Namen

CN: Reden über Deadnames, aber sie fallen nicht. Nacktheit. Nachdenken über Berührungen im Genitalbereich

Mirash

Es hätte ihm klar sein sollen. Aber es hatte drei Wochen gebraucht, bis as die Buchstaben des Namens Mirash in das Namensfeld für die Accounterstellung eingegeben hatte. In der Zwischenzeit hatte as alle anderen Daten in der Maske bestimmt fünf Mal perfektioniert. Den Skin – das Aussehen des Charakters, den as spielen wollte – vor allem. As hatte sich auch ein paar Mal bei der Schreibweise der eigenen Pronomen hin und her umentschieden, aber in dem Beispielsatz gefiel ihm ‘as/sain/ihm/as’ am besten. Der Beispielsatz war überraschend kurz, um alle grammatikalischen Fälle der Fürwörter abzudecken: “Als sich die Entität as näherte, nahm as deren Hände in saine und es ging ihm besser.”. Die Schreibweise wäre auch sehr schnell erklärbar: Wie ‘es/sein/ihm/es’, nur, dass jedes ‘e’ durch ein ‘a’ ersetzt wurde.

Eigentlich war es ja jedes Mal so. Ein neues Gerät, ein Faltrechner oder Taschenrechner etwa, wurde aufgesetzt und brauchte einen Namen? Es betraf schließlich nicht nur as, dann die weitere Einrichtung aufzuschieben, über Stunden, manchmal über Tage, bis der richtige Name für das Gerät gefunden war. Und so war es eben auch mit Account- oder Profilerstellung.

Aber in diesem Fall wäre es einfach gewesen. Der Name Mirash hatte schon viel länger in sainem Kopf herumgespukt. Weil er ihm gefiel. Weil as überlegte, sich auch im Outernet so zu nennen. Und dieses Spiel, in dem as gedachte, längerfristig zu verweilen, fühlte sich nun wie ein guter Raum an, den Namen auszuprobieren. Ähnlich wie andere Leute Geschichten mit neuen Namen oder Pronomen schrieben, um sich in diese im Vorfeld hineinzufühlen, bevor sie sie ihrem sozialen Umfeld als ihren neuen Namen oder ihr neues Pronomen mitteilten, sollten sie sich im anderen Universum als passend herausstellen.

Lunascerade hieß das Spiel. Und as hieß nun Mirash.

Der Name hallte durch Mirashs Gedankenuniversum und malte alles ein bisschen anders an. Es wirkte darin nun weiter, wohnlicher, die Luft war frischer, die Atmosphäre angenehm kühl und schattig. Aber auch noch etwas ungewohnt, wie nach einem Umzug, in eine neue Wohnung, die definitiv besser war als die alte, aber in der noch nicht alles eingerichtet war, und die weniger tollen Dinge noch nicht entdeckt.

As lächelte in sich hinein aber wartete trotzdem noch damit, zu bestätigen und den Account auch anzulegen. Einfach nur für einen bewussten Spaziergang in die Küche, um sich einen Tee zu machen, noch einen halben Rundling zu essen und sich in diese Freude über die Entscheidung hineinzufühlen. Und in die Unsicherheit. Mirash gehörte zu den Leuten, die Unsicherheit in gewissen Dimensionen durchaus genoss.

As spazierte zurück ins Spielzimmer und stellte den dampfenden Becher auf das dafür vorgesehene Regalbrett. Dann war umziehen dran. As entledigte sich all sainer Kleidung und zog stattdessen den EM-Anzug an. Ein Anzug, dünn und weich wie eine zweite Haut, die passgenau anlag. As tat es bewusst, fädelte die Zehen sorgfältig in die dafür angefertigten Anzugzehen, rollte ihn die Beine hinauf, sortierte ihn besonders im Schritt, damit er zugleich nicht irgendwie klemmte und trotzdem alle Stellen des Körpers berührte. As glaubte eigentlich nicht gleich am Anfang in der Virtualität eine Person zu treffen, mit der sich as so annähern würde, dass sie sich im Schritt anfassten, aber manchmal passierten überraschende Dinge. As war da recht offen. Dann über den Torso, um die flachen Brüste herum, wo der Anzug für sainen Geschmack noch viel zu locker saß. Aber das würde das elektromagnetische Feld, kurz EM-Feld, gleich regeln. Der Raum konnte ein solches erzeugen und der Anzug das Gegenfeld, sodass eine im Anzug anfassbare Wirklichkeit im Zimmer erstellt werden konnte. Eben auch ein sehr guter, passgenauer BH.

