Wald

In Mirashs Spielraum – dem Raum, in dem die EM-Felder zusammen mit dem EM-Anzug Lunascerade und andere Virtualitäten spürbar machten – lag eine Matratze mit ein paar weichen Decken und Kissen und einer Kuschelmöwe. Direkt darüber befand sich ein Fenster, das nicht völlig durchsichtig war, weil auch in jenes das Drahtgeflecht für die EM-Felder eingearbeitet war. Aber es kam dadurch Licht hinein. Mirash hatte ein Problem mit Räumen, in die kein natürliches Licht fiel, – was vielleicht interessant war angesichts der Tatsache, dass as sich irgendwas bei ein bis drei Dittel des Tages in Virtualitäten befand. Phsychologische Effekte waren manchmal stark und seltsam.

Fenster in Spielräumen jedenfalls waren eher selten. Dafür hatte die Hütte, in der Mirash wohnte, überhaupt nur drei Räume: dieses Spielzimmer, eine Küche mit gerade ausreichend Raum für einen Tisch für zwei und ein Bad. Es gab nicht einmal einen Flur, die Funktion übernahm die Küche ebenfalls.

Es war also nicht viel, aber Mirash brauchte auch nicht viel. As brauchte vor allem Abgeschiedenheit. Jederzeit die Möglichkeit, die ganze soziale Welt für eine Weile auszuschalten und sich in der Realität in einem Wald irgendwo weit draußen auf dem Land zu befinden. Die Hütte stand nicht allein in diesem Wald, das wäre vielleicht schwierig geworden, wenn Mirash gleichzeitig einen Anschluss ans Spinstromnetzwerk und vor allem für den Lebensmitteldrucker haben wollte. Es war ein kleines Waldhüttendorf aus ungefähr 20 etwas verstreuten Hütten, und das nächste Dorf war eine gute halbe Stunde zu Fuß entfernt. Mirash kannte die meisten der anderen Leute, die hier lebten, vom Sehen. Manchmal gab es Unterhaltungen darüber, wie sie gemeinsam das Gebiet pflegen wollten, wer sich wie um welches Gestrüpp kümmerte. Manchmal wurde as gefragt, ob as eine Person im Falle eines Notfalls in das nächste Dorf fahren würde, oder ab und an Mal vorbeischauen würde, ob das alte Mau drei Hütten weiter es noch hinbekam, sich gut um sich zu kümmern. Inniger wurde es nicht und das passte Mirash gut in den Kram.

Mirash setzte sich auf die Matratze und lehnte sich mit einem Kissen im Rücken an die Wand, die Möwe auf dem Schoß streichelnd. “Wie geht es dir?”, fragte Mirash.

Die Kuscheltiermöwe antwortete nicht. Das war Mirash gewohnt.

Sie störte sich allerdings auch nicht daran, wenn Mirash sainerseits davon erzählte, wie es ihm ergangen war. Und es war sehr entspannt, ihr davon zu erzählen. Technisch gesehen Selbstgespräche, aber das ließ die Möwe auch unkommentiert. Es sprach ja auch nichts dagegen.

“Kurzzusammenfassung mit Übertreibungsmodus.”, leitete Mirash ein. “Ich habe mich derbst in eine Person verliebt, die potenziell Super-Villain in diesem Spiel ist. Ich habe Mal wieder irgendwelche RedFlags nicht gesehen, also von irgendwelcher Seite nicht mitbekommen, wann ich in eine Ecke gedrängt oder manipuliert worden bin, und ich weiß nicht einmal von welcher.” Mirash machte ein kurzes nachdenkliches Geräusch. “Eine bisher recht gute Methode, das herauszufinden, war immer Gefühle ernst zu nehmen.”

Wenn Mirash nicht aussprach, worüber as nachdachte, ergoss sich das ganze Universum an Gedanken einfach synchron als Netz in sainem Gehirn. das war nicht immer eine abwegige, schlechte Denkstruktur, aber gerade war sie zu groß, um sie gut zu erfassen. Zum Sortieren half es Mirash, sie laut abzuarbeiten, selbst wenn es dabei immer noch chaotisch zuging. Auf diese Art war as wenigstens gezwungen, sich Verzweigungen in der Struktur konkret anzusehen.

