Zeitkick

Mirash bemerkte sehr wohl, wie Flammenfingers Blick auf ihm ruhte, als as die Dramaturge verließ. Zeitkick hatte Verständnis geäußert, wenn Mirash nicht gewollt hätte, und gemeint, sie könnten sich ja vor der Dramaturge kurz über Pläne unterhalten. Mirash war nicht gleich mitgegangen, sondern hatte versprochen, zügig nachzukommen. Gerade, um die Reaktion der Anwesenden zu beobachten, die sich dann nur auf as und nicht vorwiegend auf Zeitkick beziehen würden. Flammenfingers Gesicht wirkte unergründlich, der Mund vielleicht etwas streng, aber das konnte auch einfach daran liegen, dass sey nicht lächelte. Ser Blick streifte Mirashs jedes Mal, wenn as sich umdrehte, bis as die Tür hinter sich schloss.

“Das hat ja nicht lange gedauert.”, kommentierte Zeitkick. “Was wolltest du noch?”

“Privatangelegenheit.” Mirash drückte es auch deshalb so direkt abwehrend aus, weil as interessiert war, wie Zeitkick reagieren würde.

Zeitkick nickte lediglich. “Ich würde gern in die Zeitbasis gehen. Kannst du einigermaßen fix entscheiden, ob du mitkommen möchtest oder andere Pläne hast?”

Mirash überlegte. Eigentlich mochte as nicht so gern unter Druck gesetzt werden, aber verstand auch, dass Zeitkick nun einmal Pläne hatte. “Mein Grund, zurück in die Dramaturge zu gehen, wäre Zeittricks kennen zu lernen. Würde ich alternativ solche, wenn ich mit dir käme, zeitnah sehen?” As schmunzelte über die Anzahl an Zeitbezügen, die as in der Kürze untergebracht hatte.

Zeitkick grinste. “Klar.” Sie sortierte endlich die Locken unter den Maskenschnüren zurecht, die die ganze Zeit eine leichte Wölbung oberhalb der davon gebildet hatten. Es blies ein leichter Wind. Vielleicht hatte sie es deshalb erst jetzt bemerkt. “Die Zeitbasis wird mit, nun ja, Zeittricks geschützt. Ich kann dir einiges zeigen.”

Mirash nickte. “Dann komme ich mit.”

Zeitkick wandte sich zum Gehen und legte, wie Mirashs erste Begleitung, ein zügiges Tempo vor, aber sie achtete darauf, dass Mirash gut mitkam.

Sie verlangsamte das Tempo mit der Zeit, weil sie viele Schrägen und Brücken hinaufstiegen und später auch Treppen. Mirash kannte Fork ausschließlich aus Virtualitäten. As hatte die Metropole nie im Outernet besucht. Aber ein paar Orte der Stadt, wie sie heute aussahen, kannte Mirash aus Unterrichtseinheiten. Die Stadt war zentraler Treffpunkt für Friedensverhandlungen gewesen, weil sie zum Beginn der Verhandlungen am ehesten neutraler Grund mit vorhandener Infrastruktur gewesen war. Sie war von Anfang an eine Stadt gewesen, an der viele verschiedene Völker mitgebaut hatten. Sie war auf ein zentral in Maerdha gelegenes Sumpfgebiet gebaut worden und statt eines Straßennetzes am Boden bestand sie vor allem aus mächtigen Brücken.

Mirash überraschten mehrere Dinge und as zögerte nicht, Fragen dazu zu stellen. “Wir erreichen viel früher das obere Stockwerk der Stadt, als ich vermutet hätte.”

Zeitkick blickte as mit schmalem Lächeln an. “Wahrscheinlich hältst du die Dramaturge für ein Bauwerk im untersten Stockwerk.”

Mirash nickte zögerlich. “Darunter war Wasser. Eigentlich dachte ich sogar, weil die Gegend unter Fork ein Überflutungsgebiet ist, gäbe es keine Wohnungen und Häuser auf Wasserhöhe, lediglich ein paar Schwimmhäuser oder Hausboote. Die Dramaturge wirkte unrealistisch nah am Wasser. Und undicht.”