As fädelte auch die Arme in den Anzug, zupfte die Finger besonders gründlich zurecht, bevor as sainen Kopf in Kapuze und Gesichtsteil verpackte. Der letzte Schritt war, die sehr dünne Anzughaut über die Lippen zu haften. Für viele war das etwas Gewöhnungsbedürftiges. As hingegen hatte es von Anfang an geliebt. Die feinen Berührungen auf den Lippen von etwas, was sachte darauf haftete, aber gefühlt nicht klebte. Etwas, was sich nur fast perfekt mitbewegte, wenn as die Lippen schürzte. As lächelte. Das hingegen konnte diese Anzughaut ohne Probleme mitmachen.

As hatte einen Anzug, bei dem die VR-Brille direkt integriert war, und schaltete die Virtualität ein. Die Eingabemaske schwebte vor ihm. Die ausgewählte Kleidung für den Spielstart wuchs schichtweise an sainem Körper. Sie fühlte sich gut an. Sie war eng, der Stoff fest und sicher einen halben Zentimeter dick, aber trotzdem geschmeidig. Sie hatte, wie für Anfangende üblich, keinen besonders hohen Rüstwert, war ihm beim Aussuchen erklärt worden. In Farben hatte as fast freie Auswahl gehabt, alles außer Schwarz. Was as irritiert hatte: Eigentlich hatte as sich das Spiel wegen des Ambientes und der Atmosphäre ausgesucht. Alle Einblicke, die as in Lunascerade erhascht hatte, hatten ein düsteres Spiel gezeigt. Viel nasses Kopfsteinpflaster, Brücken, Regen in der Dämmerung oder Nacht, Fackelbeleuchtung. Personen, die darin spielten, waren überwiegend schwarz mit bunten Farbeinsätzen gekleidet gewesen. Körperbetonte Anzüge oder in Kleidern von zierlich bis wuchtig, oft mit Spitze. Ein Stil, mit dem sich Mirash mehr als wohl fühlte. Weshalb Mirash ohne viel Vorbereitung beschlossen hatte, dieses Spiel mit Learning-By-Doing-Methode kennenzulernen. As hatte keine Ahnung, ob es sich um ein Spiel handelte, für das diese Lernmethode sonderlich geeignet wäre, aber as stürzte sich durchaus gern unvorbereitet ins Chaos und mochte überrascht und überfordert werden.

Mirash hatte sich überlegt, wenn nicht schwarz, dann rosa. As trug also nun einen hautengen rosa Anzug aus einem leder-ähnlichen Material und einen rosa Zylinder.

Mirash wärmte sich vorsichtshalber mit ein paar Dehnübungen auf, und legte dann endlich den Account an. Mit dem Anlegen landete as auch im Spiel.


Dieses Spiel verzichtete auf einen Prolog oder ein Einleiten der Geschichte. Mirash stand unvermittelt dicht an einer Häuserfassade auf einem Gehweg unter einer Brücke, oder fast mehr in einem kurzen Tunnel. Der Schein einer entfernten Fackel und Mondlicht erhellten den knöcheltiefen Bodennebel, der in dünnen Schwaden über das feuchte Pflaster waberte. Von etwas weiter oben drangen Geräusche herab, vielleicht von der Brücke, vielleicht von den Häusern in der Gasse. Stimmen, Sirren, Klackern, aber nicht so laut, dass Mirash es als Lärm bezeichnet hätte. As sog die Atmosphäre in sich ein wie kühle Luft vermengt mit Freude und einer Prise Grusel.

Mirash hatte gerade überlegt, unter der Brücke hervorzuschauen, um sich nach den Ursachen der Geräusche umzuschauen und sich zu orientieren, da regnete eine Person über das Geländer der Brücke und schlug mit dem Rücken auf das Pflaster nur drei Schritte neben ihm auf. Die Person hielt sich nicht lange mit Herumliegen oder Leiden auf, was in Virtualitäten nicht unüblich war, sondern sprang beinahe flink wieder auf die Beine, einen Bogen bei der ganzen Prozedur nicht loslassend. Sie legte nun einen Pfeil auf die Sehne und zielte irgendwo nach oben. Dabei fiel ihr Blick auf Mirash. Nur ein kurzer Moment der Ablenkung, ausreichend, dass ein anderes Geschoss, das Mirash so schnell mit dem Blick nicht erfassen konnte, auf die Person zuraste und die Person einmal von oben bis unten durchdrang.

