”

Aber maßlos erschöpft wirkte sie trotzdem.

Sie gingen erneut zu einem der künstlichen Feuer. Ihr Stammfeuer sozusagen war um diese Uhrzeit sogar sehr wenig besucht. Sie druckten sich etwas zu essen und setzten sich gemeinsam auf eine der Bänke, die um das Feuer herumstanden. Sie aßen schweigend, und als sie gerade fertig waren, tauchte Gabriane auf und setzte sich dazu, nachdem sie mit Gesten erfragt hatte, ob das in Ordnung war.

“Wie war es?”, fragte sie.

“Sehr gut!”, sagte Nurek. “Fand ich zumindest.” Sie wandte sich an Marim. “Du hast noch gar nichts dazu gesagt.”

“Ich fand es auch sehr schön!”, sagte er. Es wurde ihm erst jetzt ein bisschen bewusst. Er hatte es währenddessen sehr genossen, aber danach keinen Kopf mehr dafür gehabt, sich in die frische Erinnerung hineinzufühlen.

“Das freut mich so sehr!”, sagte Gabriane. “So so sehr! Wollt ihr noch mehr Konzerte anhören?”

Die Fenster.”, sagte Nurek. “Und vielleicht das Funkenkonzert.”

Das war ein Überraschungskonzert, bei dem eine der hier aufgetreten haben werdenden1 Bands noch einmal auftrat, die das Funkenfest abschloss. Während des Konzerts wurden Lichter angezündet, die über das Gelände davonschwebten. Marim blickte sie an, vielleicht leicht überrascht.

“Es sei denn, das ist dir dann zu viel.”, sagte Nurek.

“Das kann ich dir noch nicht sagen.”, sagte Marim. “Lust hätte ich schon. Aber ich bin auch sehr erschöpft.”

“Das Funkenkonzert ist bekanntlich ein Überraschungskonzert.”, wiederholte Gabriane, woran Marim sich gerade erinnert hatte. “Das Securiteam weiß allerdings Bescheid, welche Band spielt und ungefähr welche Lautstärke und Instrumente für das Programm erwartet werden. Helfen euch genauere Informationen? Die ihr dann tunlichst für euch behaltet, um keiner Person die Überraschung zu verderben, die die Überraschung gern hätte?”

Nurek warf einen weiteren Blick auf Marim und nickte vorsichtig.

“Ich brauche keine Überraschung. Das kann helfen.”, fasste Marim ihre Geste und seine Gedanken zusammen.

“Es spielen Die Träume der Dunkelheit.”, verriet Gabriane. “Die Band hat lauteres und leiseres Repertoire. Sie hat uns gesagt, sie würde auf dem Funkenkonzert nur letzteres spielen. Aber ich weiß, dass die Band ein etwas experimentelles Selbstverständnis von ‘leise’ hat, und würde ein gewisses Risiko vermuten, dass drei bis vier Stücke nicht unwahrscheinlich in die Kategorie Runaway Metal fallen.”

“Vielen Dank.”, sagte Nurek. “Ich kenne die Band und bin nicht gerade Fan. Einige Stücke mag ich schon. Aber vielleicht ist es trotzdem schön, das Funkenfest mit dem Funkenkonzert abzuschließen. Wir überlegen uns das zusammen, denke ich?”

Marim lächelte und nickte. Er hatte einen ähnlichen Eindruck von den Träumen der Dunkelheit wie Nurek, das hatten sie schon einmal herausgefunden.


Aber es kam zu gar nichts mehr von alledem. Auf dem Weg zurück zu ihrem Zelt rempelte irgendeine Person Nurek ausversehen an. Sie fing sich eigentlich relativ schnell wieder, aber zwei Kreuzungen später nervte sie ein Stein in ihrem Schuh. Sie zog ihn aus und versuchte ihn, auf einem Bein stehend, herauszuschütteln. Verschiedene Techniken versagten und schließlich schleuderte sie den Schuh quer über den Weg. Es war ein relativ leerer Weg – sie traf niemanden. Sie blickte dem Schuh nach und weinte.

“Magst du hier in der Wiese am Wegrand sitzen und ich hole ihn wieder?”, fragte Marim.

Nurek nickte. Die Reaktion kam verzögert. Aber dann setzte sie sich in die Wiese. Marim ging erst, als sie bereits saß. Mit dem Schuh setzte er sich neben sie und durchsuchte ihn nach dem Stein.