“Bei einem relativ frühen Update wurde ein Drittel der Stadt in dieser Virtualität für die Nixen unter Wasser gesetzt.”, erklärte Zeitkick schlicht.

Mirash musste die Antwort erstmal verarbeiten, bevor as die zweite Frage formulierte. Das machte die Virtualität vielleicht sehr interessant. Mirash mochte die Idee einer bekannten Stadt in einem Spiel, die überwiegend unter Wasser stand. As erinnerte sich auch daran, bei der Accounteinrichtung eine Auswahl gehabt zu haben, ob as einen Fischschwanz haben wollte und darüber ganz am Anfang eine Weile nachgedacht zu haben.

Sie erreichten den zentralen Pfeiler Forks. Die ursprüngliche verzweigte Brücke, die Fork einmal gewesen war, bestand aus mächtigen Pfeilern, in die Wohnungen gebaut waren, mit inneren und äußeren Treppenhäusern und breiten, mächtigen Brücken, die sie miteinander verbanden. Brücken, die wiederum von Häusern gesäumt waren. Einige der Pfeiler waren mit dem Wachstum der Stadt verjüngt weiter in die Höhe gebaut worden und der zentrale Pfeiler Forks war ein vertrauter Anblick. In ihm lag im heutigen Fork der Hauptbahnhof und oben auf seine Spitze war das Ratsgebäude gebaut worden, in dem die großen, ersten Friedensverhandlungen stattgefunden hatten, – das Deeskalat. “Die Zeitbasis ist nicht im Deeskalat, oder doch?” Das war Mirashs zweite Frage gewesen.

“Ähm, doch.” Zeitkick warf einen Seitenblick auf as. “Findest du das irgendwie schlimm?”

“Ist das ein Statement?”, fragte Mirash. As wusste noch nicht so genau, was as davon halten sollte.

“In wiefern?”, fragte Zeitkick.

“Es ist sozusagen das zentralste Gebäude in ganz Fork, oder sogar in ganz Maerdha.”, hielt Mirash fest. As nahm den Hut ab, um die Krempe nicht im Sichtfeld zu haben, als as nach oben blickte. Es war nicht mehr viel zu steigen. Im Himmel darüber ruhten vier nicht allzu große Zeppeline.

“Ist es. Und das ist nicht alles. Es handelt sich schließlich nicht nur um ein Gebäude, sondern um einen ganzen gut bewachbaren Hof.”, bestätigte Zeitkick. “Die Basis ist perfekt für die Zeit-Fraktion. Wir sind nicht so viele, aber wir haben viele wertvolle Ressourcen. Das gehört zur Spielmechanik. Zeit ist am schwierigsten zu lernen. Deshalb lernen es nicht so viele, aber wir werden mit der Zeit – haha – ziemlich mächtig.”

Mirash setzte den Zylinder wieder auf und geriet ins Grübeln. “Weil ihr weniger seid, baut ihr zum Ausgleich zeitaufwendig etwas auf, das dann wie eine Festung fungiert?”

Zeitkick nickte. “Es ist nicht so, als hätten nicht alle irgendwo ihre Basen und Festungen. Aber die Zeitbasis ist schon am besten geschützt aus diesem Grund. Gehen wir weiter?”

Obwohl es nur noch eine Treppenwindung war, war Mirash recht aus der Puste, als sie an einem der Eingänge ankamen. Zeitkick wartete, bis as sich erholt hatte. “Wenn du erst etwas gelevelt hast, wird es weniger anstrengend.”, versprach sie. “Und wenn es ganz schlimm ist, haben wir auch Aufzüge.”