“Shit!”, fluchte die Person, ihr Erscheinungsbild flackerte kurz und tauchte eine Körperbreite neben sich wieder auf.

“Ich bin auf eine Illusion reingefallen?”, rief eine weitere Person energiegeladen von oben herab, vielleicht die, die geschossen hatte. Aber statt ein weiteres Mal direkt zu schießen, sprang sie ebenfalls von der Brücke und landete neben der ersten.

Die erste floh zu Mirash unter die Brücke. Dabei fiel Mirash auf, dass beide tatsächlich überwiegend schwarze Kleidung trugen. Die erste Person mit dem Bogen trug einen violetten Umhang dazu, den Anzug der anderen zierten orangene Einsätze. Zugehörigkeitsfarben?

Mirash kam nicht viel dazu, etwas zu schließen. Unter der Brücke verknäulten sich die beiden vor sainen Füßen in einen Kampf mit Messern, sodass es eng für Mirash wurde. As versuchte, den Schutz der Brücke erneut zu verlassen, aber weitere Kämpfende regneten vom Himmel und das Kampfgetümmel wurde unübersichtlich. In gewisser Weise auch schön, aber unübersichtlich. Der Bodennebel sammelte sich anderswo. Gelegentlich verschwanden Leute und ließen aufgewirbelte Löcher im weißen Gewaber zurück. Sie despawnten, mutmaßte Mirash, um irgendwo anders wieder aufzutauchen, oder starben? As fragte sich, ob as sich wenigstens darüber hätte zuvor informieren sollen. Es wäre schon interessant zu wissen, ob as im Fall von Sterben gleich den nächsten Account anlegen müsste, oder irgendwo respawnen würde.

Irgendeine Person krachte direkt gegen Mirash und mit ihm gegen die Tunnelwand, gerade als Mirash dachte, eine Lücke zum Entwischen gesehen zu haben. “Es tut mir leid!”, sagte sie. “Ich kann schwer genug auf mich selbst aufpassen. Versuch wegzukommen!”

Irgendwodran war sehr erkennbar, wagte Mirash zu schließen, dass as nicht zu den Kämpfenden gehörte. Vielleicht kannten sie sich alle. Vielleicht lag es daran, dass Mirash kein Schwarz trug.

“Ich erkämpfe dir eine kurze Lücke, und dann lauf, ja?”, keuchte die Person, als sie sich von Mirashs Körper wieder weggedrückt hatte.

Mirash rückte den Zylinder zurecht und nickte. Die Person machte eine Werfbewegung schräg zu Boden, weg von dem Ausgang unter der Brücke, an dem Mirash stand. Die Luft flackerte und funkte orange in Wurfrichtung, und davon ausgelöst bewegte sich eine Welle durch den Boden, als wäre er flüssig. Eine Welle mit der praktischen Eigenschaft, nicht so durchdringbar wie Wasser zu sein, sodass sie die meisten von den Füßen riss. Sie rappelten sich eine halbe Schrittweite weiter wieder auf und Mirash hatte tatsächlich Gelegenheit, aus der Enge zu fliehen.

Allerdings schien die Unterführung nur der Knotenpunkt des Kampfs geworden zu sein. Überall rangelten nun Paare, Triaden oder auch mal vier Personen miteinander. Geschosse flogen über die Straße, ein paar davon auch wieder mit Funken. Mirash entdeckte im eigenen Sichtfeld eine Lebensbar, die schon ein bisschen gelitten hatte. As begann zu rennen, um irgendwo Deckung zu finden. Einen Pfeil im Fuß später schrumpfte die Bar noch einmal auf die Hälfte. Der Pfeil störte beim Rennen, also bückte as sich, um ihn zu ziehen. Dabei stellte Mirash fest, dass er nicht nur durch seine das Laufen behindernde Platzierung in sainem Körper gestört hatte, sondern auch durch eine Kraft ohne sichtbaren Ursprungs, die am Pfeil gefühlt umso doller zerrte, als as ihn nur noch in der Hand hielt. As hätte ihn vielleicht festhalten können, war aber kurz zu überrascht gewesen und hatte ihn losgelassen. Er war nebelaufwirbelnd davongedüst. Auch gut. Im Gegensatz zum nun pfeilfreien Körper war die gefährlich verringerte Lebensenergie wohl nicht so unbedingt von Vorteil.