“Ich muss nach Hause.”, sagte Nurek leise. “Ich hatte irgendwie gehofft, dass es jetzt besser ist als früher. Aber wenn ich einmal so richtig energieleer war, dann kommt das in so einer Gegend nicht zurück. Dann bin ich permament in dem Modus, dass mir sowas passiert. Ich hätte ab jetzt die ganze Zeit Angst davor. Ich muss nach Hause.”

Marim nickte nur. “Dann fahren wir nach Hause.”

“Packst du dieses Mal?”, fragte Nurek.

Auch dies bestätigte Marim. Er verstand warum. Alles, was nicht ganz wie geplant lief, wäre im Moment für Nurek ein Risikofaktor, der bei ihr ein Fass zum Überlaufen bringen könnte. Auf dem Weg zum Zelt versuchte er bereits Verbindungen rauszusuchen. Es gab keine zeitnahe, einigermaßen durchgehende. Die angenehmste wäre wahrscheinlich eine mit Umstieg in Geesthaven in die Fähre. Er fragte Nurek, ob das okay wäre. Sie bestätigte, aber wirkte nicht begeistert. “Lieber am Abend reisen? Dann ginge es durchgängig.”, fragte Marim.

“Entscheide du.”, sagte Nurek.

Marim überlegte kurz, und entschied. “Wir steigen um. Und ich frage Linoschka, ob sie uns für das Gepäck entgegen kommt. Dann wird der Umstieg entspannter.”

Nurek nickte. “Ich traue mir kaum zu, mein Gepäck zu tragen.”, gab sie zu.

“Ich frage im Securiteam nach, ob uns jemand damit hilft.”, schlug Marim vor, fast mehr, wie ein Beschluss. Falls es sie entspannte, es als einen aufzufassen.

“Neue Personen wären schlecht. Wenn Anonym41 oder Gabriane Zeit haben, wäre das okay.”, sagte sie. “Ich hasse es, solche Umstände zu machen.”

“Dazu ist das Team da.”, sagte Marim. “Kannst du tippen, wenn ich diktiere? Dann kann ich packen und wir müssen nicht ganz so zum Bahnhof hetzen. Ich schaffe aber auch beides.”

“Ich kann.”, sagte Nurek zurückhaltend.

Er wartete mit dem Diktieren, bis sie am Zelt waren, Nurek im Gras saß und er das Zelt sperrangelweit geöffnet hatte. Als sie die Nachricht verschickt hatte, drückte er ihr Gumbol in den Arm. Dabei mussten sie beide sogar lächeln.

“Anonym41 kommt in einer Viertelstunde.”, teilte sie mit. “Passt das?”

“Locker.”, sagte Marim. Er bewunderte dieses Team.


Marim war gerade fertig, als Anonym41 auftauchte. Es war wie Magie. Bis eben war er völlig angespannt und innerlich gehetzt gewesen. Nun, da die Sachen gepackt waren, und dieser gelassene Ork einfach dastand und bereit war, Nureks Rucksack zu tragen, war er plötzlich ruhig. Anonym41 schulterte gleich beide Rucksäcke, über jede Schulter einen, und begleitete sie über das Gelände zum Bahnhof. Durch ihre Körpergröße vielleicht, oder auch wegen der Weste, die sie dieses Mal trug, die sie als Teil des Securiteams auswies, ergab sich ein Personen-leerer Raum um sie herum. Es hinterließ ein seltsam wehmütiges, aber auch befreiendes Gefühl in Marim, als sie das Gelände hinter sich ließen und die Treppe zum Bahnhof hinabstiegen. Anonym41 wartete mit ihnen sogar auf den Zug und trug das Gepäck im Zug bis zu ihrem Platz – dieses Mal natürlich kein Sonderabteil, aber trotzdem ein bisher leeres. Erst jetzt fiel Marim ein, dass er Linoschka noch gar nicht informiert hatte, sondern sich das nur vorgenommen hatte. Er schrieb ihr. Soweit er das sah, war es allerdings nun ziemlich unmöglich, dass sie vorher noch eine Fähre hinüber bekommen würde.


Aber sie war da. Sie erblickte sie, als Marim den ersten Rucksack aus dem Zug wuchtete, die er zuvor an die Tür gebracht hatte, und eilte zu ihnen. Sie machte auch Anstalten, beide zu nehmen, aber Marim hielt sie davon ab und trug seinen eigenen.