Als Mirash wieder ruhiger atmete, fiel sain Blick auf das Schloss. Und verstand, warum Zeitkick mit ihm vor der Tür stehen geblieben war. Es war, nun, ein Zeitschloss, beschloss Mirash. Eine kreisrunde, durchsichtige Scheibe war in Schlossnähe in die Tür eingelassen. Sie erinnerte an eine Wählscheibe eines dieser im Outernet uralten Telefonanlagen, die wiederum in diesem alten Parallel-Fork noch gar nicht erfunden sein mochten, nur glatter. Sie hatte ein längliches Loch oder einen Schlitz, der etwa von der Mitte bis zum linken Rand reichte. An einem Faden in der Mitte hinter der Scheibe hing ein Schlüssel herab. Er konnte nicht vom Loch aus mit den Fingern erreicht werden, höchstens vielleicht mit einem sehr geschickt gebogenen Draht. Mit der Innenseite der Scheibe rechts vom Schlüssel war ein Brett verbunden. Wurde die Scheibe also gedreht, konnte der Schlüssel auf dem Brett dorthin verschoben werden, wo jetzt das Loch war, aber dann wäre das Loch woanders. Mirash nickte.

“Verstanden?”, fragte Zeitkick, das Zeichen deutend.

“Ich glaube, schon.”, antwortete Mirash.

“Willst du es selbst anfassen, oder soll ich auflösen?”, fragte Zeitkick.

Mirash machte einen Schritt rückwärts und eine einladende Geste. As überlegte, vielleicht später irgendwann, wenn niemand zusah, noch einmal herzukommen. Und zu erleben, ob auch ohne Zeitkick an sainer Seite an dieser Tür zu stehen so sicher war. As waren die vier Personen auf den zwei von hier aus sichtbaren Türmen nicht entgangen, die entspannt zu ihnen herunterblickten.

Zeitkick trat vor und ließ Mirash zusehen, als sie das Glas am Loch eine gute Vierteldrehung im Uhrzeigersinn drehte. Der Schlüssel wurde, wie erwartet, auf der Platte mitgeschoben, bis etwas über die Stelle hinaus, an der eben noch das Loch gewesen war. Dann machte Zeitkick mit der anderen Hand ein paar komplexe Gesten, bevor sie die Scheibe wieder zurückdrehte. Der Schlüssel fiel wie in Zeitlupe, sodass Zeitkick ihn aus dem Schlitz entnehmen konnte, als er daran vorbeikam. Die Schnur, an der er hing, war lang genug, dass sie damit das Schloss der Tür erreichen konnte. Sie schloss die Tür auf und steckte den Schlüssel zurück durch den Schlitz, wo er zurückschwang. Die Pendelbewegung wurde von der Platte abgebremst.

Als Mirash Zeitkick durch die Tür folgte, hallte das bewegte Bild des Schlüssels, der in Zeitlupe fiel, in sainem Kopf nach. “Wie sicher ist diese Tür?”

“Es ist ein verhältnismäßig einfacher Zeit-Zauber.”, antwortete Zeitkick. “Es hat mich trotzdem etwa eine volle Woche Spielzeit gekostet, bis ich ihn für den Schlüssel anwenden konnte. Verzwangzigfache die Zeit etwa für Personen, die sich nicht für Zeit als ihr Element entschieden haben.”

Mirash nickte langsam, während as sich die Umgebung ansah. Durch die Tür kamen sie auf eine nicht überdachte Treppe, die in einen Hof führte. “Das ist viel Zeit.”

Aber eigentlich war die Antwort in eine ganz andere Richtung gegangen, als wohin Mirash gedacht hatte. As war nicht so ganz klar, warum as es für sich behielt und nicht darauf hinwies, dass auch erhöhte Luftreibung den Schlüssel zum langsamer Fallen bringen könnte. Vielleicht, weil as sich noch nicht endgültig zwischen Reibung und Zeit entschieden hatte. As lächelte, als ihm klar wurde, dass as sich bereits so schnell auf diese beiden Elemente eingeschränkt hatte. “Ist der Schlüssel aus Metall?”, fragte as stattdessen.