Zwei Straßenecken weiter entdeckte Mirash eine wirklich schmale Gasse, in die as sich gerade so quetschen konnte. Sie wirkte immerhin zumindest im Moment sicher. Irgendwo musste es brauchbar sichere Orte für Anfangende geben. Oder bessere Zeiten. Vielleicht war es einfach Kampf-Tag oder so etwas.

Mirash hatte keine große Lust, das Spiel zu verlassen und erst später wieder anzufangen. As hatte sich doch gerade erst darauf eingelassen. As hatte sich auf diese ganze Unkalkulierbarkeit eingelassen und wollte sie jetzt auch haben. Gucken, was passierte. Es waren überall Häuser und Brücken. Mehrere Stockwerke an Brücken. Vielleicht sollte as versuchen, in ein Haus hineinzukommen oder eines mit einer Bestimmung zu finden.

As blickte aus der Nische heraus, nur um zu schauen, ob vielleicht irgendwo ein Langkommen wäre, als ein gleißend helles Licht as unvermittelt blendete. As verzog sich, die gleiche Bewegung von eben rückwärts wieder ausführend, in die schmale Gasse und sah nichts. As blinzelte mehrfach, wartete geduldig ab, bis wieder Schemen ausmachbar waren. Überleben war dann wohl gerade mehr Zufall. Geblendet und im Dunkeln war es immerhin praktisch, rosa Kleidung zu tragen. Diese hob sich wenigstens ab.

“Moin!”, grüßte eine Person.

Mirash hatte sie – kaum verwunderlich – nicht kommen sehen. Und sah auch jetzt, als as sich zur Stimme umwandte, nicht viel von ihr. Sie war sehr dunkel gekleidet, bis auf einen kleinen orangenen Fleck an der Kapuze oder dem Umhang im Nacken. “Moin.”, grüßte Mirash zurück. Das war eine klassische Begrüßungsfloskel im Nord-Westen Maerdhas, wo Mirash gar nicht wohnte, aber as kannte sie trotzdem und mochte sie gern.

“Du wirkst hier ein bisschen verloren.”, sagte die Person freundlich. “Kann ich helfen?”

“Ich bin vor allem neu.”, antwortete Mirash. So gut war as nun nicht mit der ganzen Vorstellungssache.

“Neu wie in, erst ein paar Tage hier, oder neu wie in, gerade das erste Mal eingeloggt?”, fragte die Person.

“Letzteres.”, gab Mirash zu.

Die Person gluckste. “Hast du dich absichtlich zur Trainings-Kombat-Zeit eingeloggt, oder wusstest du davon nicht?”

“Auch letzteres.”, antwortete Mirash. “Ich habe mich vorher nicht über das Spiel informiert. Ich habe lediglich Einblick in die Atmosphäre aus Video-Zusammenschnitten bekommen. Ich gehöre zu diesen extremen Leuten, die sich Spiele gern unvorbereitet antun.”

“Hui!”, machte die Person neben ihm. Es wirkte nicht abwertend auf Mirash.

Es war nicht das erste Mal, dass as diese Strategie vorstellte. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich. Teils abhängig davon, wie gut sich das jeweilige Spiel eben dafür eignete, von Unverständnis, teils Skepsis oder leichter Abwertung über Neugierde oder Nachdenklichkeit bis hin zu Begeisterung oder Bewunderung. Bewunderung vor allem dafür, weil sich viele nicht so recht vorstellen konnten, dass Mirash fast überhaupt kein Problem damit hatte, zu scheitern.

Die Person schien in die Kategorie Nachdenklichkeit zu fallen. So nahm Mirash das zumindest wahr.

“Gilt dein Konzept nur für Vorbereitungen außerhalb der Welt, oder ist es etwas anderes für dich, wenn du in der Welt von Spielenden aufgeklärt wirst?” Die Person sortierte einen langen, dunklen, geflochtenen Zopf nach vorn. “Vielleicht sogar in einer Weise, die Spielmechanik sein könnte, wobei, ich bin nicht sicher.”

“Letzteres klingt sehr interessant.” Mirash blinzelte noch ein paar Mal, in der Hoffnung, bald wieder klarer sehen zu können. “Bei ersterem kommt es ein bisschen drauf an. Es könnte mir ja in einem denkbaren Extrem eine Person In-Game Foren-Texte vorlesen.”

