Pizza-Spätstücke

\Beitext{Ranuk}

Ranuk schaute abermals aus dem Fenster in den Garten hinab. Nichts rührte sich. Irgendein Restanteil Höflichkeit in ihs drängte rie dazu, Emre Frühstück anzubieten. Oder vielleicht noch einmal abzusprechen, wo es losgehen sollte, was Emre zuerst tun sollte und wie.

Ranuk fürchtete sich außerdem davor, hier oben zu sitzen und Escube zu spielen, während da unten eine Person für rie arbeitete. Was hatte rie sich eigentlich dabei gedacht, eine Person mit ihser Arbeit zu beauftragen, wo rie sich doch stets so furchtbar fühlte, beim Arbeiten zuzugucken. Vielleicht sollte rie versuchen, zu helfen. Ja, das war es. Rie konnte sich schwer zu Arbeit überwinden, aber wenn eine andere Person schon etwas tat, ging es vielleicht ein wenig.

Ranuk schaute abermals aus dem Fenster in den Garten hinab. Immer noch rührte sich nichts. So ging das schon den ganzen Vormittag. Die im Ofen aufgewärmten Tiefkühlrundlinge waren längst kalt und hart. Sie noch einmal aufwärmen würde sie schon recht überknusprig machen. Das war dann nicht edel oder so etwas. Ranuk hatte keine Ahnung, was Emre gewohnt war.

Kurz vor Mittag wurde Ranuks Hunger zu groß. Es bekam rie auch nicht, zu lange nicht zu frühstücken, und rie wusste auch nicht, ob Emre nicht vielleicht auch lieber alleine frühstücken wollte. Also schmierte sich Ranuk die Brötchen und aß sie, wie immer vorm Rechner, sich dabei mit ein paar Leuten via Chat unterhaltend. Die Gespräche waren ein bisschen anders als üblich. Sie bestanden zwar auch sonst oft im Wesentlichen aus Herzchen, aber Ranuk war gerade aufgeregt, und üblicherweise teilte rie die Gefühle in solchen Momenten in den Gesprächen mit. Gerade war aber eine fremde Person involviert, über die rie noch nicht reden wollte. Irgendwie war Ranuk ängstlicher über die Unterstützung zu reden, die rie jetzt hatte, und die Art, wie es dazu gekommen war, als über die eigene Queerness zu informieren und zu schwärmen oder so etwas. Das war interessant.

Ranuk wurde von einem Rumpeln aus den Gedanken gerissen. Es kam von unten aus dem Badezimmer. Das musste Emre sein, mit verbundenen Augen. Vielleicht war Emre über die Wäschewanne gestolpert.

Wie merkwürdig wäre es, wenn Ranuk nun nach unten ginge und fragte, ob Emre frühstücken wollte? Oder Hilfe bräuchte?

Ranuk fühlte sich immer noch unverschämt wegen der Augenbindensache. Aber auf der anderen Seite war es auch lustig und ausreichend surreal, dass das Unverschämtheitsgefühl sich in folgedessen auch unreal anfühlte und nicht so bohrte.

Ranuk wartete ein wenig ab und schritt dann die Treppe hinunter. Rie kam gerade am Fuß der Treppe an, als die Spühlung ging. Das war ein zu früher Moment zum Hinabsteigen gewesen. Nun wartete rie mit dem seltsamen Gefühl, zu beobachten, auch noch ab, bis Emre sich die Hände gewaschen hatte und den Raum verlassen würde.

Bis sich die Tür öffnete, wanderte Ranuks Blick verstohlen auf den Spiegel im Flur. ‘Gut Gemacht Pizza’ stand eilig geschrieben darauf. Kryptisch.

Emre hatte hellbraune Haut, trug eine schwarze Arbeitslatzhose mit neonfarbenen Reißverschlüssen an jeder der vielen Taschen, und darunter ein ärmelloses Oberteil. Das wäre Ranuk zu kalt bei dem Wetter. Aber dass Emre nicht so leicht fror, war ihs gestern schon aufgefallen.

Emre wendete sich Richtung Ausgang, mit den nackten Füßen die Aufkleber auf dem Boden ertastend, die Ranuk zur Orientierung dahingeklebt hatte. Dass Emre Ranuk nicht beachtete, lag natürlich daran, dass Ranuk keinen Ton von sich gab. Und einen Ton von sich zu geben, war echt nicht so einfach. Welchen denn bitte?

Ranuk räusperte sich.

Emre zuckte zusammen, stolperte, und ging in die Hocke, um sich aufzufangen. Das Manöver war natürlich dazu da, nichts umzuwerfen, während Emre gar nicht wusste, was da sein könnte. Es klappte. Emre berührte nicht einmal den großen Blumentopf mit der vertrockneten Pflanze darin. Es wäre auch nicht schade darum gewesen, überlegte Ranuk.

“Guten Morgen!”, grüßte Emre, ohne sich umzudrehen.