“Du bist nass.”, informierte Nurek Linoschka.

Sie hatte recht. Linoschkas Kleidung war durchweicht. “Meine Mitfahrgelegenheit war abenteuerlich.”, sagte sie. “Ich bin denn wohl auch mal gesegelt. Es hatte ein Segelkurs aus Geesthaven einen Ausflug nach Klit gemacht, auf die Seite der Insel, die Fjärsholm zugewandt ist. Ich bin also zur Insel mit der Fähre übergesetzt und habe gefragt, wann sie wieder fahren und ob mich wer mitnähme. Das hat funktioniert, aber war eben sehr nass.” Sie betrachtete Nurek und Marim gründlicher. “Oh my, seht ihr fertig aus. Nurek, soll ich dich vielleicht tragen?”

Nurek schüttelte den Kopf. “Aber du hast recht. Ich kann mir gerade nicht einmal vorstellen, den Weg von Fjärsholm nach Hause zu radeln.”

“Dann leihen wir uns eine Rikscha.”, schlug Linoschka vor.

Und auch das taten sie.


Es war fast physisch spürbar, wieviel Anspannung von Nurek abfiel, als sie wieder in ihrer WG waren. Von Marim allerdings auch. Es war einfach gewohnt. Wände waren da, wo sie immer gewesen waren. Es roch vertraut. Nurek verzog sich aber nicht sofort, sondern setzte sich in die Sofaecke in den Gemeinschaftsraum.

“Zu neugierig zum Ausruhen?”, riet Linoschka.

Nurek nickte. “Und die Chancen sind hier höher, dass ich bald Monua trinke.”

“Weil ihn eine Person vorbeibringt?”, fragte Ivaness, das gerade aufgetaucht war.

“Ihr tut alle viel zu viel für mich.”, sagte Nurek. “Ich dachte schon daran, dass ich mich vielleicht hier leichter selbst aufgerafft bekomme.”

“Ich war noch nicht dran mit verwöhnen heute. Ich mache eine Kanne.”, sagte Ivaness.

Bevor as zurück war, fühlte Tjaren vor, ob es ihnen zu viel würde, wenn Mø und Tjaren sich auch dazusetzten, und als sie befanden, dass es das nicht wäre, kam schließlich auch Mø dazu.

Es war gemütlich. Die Terrassentür stand offen und herbstlicher Nordwind wehte herein. Wobei, Marim wusste gar nicht, welche Windrichtung es war. Er nannte den Wind Nordwind, weil es für den Norden typischer, nicht so warmer Wind war. Sie tranken warmen Monua. So richtig hatte er das Getränk erst in dieser WG kennengelernt. Es tat gut. Und schließlich beantworteten Nurek und Marim die Fragen, wie es war. Über die Overloads erzählten sie erstmal nicht so ausführlich. Eigentlich hatten sie für das Konzert auch nicht ausreichend sinnvoll beschreibende Worte. Es fühlte sich trotzdem gut an, es zu teilen.

Nurek wartete nur gerade so das Abebben der Euphorie vom Nacherzählen ab, bevor sie das Thema wechselte. “Linoschka?”

“Wir hatten Training.”, begann sie, ohne Nachzufragen, was Nurek meinte. Es war wohl klar. “Dieses Mal war Emotionstraining dran. Das ist dazu da, mit emotional schwierigen Situationen umgehen zu lernen. Oder eben zu lernen, dass wir sie vermeiden müssen. Hat irgendwer von uns ein Problem mit dem Thema fesseln, wehrlos sein oder sowas?” Linoschka unterbrach die Erzählung, bis sie das Kopfschütteln und Verneinen aller explizit registriert hatte. “Wir haben also reihum jeweils einige von uns gefesselt und allein gelassen. Mit einem Notfallorter in der Hand, und mit Überwachung der Vitalparameter natürlich, also safe. Aber es war trotzdem aufregend, zwei Stunden irgendwo zu liegen, sich zwar ein wenig drehen zu können, aber nicht weg zu können. Wir haben das auch nachgespielt, wenn jemand uns jeweils bewacht. Unsere Gruppe aufgesplittet, sodass wir gegeneinander gespielt haben, damit das Gefühl von Feindlichkeit mehr mitschwingt.”

“Das klingt so krass!”, meinte Tjaren.

Mø nickte zustimmend. “Also, dass das für mich nichts wäre, glaube ich, brauche ich nicht dazusagen. Wie war es für dich?”