Manche der Gedanken überprang as, weil as sie bereits oft durchdacht hatte, sie aber als Verknüpfung vom gerade besprochenen zu neuem Geäst gebraucht wurden. In diesem Fall erinnerte sich as daran, dass as bisher in jeder toxischen Beziehung ein unangenehmes Gefühl gehabt hatte, das as lediglich unterbewusst versucht hatte, zu unterdrücken. Das half leider in die eine Richtung wenig. As fühlte sich auch in vielen Beziehungen mit Leuten im Alltag nicht wohl, die nicht toxisch waren, einfach weil as sie nicht so gut verstand, oder weil Bedürfnisse kollidierten, oder weil die Kommunikationsart oft zu Missverständnissen führte. Aber in die andere Richtung half es: Eine Beziehung, in der as nie Angst oder Beklemmung spürte, nie dachte, dass as vielleicht ein Störfaktor sein könnte, hatte sich noch nie als toxisch herausgestellt.

Mirash atmete Erleichterung ein und aus, entspannte sich. Flederschatten war eine Person, bei der Mirash keine dieser Ängste hatte. Oder doch? Da war kurz dieses heiße, miese Gefühl gewesen, als Flederschatten geäußert hatte, dass Mirash Flederschatten unsympathisch sein müsste. Aber das war irgendwie etwas anderes gewesen. Es war eine moralisch fragwürdige Sache gewesen, die Mirash da gemacht hatte. Das heiße Gefühl war schon vorher manchmal leise da gewesen, bevor Mirash das ganze ausgeführt hatte.

Flederschatten hatte mit der Vermutung unrecht, dass Mirash da allzu sehr hineinüberredet worden wäre. Es war nie darum gegangen, der Zeit-Fraktion etwas zu zeigen. Mirash hatte sich nicht gezwungen gefühlt, weil as ja zu allem nein gesagt hätte, und nun ja hätte sagen müssen, weil as nichts argumentativ hätte dagegen sagen können. Mirash fielen spontan viele Gründe ein, die as hätte anbringen können. Aber as hatte sich von Anfang an dazu bereit erklärt, etwas in der Richtung zu tun.

“Warum habe ich denn gefühlt das ganze Spiel gegen mich aufgebracht?”, fragte as die Möwe.

Sie antwortete wieder nicht.

Mirash grub die Finger in ihr weiches Fellgefieder. Es war sehr flaumig. “Flederschatten hat sich so gut angefühlt. Ich möchte so gern wieder, ich habe so einen Drang dazu. Und ja, vielleicht würde er weniger werden, wenn Flederschatten nicht wollte, aber wahrscheinlich will Flederschatten auch, nur müssen wir eben vorher Dinge klären. Das wird hart.”

As fühlte etwas in sich resignieren und ermatten bei dem Gedanken, dass Masturbieren in der Spielpause wohl eine sinnvolle Sache wäre. Es war nicht so, dass Mirash nicht gern masturbierte, aber as hatte es auch eilig, wieder ins Spiel zu kommen. Masturbieren kostete Zeit und brauchte außerdem ein Mindset, in das Mirash vorher hinein- und hinterher wieder heraustauchen musste.

“Eins nach dem anderen. Ich liste dir Mal die Gründe auf, okay?” Die Möwe antwortete nicht. “Ich glaube, mein stärkster Grund war gar nicht der, dass ich finde, dass keine einzelne Person so eine Macht haben sollte. Das ist nach wie vor ein Grund und auch ein guter Grund. Der, den ich am besten nach außen vertreten kann.”, erklärte Mirash. “Mein persönlicherer und stärkerer Grund ergibt sich aus der Art, wie ich dieses Spiel spiele, aber andere eben nicht. Dieses Spiel ist voll uraltem, sozialem Gedöns, das sich bestimmt irgendwo in Foren nachlesen lässt. Aber ich bin nicht Teil davon, noch nicht. Und wenn ich davon erfahren will, dann müsste ich mich von irgendwelchen Personen aufklären lassen. Also, dachte ich, schreibe ich selbst Geschichte, verändere was Großes, stehe im Mittelpunkt.”