“Mittag eher”, korrigierte Ranuk.

“Guten Mittag!”, grüßte Emre, als wäre der Dialog vorher nicht gewesen.

“Ich wollte Brötchen zum Frühstück anbieten, aber ich habe sie alle aufgegessen, weil ich Hunger hatte”, erklärte Ranuk. “Ich wollte welche übrig lassen, aber wenn ich spät frühstücke, frühstücke ich viel. Ich könnte jetzt höchstens Pizza anbieten. Willst du Pizza?” Die Idee des Geists hatte sich einfach in ihs festgesetzt und verselbstständigt.

“Pizza zum Spätstück?” Emre klang durchaus angetan. “Ich habe ein paar Reste von meinem Abendbrot gestern gefrühstückt. Wobei, es eher Abendgenüdel als Abendbrot war. Wenn dir danach ist, mit mir noch zu spätstücken, würde ich aber zu ein zwei Stücken Pizza nicht ‘nein’ sagen.”

“Ein oder zwei Spätstücke Pizza also”, murmelte Ranuk. “Dann würde ich eine Pizza in den Ofen schieben und”, Ranuk unterbrach sich, “ich hätte gesagt, wir setzen uns draußen hin. Ich sitze sehr selten mal mit einem Liegestuhl in der Schneise, aber ich weiß nicht, ob dir das genug ist.”

“Die Schneise reicht für zwei.” Emre sah sich immer noch nicht um. Also, Emre drehte sich immer noch nicht um. Selbst wenn Emre es getan hätte, hätte Emre ja nichts gesehen. “Aber wenn die Pizza eine halbe Stunde im Ofen weilen muss und du einen Moment Zeit hast, mir zu sagen, wo genau, habe ich vielleicht bis dahin schon ein Stück Garten freigesenst. Vorausgesetzt, ich bin eine naturtalentige Sensenperson.”


Damit Emre mehr Zeit für die Sache hätte und damit Ranuk bei der Sache weniger in Verlegenheit käme, zugucken zu müssen, folgte Ranuk Emre zuerst in den Garten. Dort nahm Emre die Augenbinde ab. Vom Garten aus konnte zwar ins Haus gesehen werden, aber nur in Bereiche ohne Spiegel. Chaos gab es trotzdem.

Es hatte mal eine Tischecke gegeben, wo immer noch ein alter Holztisch stand, von dem Ranuk sich nicht sicher war, ob er noch zu retten war. Er war aufgequollen und eingewuchert. Die Stühle, die zu Zeiten der Nutzung durch ihse Eltern darum herum gestanden hatten, waren im Schuppen gewesen und lagen nun im hohen Gras daneben. Da der Schuppen nicht dicht war, hatten auch jene gelitten. Aber da nur die Sitzflächen aus Holz, die Verstrebungen aber aus Metall waren, sollten sie noch brauchbar halten. Vielleicht. Rost war ja auch eine Sache, die existierte und ihr Ding tat.

Emre hatte das Prinzip gut verstanden, dass der Garten hinterher anders aufgeteilt sein sollte als vorher, und schlug einen anderen Ort vor, um eine Laube für eine Sitzgelegenheit zu bauen, wo der Tisch auch schon zuvor, noch ohne Laube, gut sein könnte. Sie gingen dazu einen Kreis ab, in dessen Inneren das hohe Gras, das sie fast überragte, weichen sollte. Dabei traten sie ein paar der Halme platt, die meisten bogen sie aber im Wesentlichen vorübergehend auseinander, sodass eine Vorgabe sichtbar wurde. Das hohe Gras war eigentlich auch schön. Das war noch ein Grund, warum sich Ranuk nicht selbst daran gemacht hatte, es zu entfernen. Teile davon sollten vielleicht stehen bleiben. Aber einen Ort zum Draußensitzen vermisste rie eben schon.

“Es ist so hoch.”, murmelte rie.

Emre schaute in den Himmel. “Es ist noch nicht am Himmel angestoßen. Da ist noch Platz.”

Ranuk folgte dem Blick gen Himmel und lächelte unwillkührlich. “Emre”, sagte rie, “wenn du auch nur ein bisschen von deinem dichterischen Humor in deine Anzeige getan hättest, hättest du überall landen können.”

“Aber wo wäre ich besser aufgehoben, als bei der Zielgruppe für meinen dichterischen Humor?”

Diese Schlagfertigkeit! Ranuk blickte zurück in Emres Gesicht, das rie eher im Profil sah, weil Emres Blick immer noch gen Himmel gerichtet war. Die Augenbrauen waren fast schwarz und dicht. Die Haare ebenso schwarz, dicht und gelockt, nicht sehr fein, sondern so, dass sich die Strähnen in ein bis zwei Umdrehungen geringelt um den Kopf verteilten. Es war eine schöne Frisur, fand Ranuk. Sie erinnerte an Kinder- und Jugendfilme aus Ranuks Jugend, also so 50 bis 60 Jahre alte Streifen.