Linoschka antwortete nicht direkt. Interessanterweise lächelte sie ein bisschen. Sie zog die Beine an und umfasste den Becher mit den Händen. “Ich darf Namen nennen, hat sie gesagt, also Spielnamen. Und ein bisschen erzählen.”, leitete sie ein. “Ærenik hat mich bewacht. Sie hat die Rolle der fiesen anderen Spielgruppe sehr gut ausgespielt. Ich glaube, sie mag Schauspiel sehr gern, aber lebt dann auch die Rolle. Sie hat sehr fiese Sachen gesagt. Ich gehe hier nicht ins Detail. Ich glaube, sie würde im Spiel dann nicht so fiese Sachen sagen, aber zwischen uns war das abgesprochen.”

Marim grinste. Nicht des Inhalts wegen – obwohl, vielleicht ein wenig –, sondern vor allem, weil Linoschka mehr und mehr lächelte. “Kannst du eine Richtung andeuten?”, fragte er. “Irgendwas Abwertendes, oder Bedrohungen?”

“Alles.”, sagte Linoschka. “Ich…” Sie unterbrach sich selbst direkt, verhedderte ihre Finger ineinander und kleckerte dabei mit der Tasse.

Mø reichte ihr ein Tuch.

Als Linoschka sich wieder sortiert und tief durchgeatmet hatte, setzte sie neu zu sprechen an: “Ich mochte die Bedrohungen. Was sie mir alles antun würde. Und auch irgendwie gefesselt sein. Sie hat es gemerkt. Und mich gefragt, ob ich am Abend eine Bondage-Session machen würde. Wir teilen uns ja die Wohnung.” Linoschka wirkte sehr aufgeregt und grinste immer noch. “Ach ja, falls du dich sorgst, Nurek, es ist nichts mit Körperflüssigkeitsaustausch passiert, darum ging es nicht.”

Nurek nickte. Marim konnte nicht so richtig ausmachen, ob sie Linoschkas Erzählung auch so spannend fand wie er, aber sie wirkte zumindest nicht verstört.

“Ich meinte, wir müssten direkt nach eurem Konzert fertig sein, womit sie einverstanden war. Aber dann hat alles länger gedauert.”, sagte Linoschka. “Sie hat mich gefragt, ob ich abbrechen will. Und dann habe ich mir gedacht, ich bin sehr weit weg und könnte wenig tun von dort aus. Und ich habe einfach gehofft, ihr packt das schon. Es tut mir so leid, dass ich nicht erreichbar war.”

Nurek grinste nun. “Dir braucht nichts leidtun.”, sagte sie. “Du hättest sonst etwas Wichtiges verpasst, und Ivaness hat gut helfen können.”

“Eigentlich nicht.”, sagte Ivaness. “Ich habe meine Erfahrungen mit dir geteilt. Mehr konnte ich nicht tun.”

“Das war sehr viel wert für mich.”, sagte Marim. “Danke!”

“Du, Marim, sag mal: Fesselst du auch gern?”, fragte Linoschka. “Ich hatte den Eindruck, Ærenik ist vielleicht ein bisschen wie du. Sie ist jedenfalls auch asexuell und hat spontan irgendwelche Sessions mit Leuten, weil sich das gerade ergibt.”

“Ich habe noch nie gefesselt.”, sagte Marim. “Also, ja, schon.”

“Bis du es kennst und langweilig findest?”, fragte Nurek.

“Genau.”, antwortete Marim grinsend. “Also, wahrscheinlich. Manchmal mag ich Dinge danach auch noch, aber oft ist dann halt auch gut.”

“Würdest du es auch unsexuell machen?”, fragte Linoschka. “Also, einfach aus ästhetischen Gründen?”

“Ja, auf jeden Fall!”, antwortete Marim. Die Situation fühlte sich ein wenig seltsam, aber auch aufregend an. “Wobei:”, überlegte er. “Ich wäre wahrscheinlich in einem entspannten, konzentrierten Headspace, den ich sehr mag. Wäre das zu viel?”

“Nein, das klingt prima.”, erwiderte Linoschka.

“Bedrohst du sie dann auch?”, fragte Nurek.

Wirkte sie skeptisch? “Bis jetzt ist das nicht abgesprochen. Ich bin nicht sicher, ob das mein Stil wäre, das müsste ich ausprobieren, wenn du, Linoschka, das wölltest.”