In diesem Moment spaltete sich Mirashs Gedankengang in zwei Richtungen auf und as konnte sich nicht davon abhalten, beide gleichzeitig zu versuchen zu denken und dabei zu scheitern. “Ich stehe gern im Mittelpunkt.”, murmelte as. Aber die anderen Argumente für die Aktion suchte as erst einmal vergeblich. Vielleicht, weil eine kurze Welle von Scham as dafür überrollte, gern im Mittelpunkt zu stehen. Mirash hatte nie so richtig verstanden, was die Scham da eigentlich sollte. Aber das war auch ein Problem für einen anderen Zeitpunkt.

Mirash würde ein paar Tage Abstand vom Spiel brauchen, um dieses Gedankengewusel sortiert zu bekommen. Dazu war as gerade noch nicht bereit. Es wäre für Psycho-Hygiene wahrscheinlich gesünder gewesen, aber Mirash forderte die eigene Gesundheit in gewissem Rahmen durchaus bewusst und kontrolliert heraus. As kannte das. Die Folgen waren es ihm wert.

Mirash machte ein paar erdende, mit Atmung verbundene Entspannungsübungen und legte anschließend die eigene Bettdecke zwischen die Beine. Es gab sicher Werkzeuge, die zum Masturbieren eher gedacht waren, aber Mirash hatte als Kind Bettdecken dafür genutzt, weil as sie eben zugänglich gehabt hatte, ohne sich weiter informieren zu müssen, und so war es eine altvertraute Gewohnheit. Mirash versuchte sich zunächst davon abzuhalten, beim Masturbieren an Flederschatten zu denken, auch wenn die Bilder alle so frisch waren. Dann erinnerte as sich daran, dass Flederschatten dem zugestimmt hatte, aber schließlich verdrängte Mirash das Erinnerungsgefühl an Flederschattens Körper trotzdem wieder aus sainen Vorstellungen. As war erschöpft und hatte Bedenken, das Traumabbild später mit in die Realität der Virtualität zu vermischen, da nicht sauber trennen zu können. Also stellte sich Mirash dabei eine sehr fiktive, frisch erfundene Person vor. Ohne Vorstellungen konnte Mirash nicht.


Anschließend lag Mirash ein paar Momente auf dem Rücken, um die Pläne zu sortieren. Essen, Trinken, Spazieren, Duschen. Duschen war vor Spazieren dran. Und vor Essen, aber das Essen konnte schon drucken, bevor as duschte. Und als erstes käme der EM-Anzug in die Wäsche. Aber in sainer Hütte hatte as keine Waschmaschine, dazu musste as über den Platz zum Raum mit den Maschinen gehen. Und das war mehr als ärgerlich. Vor dem Duschen wollte as nicht in saubere Kleidung steigen. Aber der Anzug brauchte am längsten, um ausreichend zu waschen und zu trocknen, daher sollte der Schritt schon als erstes passieren. Aber nackt mit Schleim im Schritt im Winter über den Platz spazieren, war auch nicht das Highlight, das Mirash sich für diese Pause erträumt hätte.

Mirash seufzte und entschied sich, sich mit weniger benutzten Stellen des EM-Anzugs grob abzuwischen, einen Bademantel zu benutzen und den Plan ansonsten trotzdem umzusetzen. Anzug wegbringen, während der Matsch des durchgeweichten Waldbodens in die Badelatschen schwappte, Druckauftrag starten, duschen, anziehen, essen und dann ein Spaziergang im Wald. Für diesen trug Mirash geeigneteres Schuhwerk als Badelatschen, aber leider keine Kröte in der Kapuze. Natürlich waren Mirashs Gedanken voll mit Flederschatten beschäftigt, mit diesem ruhigen Gesicht, das gleichzeitig so neugierig und so chaotisch war. Aber auch mit Flammenfinger, ein wenig mit Zeitkick und Holgem, und mit dem Spiel im Allgemeinen.