Zeitkick grinste breit und schüttelte den Kopf. “Sehr stabiles Holz. Das sollte für keine der anderen Gruppen manipulierbar sein.” Sie war auf dem Hof, auf den die Treppe führte, angekommen. “Aber es gibt durchaus irgendwelche Tricks, wie Leute sich reinschummeln könnten. Es haben Personen schon mit Draht herumgespielt. Nur, sie sind nicht weit gekommen. Sind dir die Wachen aufgefallen?”

Mirash nickte. Ihr Gespräch wurde davon unterbrochen, dass eine weitere Person über den Hof auf sie zuschritt. Sie trug schlicht schwarze, eng anliegende Kleidung mit einem schwarzen aufgestickten Schnörkelmuster, das glänzte. Mirash lächelte. Das war Stil, den as sich vielleicht in etwa für sich ausgemalt hatte. Bis as Zeitkick getroffen hatte. Spitzenrock mit Hosenträger und Oberhemd gab Mirash schon sehr starke Gender-Euphorie-Vibes.

“Mirash, Holgem.”, stellte Zeitkick sie einander vor. Holgem hatte wie Zeitkick die Pronomen sie, ihr, ihr, sie.

Mirash runzelte die Stirn. “Ist es üblich, Personen für andere vorzustellen und sie nicht selbst die Entscheidung fällen zu lassen?”

“In der Zeitbasis halten wir das eigentlich so.”, antwortete Zeitkick. “Es tut mir leid, ich hatte nicht daran gedacht, dass du noch gar nicht zu Zeit gehörst.”

Noch gar nicht, wiederholte Mirash in Gedanken. “Du scheinst dir einigermaßen sicher zu sein, dass ich mir Zeit aussuchen würde.”

“Zeitkick ist häufig ein bisschen voreilig.”, sagte Holgem mit einem Lächeln auf dem Gesicht und sehr gelassen. Sie strahlte auf Mirash eine überraschende Ruhe aus. “Eigentlich sollte gerade heute keine Person auf unser Gelände, die nicht zur Zeitfraktion gehört. Aber ich schätze, du bist dir sehr sicher, dass Mirash keine Spionage betreibt?”

“Oh.”, machte Zeitkick. “Ich bin heute ein bisschen durch den Wind. Die Vorführung in der Dramaturge ist schlecht verlaufen.”

“Ich verstehe.” Holgem wirkte auf Mirash trotz der strengen Worte ziemlich einfühlsam. Sie wandte sich ihm zu. “Einmal im Monat sichern wir unsere Basis neu ab. In gut einer Stunde geht das los. Bis dahin bist du hier sehr willkommen. Ich führe dich gern im Hof und Eingangsbereich herum und erzähle ein bisschen. Und ab dann, wenn du dich vorher für Zeit entscheiden solltest, aber mach dir keinen Druck.” Holgem zwinkerte mit einem Auge.

Mirash stimmte zu. Sie schritten gemütlich über den Hof um das Deeskalat herum. Es war wirklich das Deeskalat, wie es vor einem guten Jahrhundert ausgesehen haben mochte. Das war beeindruckend. Darum herum war Raum für eine ummauerte Fläche mit Bäumen, etwas Wiese und allerlei Pflastergestein. Die Mauer wurde von vier kleinen Aussichtsplattformen unterbrochen, auf denen jeweils zwei Wachen standen, die Mirash freundlich begrüßten. Auf dem Weg von der zweiten zur dritten Aussichtsplattform erklärte Holgem: “Die Wachenpaare bestehen immer aus Teams aus einer fortgeschrittenen Zeit-Person und einer anfangenden. Wenn nicht viel los ist, können sie dort miteinander trainieren. Wenn Mal wieder Gruppen aus den anderen Fraktionen versuchen, die Zeitbasis zu ärgern, indem sie ein paar Pfeile oder andere Geschosse darauf abschießen, halten die Fortgeschrittenen das Zeitschild aufrecht, und die Anfangenden fegen die Geschosse mit einem Besen herunter, bevor ihre Zeit wieder fortgesetzt wird.”

