BGE

\Beitext{Ranuk}

Es gab nun also Bedingungsloses Grundeinkommen, kurz BGE. So stand es mit Blut an den Spiegel geschrieben, und was dort mit Blut geschrieben stand, stimmte im Normalfall. Manchmal waren die Nachrichten etwas tiefsinniger und ihre eigentlichen Bedeutungen entfalteten sich erst nach einer gewissen Zeit und einigen erleuchtenden Erlebnissen, aber an ‘Ab nächsten Monatsanfang gibt es BGE!’ war nichts besonders tiefsinnig oder schwer zu deuten.

“Aha”, sagte Ranuk. Wer wusste schon, ob der Geist das hörte, aber Ranuk sprach vorsichtshalber trotzdem mit ihm.

Gaby hatte vorhin auch schon gesagt, dass die Sache mit dem BGE nun wohl klappen würde. Aber Gaby fügte in jeden ihrer Sätze zu politischen Themen ein ‘wohl’, ‘vielleicht’, ‘sieht so aus’ oder eine andere verunschärfende Wortsammlung hinzu, die zu einer recht hohen Wahrscheinlichkeit ihre Berechtigung hatte. Gaby war eine weniger verlässliche Quelle als die in Blut geschriebenen Nachrichten auf Ranuks Spiegel, von denen Ranuk eigentlich keine Ahnung hatte, wer sie schrieb, also dieses ‘wer’ einfach mit ‘Geist’ betitelte.

Ranuk erzählte niemandem vom Geist, aus Angst, irgendwer könnte auf die Idee kommen, es wäre besser, ihn zu verjagen oder aber Ranuk zu therapieren oder so etwas. Aber Ranuk war eigentlich recht zufrieden mit dem Geist. Eine Therapie hätte Ranuk hingegen aus anderen Gründen gern gehabt. Aber Therapiesuche auf dem Land, nun ja, stellt euch hier ein unbelustigtes Lachen vor, das sogar zu müde ist, um wenigstens sarkastisch zu klingen.

Schon ohne zusätzliche Einschränkungen wäre so eine Suche eine Umöglichkeit gewesen, aber Ranuk hatte auch kein Auto. Und Fahrradfahren war mit zunehmenden Gesundheitsbeschwerden auch nicht immer möglich. Nur an guten Tagen und dann nicht allzu weit. Das beschränkte die Optionen von erreichbaren Therapierenden auf den Sakral-Vater im Nachbarort, und Ranuk war nicht unbedingt ein Fan jener Religionsgemeinde. Der Sakral-Vater hatte eine schöne Stimme, aber vertonte damit eher unschöne Dinge. Sein Hauptanliegen schien Versöhnung und Vergebung im Diesseits und Jenseits zu sein. Ranuk hatte keineswegs ein Interesse, sich mit den verstorbenen Eltern zu versöhnen. Nicht zuletzt, weil Ranuk gar kein Sohn war. Zu ‘verkindern’ war allerdings keine brauchbare Entgenderung des Begriffs ‘versöhnen’. Auch egal. Ranuk hatte jedenfalls nichts dergleichen vor.

Wegen der Sache mit dem fehlenden Auto brachte Gaby Ranuk einmal in der Woche den Einkauf. Der stand noch halb unausgeräumt in der Küche. Ranuk hatte erst einmal verschnaufen müssen, weil das Gespräch angestrengt hatte, und hatte sich gemütlich geduscht. Nach dem Verlassen der Duschkabine war dann die BGE-Nachricht auf dem beschlagenen Spiegel gewesen, in Blut, das sich allmählich in die vielen kleinen Tröpfchen auf dem Spiegel auflöste. Ranuk lächelte. Das entbehrte nicht einer gewissen Ästhetik. Der Fotoapparat stand griffbereit auf dem Schränkchen im Flur neben dem Badezimmer für solche Fälle. Ranuk hatte eine Foto-Sammlung auf dem Rechner, nur mit Sprüchen des Geists. Er nutzte nicht immer den gleichen Spiegel. Und manchmal glaubte Ranuk, aus dem Schriftzug eine Emotion ablesen zu können.

Wieder mit weicher Kleidung am Körper begab sich Ranuk in die Küche, um den Einkauf auszuräumen. Das Eis sollte nicht noch länger außerhalb des Kühlfachs herumschmelzen. Während Ranuk ausräumte, wollten die Erinnerungen an das Gespräch mit Gaby verarbeitet werden. Ranuk mochte Gaby, aber sie lebten schon irgendwie in sehr verschiedenen Welten, die eher mäßig freiwillig Annäherungsversuche wagten. Heute hatte es so einen gegeben: Gaby hatte sich noch einmal nach Ranuks Pronomen erkundigt. Und hatte gefragt, ob sie Sätze bilden dürfte, um sie anwenden zu lernen. ‘Rie, ihs, ihs, rie’, hatte Ranuk geantwortet, wie ‘sie, ihr, ihr, sie’, mit vertauschtem ‘r’ und ‘s’. Der Beispielsatz, den Gaby gewählt hatte, war gewesen: Ich küsse rie auf ihse Lippen.