Es war weit nach Mitternacht und Mirash sah den schmalen Waldweg unter sainen Füßen nicht, insgesamt fast gar nichts. Aber as kannte die Windungen genau. Außerdem wurde dort, wo der Weg am Rande aufhörte, der Boden weicher und bewachsener. Mirash fühlte, wenn as vom Weg abkam. Es roch kalt und feucht. Und endlich hatte Mirash wieder Bewusstsein dafür, für sich selbst zu atmen.

As fokussierte sich auf die Pläne, die as nun für sich entwerfen wollte. As wollte kein Abhängigkeitsverhältnis mit Flederschatten haben. Und es war nun ein wenig trickreich, das einzufädeln, oder wieder auszufädeln. Auf der anderen Seite fühlte sich Mirash schließlich mit Flederschatten wohl, das hatte as festgestellt.

Vor ihrer Sex-Sache hatten sie ausgemacht, dass diese ihre Haltung zueinander nicht beeinflussen sollte. Zu dem Zeitpunkt vorher war der Plan gewesen, in Flederschattens Basis zu gelangen, um dort für die Zeit-Fraktion zu spionieren. Und gegebenenfalls zu sabotieren.

Spionage hielt Mirash immer noch für eine gute Idee, stellte as fest. As war dort nicht im Zusammenhang mit der Sex-Sache hingelangt, sondern im Gespräch, in dem es bereits wieder um Politik gegangen war. Und heimlich Dinge über Flederschatten zu wissen, war eine Absicherung. Mirash konnte dann immer noch entscheiden, was as mit Informationen machte, – falls as welche fand. As war sich noch nicher, was as von der Zeit-Fraktion abschließend halten sollte. Es gab sicher eingefahrene Strukturen, von denen as schon mitbekommen hatte und die ihm missfielen. Aber sie war vielleicht trotzdem die einzige Fraktion, die Flederschatten etwas entgegensetzen könnte und würde. Mirash war immer noch recht überzeugt davon, dass es nicht gut wäre, wenn ein einzelner Charakter im Spiel so viel Macht hätte. Vielleicht würde es sich als sinnvoller Kompromiss herausstellen, mit der Zeit-Fraktion in ein paar Punkten zusammen zu arbeiten. Einen Moment lang überlegte Mirash, auch wenn ihm so etwas gar nicht behagte, die beiden Parteien gegeneinander auszuspielen, um den anderen Fraktionen mehr Raum zu verschaffen. Dazu hätte Mirash aber vielleicht doch mehr von Intrigen verstehen müssen. Und bräuchte insgesamt mehr Hintergrundwissen.

Informationen würden ihm in jedem Falle helfen, um abgleichen zu können, ob Flederschatten oder beliebige andere Parteien die Wahrheit sprachen. Oder sie konnten einfach ein Stück Macht sein, das as dann Flederschatten gegenüber hatte, um das besagte Abhängigkeitsverhältnis anzukratzen.

Risiko bestand natürlich, dass Mirash sich dabei ausversehen in die Luft jagen würde. Aber auch das wäre interessant: Würde Flederschatten Mirash dann abschreiben? Oder nicht? Wieviel war Flederschatten die Sache wert? Was war Flederschattens Motiv, sich sainer anzunehmen?

Einen Augenblick überlegte Mirash, doch Forendiskussionen oder so etwas nachzulesen. Natürlich nicht selber. As las nicht so gern lange Texte. Aber dafür gab es KIs, die für as das aus Texten herauslasen, was as wissen wollte, und die Inhalte für as zusammenfassten. Es wäre bei der Komplexität des Spiels, die sich weniger aus der Spielmechanik als viel mehr jahrelanger sozialer Entwicklung ergeben hatte, vielleicht zur Abwechslung nicht verkehrt gewesen. Hier wurde mit Psyche gespielt, das war immer etwas haariger, als wenn es bloß um Spielmechanik ging. Aber noch sträubte sich alles in Mirash dagegen, mit dem Prinzip zu brechen. Vielleicht wenn sich saine eigentlich recht stabile Psyche irgendwann doch zu labil anfühlte. Oder, wenn sich die Lage in einer Woche nicht gebessert hätte, zusammen mit einem Account-Neustart.

Dann wiederum hatte Flederschatten auch einfach recht damit: Mirash war nun ein sehr interessanter Charakter in diesem Spiel.