“Ich habe bisher nur einen Besen gesehen.”, stellte Mirash amüsiert fest. As stellte sich durchaus vorübergehend witzig vor, Pfeile mit dem Besen aus der Luft zu fegen.

“Mangel an Auszubildenden derzeit.”, erklärte Holgem.

“Also würdet ihr euch sehr freuen, wenn ich Zeit wählte?” Mirash grinste breiter.

Aber Holgem antwortete auf ähnliche Art, wie Zeitkick. “Es kommt drauf an.”, sagte sie. “Wir mögen ein eingespieltes Team mit einer guten und stabilen, sozialen Gemeinschaft sein. Wenn du gut zu uns passt und wir zu dir, dann herzlich gern.”

“Macht ihr dann eine Art großes Kennenlernen?”, fragte Mirash. “Habt ihr dazu auch Zeitmagie oder sowas, womit das überhaupt bis in einer Stunde klappen könnte?”

Holgem lachte auf. “Das war als Scherz gemeint vorhin.”, sagte sie, gluckste aber noch ein bisschen, bevor sie fortfuhr, “Du wirkst sympathisch. Und auf den ersten Blick zuverlässig und als würdest du dich an Absprachen halten. Und du sagtest ja auch schon, dass du viel Spielzeit investieren möchtest. Ich würde mir da nicht so viele Sorgen machen. Aber an sich gehört schon dazu, dass du vorher zu einer unserer offeneren Planungssitzungen dazustößt und dich vorstellst, ein paar Fragen beantwortest, und ein bisschen socialiced.”

Mirash runzelte die Stirn und fing gleichzeitig vorsichtig zu grinsen an. Es machte as neugierig, was hier in einer Stunde passieren sollte. Einmal im Monat war auch unter dem Gesichtspunkt, dass as viel Spielen wollte, eine lange Zeit. Mirash rief das Overlay auf, das alle möglichen Einstellungen zum Spiel anzeigte deaktivierte, damit es unauffälliger wäre, die Übertragung der Armbewegungen in die Virtualität mit einer Geste und durchsuchte das Menü. As sah die anderen beiden noch. Sie sahen Mirash mit an den Seiten natürlich hängenden Armen. As fand relativ zügig die Option, sich eines der Elemente auszuwählen. As zögerte nur ein paar Augenblicke, dachte dann einfach ‘für das Chaos’ und wählte ‘Zeit’ aus. As wurde noch einmal daran erinnert, dass die Entscheidung endgültig wäre, und kam nach erneutem Bestätigen in ein Menü, um sich einen neuen Satz Klamotten auszuwählen. Das war logisch, aber Mirash hatte es vergessen. As übernahm nach kurzem Zögern den Vorschlag, die derzeitige Kleidung einfach in Schwarz zu wählen. Erst zu spät sah as, dass das der zunächst einzige Satz Kleidung wäre, den as besitzen würde, as nicht einfach etwas anderes aussuchen könnte, sondern ab nun sich im Spiel um neue Kleidung kümmern müsste.

“Ehem, du möchtest dich in unsere Gruppe hineinschummeln, also.”, sagte Holgem mit gespielt strenger Stimme.

“Dachte ich mir so.” Mirash schloss das Menü und grinste breit. “Was wollt ihr tun?”

“Nun ja, ich denke, dich in unsere Basis einführen.”, meinte Holgem. Sie wirkte, fand Mirash, nicht ganz so gelassen, wie as es sich vorgestellt hätte. “Für dich gibt es kein Zurück. Für uns ist natürlich die beste Option, zu versuchen, zusammenzuhalten.”