Daraus, dass Gaby das jetzt so genau wissen wollte, wagte Ranuk zu schließen, dass Gaby sich über die vergangenen zwei Jahre, die sie die Information zu Ranuks Neopronomen schon hatte, einen Scheiß dafür interessiert hatte, und es nun einen Anlass gab, der das änderte.

Wobei, vielleicht war das ein bisschen hart. Vielleicht redete Gaby einfach mit niemandem über rie und hatte daher die Pronomen in dritter Person für Ranuk nicht gebraucht. Hatte sich das nun geändert? Und falls ja, warum? Und falls nein, warum fragte Gaby das jetzt?

Ranuk hätte es vielleicht erfragen sollen, aber ihs Kopf hatte sich unsinnigerweise lieber stattdessen mit wilden Hypothesen beschäftigt und gleichzeitig versucht, sich nicht über die Beispielsätze und die Fragen aufzuregen. Es war keineswegs bei dem einen Beispielsatz geblieben, irgendwelche unangenehm verallgemeinerten Sätze über Personen, die Neupronomen benutzten, waren auch gefallen. Alles ohne böse Absicht, und das machte für Ranuk durchaus einen Unterschied. Aber rie fühlte sich immer verpflichtet, dann möglichst verständlich und gleichzeitig präzise zu korrigieren, damit Gaby eine mögliche andere Kontaktperson mit Neopronomen nicht bedrängte oder unangenehm berührte oder ähnliches.

Ranuk atmete schwer und langsam ein und aus, bevor rie die letzten Dinge im Kühlschrank verstaute und sich die Treppen hinauf schleppte. Auf dem Spiegel im kleinen Flur am Kopf der Treppe hatte der Geist mit Blut eine Mohnblume gemalt. Er machte Fortschritte mit der Malkunst. Er hatte recht grobmotorisch angefangen. Ranuk hatte ihm irgendwann Pinsel zurecht gelegt, falls er sie benutzen könnte. Aber sie veränderten nie ihre Position und waren auch nie nass oder blutig. Auch die Malkunst wirkte nicht pinseliger, aber niemand konnte leugnen, dass sich der Geist mehr Mühe mit Details gab. “Ich mag die Mohnblume”, sagte Ranuk.

Ihs Plan war nun, zur Entspannung ein wenig zu Zocken. Wobei Zocken vielleicht ein zu elitärer Ausdruck für ein kreatives Sandkastenspiel sein mochte. Rie setzte sich jedenfalls an den Schreibtisch des einzigen Zimmers, das rie sich für sich selbst eingerichtet hatte, mit dem Plan, in Escube eine Reise durch die Würfelwelt zu machen. Es gab eigentlich so viel zu tun, und rie hatte so wenig Kraft. Es war das Haus ihser verstorbenen Eltern. Rie mochte das Haus an sich und auch die Gegend, aber jeder Kubikzentimeter des Hauses und des Grundstücks abgesehen von diesem Zimmer steckte noch voller Geschmack ihser Eltern, voller unangenehmer Gefühle. Irgendwann wollte Ranuk daran arbeiten. Aber wie das gehen sollte, wenn ein Gespräch mit Gaby rie schon so ausnockte, dass erst Duschen und nun Escube spielen dran war, wahrscheinlich für Stunden, wusste rie auch nicht. Der riesige Berg an Arbeit lähmte so sehr, dass Ranuk nicht einmal anfangen konnte.

Bevor Ranuk die Escube-Welt öffnete, in der rie mit einigen enger befreundeten Personen quasi lebte, sah rie wie gewohnt einmal die E-Mails und Chat-Nachrichten durch. Einige Leute hatten sich einfach mit Herzchen gemeldet, weil sie an Ranuk gedacht hatten. Ranuk fühlte sich warm dabei und schickte andersfarbige Herzchen zurück. Ein schönes Ritual. Die E-Mail allerdings beinhaltete kein Herz. Sie war von Gaby und bestand aus einen einzigen Link. Ach richtig, der Link, den sie angekündigt hatte, erinnerte sich Ranuk. Was Gaby dazu erzählt hatte, hatte Ranuk eher wenig überzeugt.