“Das verstehe ich. Das wäre auch nicht sehr, wie heißt das? Immersiv? Die Immersion würde nicht funktionieren?” In der Stimme konnte Mirash ein Lächeln oder zumindest eine Freundlichkeit ausmachen.

“Ich hab’s nicht so mit Fachwörtern. Also, mit vielen nicht.”, gab Mirash zu.

“Immersion bedeutet ungefähr, dass das Spiel oder eine Geschichte oder so für dich gerade zu der Welt wird, in der du gefühlt lebst, und nicht eine, die du eher von außen wahrnimmst.”, erklärte die Person.

“Wenn wir in einem Spiel über das Spiel reden, ist dann Immersion zum Scheitern verurteilt?”, fragte Mirash.

Die Person kicherte. “Für mich nicht. Für dich? Fühlst du dich durch unser Gespräch weniger als Teil dieser Welt? Gibt es dadurch für dich Entfremdungseffekte?”

Mirash konnte zunehmend die Körperhaltung ausmachen. Die Person lehnte relativ lässig an der Häuserkante direkt neben dem Gassenzugang. In Mirashs Erinnerung war dahinter nicht allzu weit entfernt Kampfgetümmel gewesen.

Mirash rief sich die Frage mit der Immersionsstörung zurück in Erinnerung. “Tatsächlich nein. Mich reißt eher raus, dass du da so ruhig lehnen kannst. Während der, wie hast du sie genannt, Trainings-Kombat-Zeit.”

Die Person blickte sich um. Gründlich in beide Richtungen. “Sieht relativ leer aus im Moment. Der Kampf findet in ganz Fork statt, so heißt die Stadt, und verschiebt sich darüber wie Gewitterwolken.” Die Person zögerte und fügte dann hinzu: “Wobei ich schon einen gewissen Einfluss hatte.”

“Fork. Wie die Hauptstadt Maerdhas, also außerhalb der Virtualität.” Mirash kicherte. Die Hauptstadt des Kontinents Maerdhas hatte tatsächlich auch mehrere Stockwerke an Brücken und Häusern. “Warum hast du den Einfluss genommen?”

“Immersion oder Ehrlichkeit?”, fragte die Person.

Mirash runzelte die Stirn. Was die Person vielleicht nicht sehen konnte. Es sei denn, sie hatte Nachtsicht oder so etwas. Und konnte durch Masken gucken, fiel Mirash ein. Das Spiel hieß auch Lunascerade, abgeleitet von Mascerade, weil zur jedem wählbaren Kleidungsset auch eine Maske gehörte, die relativ frei gestaltet werden konnte, aber meistens glitzerte oder mit Spitze besetzt war, und das halbe Gesicht verdeckte. “Ginge Ehrlichkeit schnell?”

Die Person nickte.

“Dann vielleicht doch Ehrlichkeit.”, entschied Mirash zögerlich.

“Eine der Personen, die dir vorhin im Kampfgetümmel unter der Brücke begegnet ist, hat mich auf einem anderen Kanal angeschrieben, dass du vielleicht Hilfe gebrauchen könntest.” Eine gewisse Unsicherheit lag in der Stimme der Person. “Ich würde dir Geleitschutz zur Dramaturge anbieten. Die Dramaturge ist ein kampffreier Raum, eine Art Kulturtreff.”

“So etwas habe ich gesucht.”, fiel Mirash wieder ein. Ein Haus, oder so, mit Bedeutung. “Ich würde das Angebot annehmen. Ist für dich dafür wichtig zu wissen, dass meine Lebens-Bar irgendwo im roten Bereich ist.”

Die Person atmete in einer Weise, die belustigt wirkte. “Ich habe halb damit gerechnet.”, sagte sie. “Ich bekomme dich so versehrt, wie du gerade bist, in die Dramaturge. Dort gibt dir bestimmt eine Person ein bisschen Heilung aus.”