Das klang durchaus logisch. Mirash spürte trotzdem dieses leichte und durchaus erwartete Unbehagen im Bauch, als wäre as über irgendwelche Grenzen gegangen. Aber auf der anderen Seite, soweit Mirash das Spiel verstanden hatte, durften eben eigentlich alle Spielenden sich für jedes Element entscheiden. Wenn die Zeit-Fraktion das nicht zulassen wollte, dann war das vielleicht auch einfach deren Problem. Oder nicht?

“Ich jedenfalls freue mich!” Zeitkick wirkte auch so. Definitiv. “Dann können wir miteinander Bogenschießen lernen. Wenn du magst, werde ich dich sowas von ausbilden in allem möglichen!”

Mirash nickte und lupfte dabei den Hut. “Mit Vergnügen.”


Holgem leitete die Führung weiter. Aber so richtig glücklich wirkte sie eine ganze Weile nicht.

Im Innenhof vor dem Deeskalat spawnten mehr Personen von der Zeitfraktion. Zeitkick stellte sie nun wieder einander vor. As wurde als neues Mitglied vorgestellt. Es wunderten sich ein paar, dass sie noch nichts von Mirash mitbekommen hatten. Und wie bei Mirash nicht unüblich, löste das Reaktionsverhalten darauf, dass as etwas gegen ein Prinzip tat, Trotz in ihm aus, und das wiederum das Selbstbewusstsein, gegen die Reaktionen anzustehen. Mirash war da vielleicht ungewöhnlich. As verstand auch, warum viele so etwas verunsicherte. Und es gab in mehr oder regelmäßigen Abständen immer wieder Momente, in denen as sich durch und durch in Frage stellte, mit sich selbst und dem ganzen gegen irgendwas anstehen nicht zurecht kam. Weil es ja teils auch aus Prinzip war, wie, ein Spiel ohne Anleitung kennen lernen. Musste as das tun? Vielleicht hatte es einen gewissen Aspekt Selbstverletzenden Verhaltens, dass Mirash sich regelmäßig in solche Situationen begab, bewusst Unbehagen bei anderen gegen sich auszulösen, indem as etwas gegen eine unausgesprochene Regel tat.

Schließlich zogen sie in den Eingangsbereich des Deeskalats um, wo weitere Personen spawnten und ein paar schon warteten. Mirash erklärte vielen Personen einzeln, wie as an Spiele heranging. Es wurde verschieden aufgefasst. Sie waren vielleicht 20 Leute, als keine neuen mehr hinzustießen. Mirash versuchte, sich an den Rand der Gruppe zu wuseln, in eine dunklere Nische nahe eines Treppenhauses, und fand dort Zeitkick.

“Du hast echt Schneid.”, murmelte sie ihm zu.

Mirash blickte sie skeptisch an.

“Ich meine, wirklich. Und ich meine das nicht böse oder sowas.”, fügte Zeitkick hinzu. Und dann nachdenklich: “Hm, okay, vielleicht hat es dich nicht so viel Mut gekostet, wie es mich gekostet hätte, weil du nicht weißt, dass du dich gerade vor der zweitmächtigsten Person im Spiel gegen den üblichen Weg entschieden hast.”

“Holgem ist zweirmächtigste Person im ganzen Spiel?”, fragte Mirash. Mit einem belustigten Gefühl, das as versuchte zu unterdrücken. Die Gedanken, die as dabei hatte waren: ‘Umso besser, wenn so eine Geste tun, dann richtig!’ und ‘Ja, es ist vielleicht klar, dass die mächtigsten Spielenden wohl zur Zeit-Fraktion gehören, aber lässt sich das wirklich so ranken?’

“Ja, ist sie.” Zeitkicks vermittelte Emotionen lagen irgendwo zwischen Bewunderung und Unbehagen.

“Und wer ist mächtigste Person?” Mirash grinste innerlich, als as auffiel, dass das vielleicht Mirashs erste gedankliche Reaktion hätte sein sollen.

“Flederschatten.” Zeitkick klang dieses Mal vergleichsweise unemotional.

“Gehört Flederschatten auch zu Zeit?”, fragte Mirash.