Rie seufzte und öffnete ihn doch. Er führte auf ein Arbeitgebenden-Portal, wobei ‘arbeitgebend’ in dem Fall, wie Gaby berichtet hatte, tatsächlich hieß, dass die Leute, die sich darauf Profile anlegten, anboten, Arbeit zu verrichten. Das Portal war für Leute gedacht, die sich im Wesentlichen mit ihrem BGE finanzieren wollten, und nun Arbeit verrichten wollten, die ihnen wirklich Spaß machte, mehr um der Arbeit willen und nicht so sehr für Geld. Es klang an sich wieder nach so einer Sache, die Gaby vielleicht nicht richtig verstanden und deshalb mit vielen ‘vielleicht’s und ‘wohl’s erklärt hatte. Auch Ranuk verstand die Seite nicht gleich. Aber das Profil der Person, die Gaby ihs verlinkt hatte, machte tatsächlich genau diesen Eindruck:

Moin, ich bin Emre und ich habe einen BurnOut. Ich habe bisher in einem Bürojob gearbeitet, der mir an sich Spaß gemacht hat, aber seit geraumer Zeit kann ich einfach nicht mehr. Ich würde gern körperliche Arbeit verrichten, bei der ich zügig sehen kann, dass sie einen Effekt hat. Gartenarbeit zum Beispiel, oder Malern, Nageln, Sägen, so etwas. Ich habe allerdings keine Ausbildung in der Richtung.

Ich kann nicht versprechen, wie das mit dem BurnOut klappt. Ich möchte deshalb keinen festen Zeitplan haben und eher so halbtags arbeiten. Im Gegenzug zu dieser Unzuverlässigkeitskomponente möchte ich aber wenig oder kein Geld, besonders nicht, wenn die Arbeit für eine Person ist, die selber nicht wohlhabend ist. Ich möchte sie allerdings irgendwo im Norden verrichten, irgendwo am Meer und brauche eine Unterkunft. Ich bin sehr genügsam: Über den Sommer reicht mir ein Zelt mit Strom und Kochplatte und eine Möglichkeit, mich gelegentlich zu duschen. Wenn das finanziell mitgetragen werden kann oder auf dem Grundstück, wo ich arbeite, gestellt werden kann (Bauernhof vielleicht?), wäre das super.

Ich habe keine Ahnung, ob das nun ein ansprechendes Angebot ist, aber man kann das ja mal probieren.

Gaby hatte gemeint, das wäre vielleicht was. Damit hatte sie gemeint, Ranuk solle sich einfach bei einer wildfremden Person melden, die ihs helfen sollte, das Haus und vor allem das Grundstück zu was eigenem zu machen. Ranuk seufzte und atmete noch einmal schwer ein und aus. Rie ließ niemanden ins Haus, und das hatte rie Gaby auch gesagt. Rie hatte nicht gesagt, warum. Es war ein kleines, chaotisches Haus, und Ranuk liebte Privatsphäre. Aber vor allem fühlte rie sich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, eine Person in dieses Chaos aus offensichtlicher Nachlässigkeit, einem gewissen Hang zum Trödelsammeln, Staub und alten, schlimmen Gefühlen zu lassen. Das rie noch dazu mit einem Geist teilte, von dem niemand wissen sollte.

Aber Gaby hatte gemeint, rie solle das Gartenhäuschen zur Verfügung stellen. Das wäre mit dem Wasseranschluss darin sogar besser als ein Zelt. Eine Kochplatte hatte es noch nicht, und es war derzeit mit sehr viel Kram zugestellt, von dem Ranuk einzig das eine Fahrrad, das heilste unter den drei Rostgestellen, gelegentlich herausholte. Aber Gaby meinte, dass diese Anzeige für sie so klang, als wäre das ein Angebot, dass man so einer Person durchaus machen konnte. Erster Arbeitstag, erstmal vollgesperrmülltes Gartenhaus mit Regenlecks in eine Unterkunft verwandeln. Ranuk kam das unverschämt vor. Noch dazu fiel es ihs schwer, fremde Leute überhaupt anzuschreiben. Rie schloss den Link wieder und reagierte auf die Mail nicht mit einem Herzchen in einer Farbe. Wobei, wenn rie auf Herzchen mit Herzchen reagierte, müsste rie auf diese Mail korrekter Weise mit einem Link reagieren, aber auch das tat rie nicht.

Als rie nach mehreren Stunden Escube langsam müde wurde, war ihs das Hintergrundbild mit völlig zugewuchtertem Garten und eingefallenen Holzhütten, das Emre für das Profil gewählt hatte, allerdings immer noch nicht aus dem Kopf gegangen. Rie versetzte den Rechner in den Suspend und fragte sich, ob rie noch die Kraft hatte, sich fürs Schlafen umzuziehen. Rie schleppte sich ins Schlafzimmer. Nicht gerade ihs Lieblingsort im Haus. Das Ehebett der Eltern, der verspiegelte Kleiderschrank der Eltern, den rie noch nie gemocht hatte, weil er so monströs und schwer wirkte. Wobei ein Spiegel in diesem Haus auch einen gewissen Vorteil hatte.

‘Tu es!’, stand in riesigen, ungeduldigen Buchstaben in noch nicht getrocknetem Blut darauf. Das Licht der Straßenlaternen von draußen spiegelte sich darin.

Das war dann eher eine der kryptischeren Nachrichten. Bezog sich das auf die Frage, ob rie sich noch umziehen sollte, oder auf Emre?