“Tatsächlich würde ich gern einfach Bondage ausprobieren. Ohne andere Elemente und am liebsten in Kleidung.”, sagte Linoschka.

“Habe ich je gesagt, dass ich Lust hätte, dich zu verschnüren?”, fragte Mø.

“Nee, hast du nicht!”, rief Linoschka überrascht.

“Zu dritt?”, fragte Mø. “Also, ich will mich nicht aufdrängen. Wenn du dich mit Marim sicherer fühlst, go for it.”

“Nurek, ich fühle mich gerade so, als sollte ich dich fragen, ob das für dich okay ist. Immerhin wohnen wir alle zusammen und so.”, sprach Marim aus, was ihn untergründig eine Weile nervös gemacht hatte. Es war albern. Nurek hatte öfter gesagt, dass sie ihre Grenzen und Bedürfnisse selber kommunizieren würde.

“Macht was euch glücklich macht.”, sagte sie. “Stöhnt nicht zu laut, wenn ich im Haus bin.”

Sie kicherten. Das war eine etwas andere Wendung des Gesprächs, als womit Marim gerechnet hätte.

“Du, Marim, bist in Seilen vermutlich auch schön.”, fügte Mø hinzu.

Marim versuchte, zu vermeiden, sehr breit zu grinsen und nickte.


Sie gingen früh ins Bett, aber schliefen lange noch nicht. Es war alles zu aufregend gewesen. Außerdem sah ihr derzeitiger Tagesrhythmus schlafen noch nicht vor. Aber sie waren zu erschöpft für alles andere, als in Nureks Schlafnische am gekippten Fenster in weiche Decken und ineinander gekuschelt zu liegen und leise zu reden.

“Macht es dir wirklich nichts aus?”, fragte Marim.

“Nein, Marim, gar nichts.”, sagte Nurek, klang dabei eine Spur gereizt. “Aber ich habe eine andere wichtige Frage, die ich fast übergriffig finde, zu stellen, aber es trotzdem tun möchte: Macht es dir nichts aus? Fühlst du dich damit wohl und sicher?”

Marims Gedanken stolperten und seine Hand, die damit beschäftigt gewesen war, ihren Gesichtsrand zu streicheln, verharrte mit. “Klang es für dich, als wäre ich bedrängt worden?”, fragte er.

“Nicht direkt.”, widersprach Nurek. “Aber es war ein Anliegen der anderen, was für jene Begeisterung oder Freude auslöst, und du kannst Leuten Begeisterung und Freude nicht gut ausschlagen, glaube ich. Das würde dir schwerfallen.”

Marim dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass Nurek grundsätzlich recht hatte. Damit hätte er Schwierigkeiten. Aber war es in dieser Situation der Fall? Und falls ja, hätte es schlimme Auswirkungen, oder würde er auch ohne die Schwierigkeiten ähnlich entscheiden?

“Und es kam außerdem häufiger vor, dass du zum Reflektieren, warum du dich in einem Moment schlecht gefühlt hast, einen Anstoß und einen Tag Abstand gebraucht hast. Manchmal auch erst dann überhaupt das schlecht fühlen realisiert hast.”, sagte Nurek. “Glaube ich. Vielleicht erinnere ich mich auch falsch. Jedenfalls kann ich mir vorstellen, dass du mit der Fesselsache viel Spaß hast und das super für dich ist. Aber mir war es doch ein Anliegen, dich dazu anzustupsen, dass du in dich gehst und schaust, ob du dabei über deine eigenen Grenzen gehen würdest.”

“Danke, dass du das sagst.”, sagte Marim. Er zog sie sehr sanft noch etwas fester in die Umarmung. Ihr weicher Körper lag dieses Mal mit der Rückseite an seinem. “Ich denke darüber nach. Ich glaube, ich mag das gern mit Linoschka und Mø machen, aber ich glaube auch, dass es Situationen gibt, wo du mich mit diesem Anstoßen in eine wichtige Denkrichtung schiebst. Du darfst das, wenn dir danach ist, gern wieder tun.”

“Ich habe dich sehr lieb.”, sagte Nurek sanft und strich ihm über den Unterarm.

“Ich dich auch.”, murmelte Marim in ihr Haar.

  1. Anmerkung des Schreibfischs: Dieses Futur II Partizip oder was das ist, ist hier einfach zu präzise, um es nicht als Forshadowing aufs nächste Kapitel einzusetzen.