“Flederschatten ist abtrünnig.”, fasste Zeitkick zusammen. “Also, ja, Flederschatten hat Zeit gewählt, kämpft aber trotzdem gegen uns.”

“Warum?”, fragte Mirash.

“Gute Frage. So richtig weiß das niemand.” Zeitkick zog sich noch weiter aus der Menge zurück. “Flederschatten gehört quasi zum Spiel-Inventar, war schon immer da. Vielleicht ist Flederschatten noch von so einer Art alten Schule. Oder Flederschatten will noch mächtiger werden. Dieser Charakter ist so maßlos overpowered und reich. Das ist die einzige Person im Spiel, vor der die Zeitfraktion wirklich Angst hat.”

“Hm.”, machte Mirash. As folgte Zeitkick weiter von der Menge weg und lehnte sich neben sie an eine Wand. “Wenn ihr vor keiner anderen Fraktion Angst habt, was sagt das über euch aus?”

“Du verstehst nicht.”, widersprach Zeitkick. “Natürlich können uns die anderen Faktionen was anhaben. Also, schon, zugegeben, wir sind die stärkste Gruppe. Aber die anderen hätten problemlos das Potenzial eine Gefahr für uns darzustellen, wenn sie Struktur in ihre Fraktionen bringen würden. Gezielteres Training, durchdachte Angriffspläne, fokussiertere Ausbildung, sowas. Ihnen ist das nicht so wichtig. Vielleicht, weil wir auch so für die anderen wiederum eine ähnlich kleine Gefahr darstellen, weil wir uns nicht darauf konzentrieren, sie fertig zu machen, selbst, wenn wir könnten, sondern fair zu spielen. Es geht ja in diesem Spiel eigentlich darum, gegen die anderen Fraktionen zu kämpfen, und wir sind halt noch sehr freundlich dafür, was wir könnten.” Zeitkick machte eine kurze Redepause. Sie wirkte nicht so komfortabel in der Nähe einer großen Gruppe von Leuten, und Mirash konnte das gut nachvollziehen. “Flederschatten hat mehr chaotic Villain-Charakter. Flederschatten arbeitet aus eigennützigem Antrieb und möchte gezielt uns fertig machen. Wir wissen nicht wie sehr, oder was Flederschattens Ziel dabei ist. Wir wissen nur, dass wir hier in der Basis sicher sind, aber außerhalb droht uns immer die Gefahr, dass diese Person wieder einen erfolgreichen Angriff auf uns fährt. Und wir wissen, dass sie irgendetwas plant.”

“Gruselig.”, murmelte Mirash bloß. Und genoss das Gruseln. Flederschatten war auch ein schöner Name für so einen Charakter.

Zeitkick wirkte unruhig. Ihr Blick ruhte nicht auf Mirash sondern wanderte durch die Menge. Und schließlich, als diese gerade peak-laut war, murmelte sie Mirash zu: “Komm mit.”

Mirash folgte Zeitkick ohne zu zögern zwei Stockwerke tiefer in einen geräumigen Flur. Zeitkick ging sehr leise und Mirash passte sich in Tempo und Schleichstil an. Neben einer zugeschweißten Tür hielten sie inne. Hier lehnte sich Zeitkick wieder an die Wand.

“Du hast doch Zeit auch so fix ausgesucht, weil du wissen wolltest, was wir vorhaben, richtig?”, mutmaßte Zeitkick.

Mirash nickte. Was für eine Tür. Sie war aus starkem Metall, eingesetzt in einen ebenso starken, im Gemäuer verankerten Metallrahmen, aber es hielten sie nicht Angeln oder Schlösser, sondern sie war damit mit einer breiten, wulstigen Schweißnaht fest verbunden.

“Ich weiß nicht, ob sie dir das gezeigt hätten, weil du so frisch dabei bist. Aber ich mag dich und ich bewundere dich irgendwie. Ich wollte es dir zeigen.”, sagte Zeitkick leise. “Ich habe ein bisschen Angst vor Ärger.”