“Und du meinst nicht, dass du eine bessere Unterkunft hättest finden können, wo dein Humor auch angekommen wäre?”, fragte Ranuk trotzdem unsicher.

Emre schüttelte den Kopf und sah Ranuk gelassen an. “Ich halte es nicht für ausgeschlossen, aber schon für sehr unwahrscheinlich. Du hast einen malerisch schönen Garten. Du wohnst weit weg von allem, was mich stresst. Ich habe mich seit zwei Jahren nicht so entspannt gefühlt. Da fühlt sich die Toilettensache fast mehr als Abenteuer oder angenehme Herausforderung als als Einschränkung an.”

Ranuk lächelte unwillkührlich. Rie fiel dazu allerdings nichts zu sagen ein. Also verabschiedete rie sich: “Ich kümmere mich mal um die olle Tiefkühlpizza.”


Das Gras, das Emre stehen ließ, wirkte gelblich, weil dort lange keine Sonne mehr hingekommen war. Das hohe abgeschnittene Gras lag nun lang auf dem Boden darum herum und trocknete. Es war ein seltsames Provisorium, auf das Emre den Tisch und Stühle platziert hatte, aber eines, das sich endlich nach Veränderung anfühlte.

Sie teilten sich die Pizza wie abgesprochen und sprachen beim Essen wenig. Ranuk konnte sich nicht daran erinnern, wann rie zuletzt so bewusst eine Pizza gegessen hatte. Tiefkühlpizza war nun nicht die ausgewogenste Mahlzeit. Zu Ranuks Bedauern bestand ihs Speiseplan eher aus Fertiggerichten. Weil rie selbst dauernd zu fertig für ein anderes Gericht war, und weil bei dem Chaos in der Küche nur schwer zu kochen war. Oft türmte sich Geschirr auf dem Herd, weil es in der kleinen Küche nirgends sonst Platz hatte und weil Ranuk keine Spühlmaschine hatte. Immerhin schaffte Ranuk etwa zweimal in der Woche zu spülen. Und entsprechend war der Herd zweimal in der Woche benutzbar. Aber da kein Platz zum Schnibbeln da war, machte Ranuk auch dann nur eine Fertiggemüsepfanne oder so etwas.

Nun draußen essen zu können, war jedenfalls eine sehr großartige Verbesserung der Lage. Und die Gesellschaft irgendwie auch. Ranuk aß ja nicht ohne Grund vorm Rechner chattend. Eigentlich aß rie gern mit Gesellschaft zusammen. Besonders mit welcher, die rie nicht ins Haus lassen musste.


Am Nachmittag malten Emre und Ranuk gemeinsam auf Schmierpapier einen Plan, wie der Garten ungefähr am Ende aussehen sollte, und schrieben eine Liste, die Emre schrittweise abarbeiten wollte. Emre neigte zum Perfektionieren, aber ließ sich von Ranuks Entscheidungen davon abbringen, stundenlang über Optimierung und Priorisierung nachzudenken. Emre bedankte sich sogar dafür, kannte das Problem von sich schon.

Es dauerte bis zum frühen Abend, – der natürlich kaum dunkler war, als der übrige Tag. Aber erschöpft waren sie schließlich beide.

Überrascht stellte Ranuk fest, dass rie sogar zu müde war, noch Escube zu zocken, also zog rie sich um und verkroch sich ins Bett. Im Licht, das durch das Fenster hereinfiel, glitzernd stand in großen, blutigen Buchstaben das Wort ‘Käsekuchen’ auf dem Schrankspiegel. Kleine Tröpfchen hatten Pfade von den Unterkanten der großen Buchstaben den Spiegel hinabgefunden. Leute, die immer was zu nölen hatten, hätten hier wahrscheinlich das Marketing kritisiert: Die Aufmachung erweckte Erwartungen, die stark vom Inhalt abwichen. Aber die Zeiten, dass mit Blut geschriebene riesige Wörter Ranuk gegruselt hätten, waren längst vorbei. Oder hatte sich Ranuk überhaupt je gegruselt? Vielleicht nicht einmal beim ersten Mal.

‘Käsekuchen’ war eine sich wiederholende Botschaft. Sie stand dort jedes Mal, wenn Ranuk die Lust auf Käsekuchen besonders nicht verdrängen konnte. Ranuk liebte Käsekuchen einfach. Aber er war sehr kompliziert zu machen. Rie war der Aufforderung, wenn es denn eine war, nur einmal am Anfang nachgekommen. Rie hatte sogar ein Stück neben einen Spiegel gestellt, um mit dem Geist zu teilen. Aber es war auch nicht verschwunden, als Ranuk eine Weile woanders gewesen war.

So groß und überzeugt wie nun war das Wort allerdings selten buchstabiert gewesen.