Jetzt, als der Plan geklärt schien, hatte die Person es plötzlich eilig. Sie brach einfach auf und Mirash folgte. Sie ging in diesem Tempo, das Leute voranlegen, die merken, dass die Begleitperson gerade so mithalten würde, immer einen halben Schritt hinterher. Etwas, was Mirash im Normalfall aufgeregt hätte, aber gerade hatte es vielleicht einen anderen Zweck, als dass einfach die schnellere Person aus eigener Bequemlichkeit ein höheres Tempo einforderte. Auf ihrem Weg blickte sain Geleitschutz konzentriert in alle Richtungen, führte as gefühlt im Zickzack durch das Straßennetz, Rampen hinunter, über Brücken und unter anderen entlang. Mirash sah entfernt Kampfgetümmel und vermutete, dass die Person as bewusst mit Abstand an diesem vorbeiführte. Nur einmal wurde es eng. “Lass mich fünf Schritte vorgehen.”, bat die Person, als sie durch eine Straße mussten, in deren Mitte drei Personen Waffen auf einander richteten. Mirashs Begleitung näherte sich den Kämpfenden wie eine Person, die sich einer Gesprächsgruppe näherte, die noch nicht wusste, ob sie willkommen wäre oder eine Lücke in einem Gespräch abwartete. Als sie die Aufmerksamkeit bekam, kommunizierten sie kurz, Mirash verstand sie nicht, aber die Kämpfenden verzogen sich darauffolgend woandershin.

“Das ging unkomplizierter, als erwartet.”, sagte die Person, als Mirash aufschloss. “Wir sind fast da.”

“Kennst du alle?”, fragte Mirash.

Die Person lachte, hielt sich dann aber auf. “Entschuldigung. Der Gedanke war absurd, ich wollte dich nicht auslachen. Es spielen hier so um die tausend Leute mit. Es gibt einiges an Fluktuation. Und mein Namensgedächtnis ist gar nicht Mal so gut.”

“Ich heiße Mirash.” Warum sagte as das nun? “Ich glaube, das war die denkbar unempathischste Reaktion.”

Die Person ging nicht darauf ein. Sie blieb auf einer Straße stehen, die Mirash zunächst für eine Brücke gehalten hatte, weil zumindest auf der einen Seite davon keine Häuser waren. Nun blickte as genauer hin und erkannte, dass hinter der kleinen Begrenzungsmauer Wasser schwappte. Auf der anderen Seite ragte ein einzeln stehendes Haus aus dem Wasser. Sie standen direkt vor den großen Holztüren. Ein durch Alter gezeichnetes und dadurch wunderschönes Schild rostete darüber mit der Aufschrift “Dramaturge” vor sich hin.

Mirashs Blick wanderte zurück zum Gesicht der Person. As konnte das erste Mal ein Lächeln darin nicht nur hören, sondern auch ausmachen, aber noch waren alle Umrisse verschwommen und blass. Die Dramaturge war außen mit Fackeln beleuchtet, das half ein wenig. Die Person verbeugte sich kurz sachte, wodurch das Orange an der Kapuze noch einmal in Mirashs Sichtfeld kam. Oder war es doch etwas anderes, als eine Kapuze? Ein Schal in der Kapuze? Die Person hielt Mirash die Tür auf, worauf as beschloss, der Frage später nachzugehen und erst einmal einzutreten. Aber anders, als Mirash bei der Geste vermutet hätte, folgte die Person nicht mit hinein.

Sie hatte sich nicht vorgestellt. Von der ersten Person, mit der Mirash hier also interagiert hatte, – sah as von dem sehr kurzen Gespräch mit der Person mit der Energiewelle ab, kannte as also keinen Namen. As schmunzelte. Es war kurz ein Gefühl von Enttäuschung oder Leere gewesen, als die Person hinter ihm verschwunden war. Aber es war auch das gute Recht der Person, sich nicht weiter um as zu kümmern.

Und bezüglich des Namens: Es konnte so viele Gründe geben, den eigenen Namen nicht zu nennen. Naheliegend wäre vielleicht, dass es für die Person eine verminderte Rolle spielte, weil ihr Namensgedächtnis nicht gut war. Oder dass sie einfach sehr viele Leute traf, oder auch nicht so gut in Gesprächsführung war, oder abgelenkt gewesen war, sodass sie nicht daran gedacht hatte. Oder dass sie in diesem Spiel sowas wie ein Villan war und deshalb anonym bleiben wollte, könnte auch sein. Oder dass sie von Anfangenden überlaufen würde, wenn sie jeder neuen Person sagen würde, wer sie war. Oder es gab in diesem Spiel eine Mechanik, dass den eigenen Namen zu sagen, nachteilhaft wäre. So etwas Albernes wie Macht über Leute, deren Name bekannt war. Das wäre jetzt schlecht, denn as hatte sich ja vorgestellt. As hielt sich nicht mit Gruseln auf.

Und der letzte mögliche, wenn auch vielleicht unwahrscheinliche Grund, der Mirash einfiel, war, dass der Person ihr Accountname nicht mehr gefiele. Mit der Option fühlte Mirash besonders mit.