Mirash wandte den Blick von der Tür ab und Zeitkick zu. “Angst?”

“Kannst du dir vielleicht nicht vorstellen, so furchtlos, wie du bist.” Zeitkick wirkte frustriert und vielleicht ein bisschen angepisst.

“Es tut mir leid, ich wollte nicht sagen, dass es was Schlimmes wäre, dass du Angst hast. Und ich kenne Angst durchaus, so ist das nicht.”, sagte Mirash leise. “Okay, ich habe tatsächlich weniger und seltener Angst, als die meisten. Ich fand eher spontan schlimm, dass es einen Grund gibt, also, dass du vor etwas Angst haben musst. Dass so eine Sache wie, du zeigst mir in einem Spiel etwas, Angst vor deiner eigenen Gruppe auslöst.”

“So passiert bei sozialen Dingen nun mal.”, verteidigte sich Zeitkick. “Ich habe halt immer Angst, nicht zu gefallen. Nicht dazu zu gehören. Nicht gemocht zu werden. Nicht gut genug zu sein.”

Mirash spürte den Drang, Zeitkick sofort zu sagen, dass as sie mochte, oder sie in den Arm zu nehmen. Aber irgendetwas in ihm rief zu Vorsicht auf. Eine Art unscharfer Erinnerung. Egal, Zeitkick brauchte gerade Rückversicherung. Und Mirash fühlte tatsächlich Sympathie. “Ich mag dich bisher.”

Zeitkick lächelte milde. “Ich dich auch.”, sagte sie. “Aber das wird gegen jahrelange Anxiety halt nicht mal eben helfen.”

Mirash nickte. “Ich weiß. Es tut mir leid.”

“Zurück zur Tür!”, wechselte Zeitkick das Thema. “Wir schweißen sie einmal im Monat auf, halten sie eine halbe Stunde offen, schwer bewacht – deshalb sind gerade so viele von uns da –, und schweißen sie wieder zu. Verstehst du warum?”

Mirash hatte sich bereits Gedanken gemacht, während sie sich über anderes unterhalten hatten. “Ihr reist in der Zeit zurück, wo sie offen war, tretet hindurch und reist dann wieder vor?”

“Fast.” Zeitkick grinste und schüttelte den Kopf. “Personen können in der Zeit nicht zurückreisen. Das geht nicht, weil, nunja Spieltechnik. Dann hätte dich ja, wenn du zeitreist, eventuell eine andere Person in ihrer Vergangenheit im Nachhinein gesehen haben müssen, oder das, was du geändert hast hätte wahrgenommen worden sein müssen, und das kann das Spiel nicht korrigieren.”

“Das Spiel könnte zusehen, dass zurückreisende Leute nicht gesehen werden, und dass sie bei Veränderung wieder aufräumen müssen.”, überlegte Mirash, aber überzeugte sich selbst nicht. “Hm. Das hätte sehr eingeschränkte Anwendungsfälle.”

Zeitkick freute sich vor sich hin. Mirash mutmaßte, dass sie sehr gern lehrte. “Wir reisen jedenfalls die Tür zurück.”, sagte sie. “Das ist ein sehr mächtiger Zeitzauber, den ich selbst nicht beherrsche. Ich bin also auf andere angewiesen, wenn ich reinwill.”

“Wird der Zauber noch mächtiger, je weiter sie gereist werden muss?”, fragte Mirash.

“Ja.” Zeitkick grinste. “Dinge in die Vergangenheit reisen kostet mehr, je größer der Gegenstand oder Ausschnitt eines Gegenstands ist und je weiter in die Vergangenheit er gereist wird. Daher wird sie einmal im Monat neu eingeschweißt.”

Sie beendeten ihr Gespräch, als sich andere aus der Zeitfraktion mit den Utensilien fürs Schweißen näherten. Mirash erkannte sehr wohl in den Gesichtern, dass manche nicht so glücklich darüber waren, dass sie hier standen.