Bildbeschreibung:

Eine Schnürung auf der Rückseite eines Kleides, Typ Gothic.

Content Notes:

Erschießen, Brandverletzungen, Blutsaugen.


Brennen

Kendra, Paolo und Luna

In Kendras kleinem Zimmer mit den hellblau gestrichenen Möbeln mit Muster. Draußen ist es feucht und kalt und dunkel. Das Deckenlicht leuchtet. Luna wünscht sich eine Kerze. “Ich habe richtig verstanden, Kendra”, sagt sie. “Du würdest eigentlich gern woanders wohnen, wo deine Mutter auch Platz hat, richtig?”

Kendra nickt. “Sie würde dann, sobald wie möglich, nachziehen.”

“Wollt ihr mich einfach ignorieren?”, fragt Paolo. Er steht mit dem albernen Gewehr in der Hand vor der Zimmertür im Zimmer.

“Ganz und gar nicht”, entgegnet Luna. Sie versucht einen freundlich reservierten Ton. “Kendra, was hältst du davon, wenn ich dich morgen nach der Schule abhole, dich mit zu einem alten Herzwesen von mir nehme und frage, ob jenes noch Platz hat und ob wir uns alle verstehen?”

Kendra hebt die Brauen und nickt vorsichtig. “Können wir machen. Ich käme mir dabei sicher merkwürdig vor, eine fremde Person zu fragen, ob sie Platz für mich hat, aber wenn du sie kennst, und als meine Assistenz die Kommunikation übernimmst, klingt das interessant.” Seit Luna in ihrem Leben aufgetaucht ist, was gar nicht so lange her ist, wirkt es auf Kendra, als hätte es die Bahnen des Üblichen verlassen. Alles ist neu, alles ist aufregend und abgefahren. Sie mag das.

Luna wendet sich wieder Paolo zu. “Ich denke, wenn du hier drinnen schießt, ruft das Leute auf den Plan, mit denen zu dealen dann stressig ist. Außerdem könnten Dinge zu Bruch gehen. Mein Vorschlag ist, ich bringe dich zur Bank, wo du eh hinwolltest, und bevor ich mich in den Wald verabschiede, darfst du mich ausnahmsweise einmal durchschießen.”

Paolo lässt endlich das Gewehr sinken und nickt. Luna will tatsächlich sterben, realisiert er. Sie weiß nur nicht wie. Und Kendra möchte ihr helfen. Paolo sollte sich definitiv doch mit Kendra anfreunden. “Möchtest du mitkommen?”, richtet er sich an Kendra.

Kendra schüttelt den Kopf. “Ich bin erschöpft, ich ruhe mich aus.” Sie geht fest davon aus, dass Luna eine Holzpatrone oder auch mehrere überleben wird. Der Anblick hört sich nicht lohnend an. Sie wird vermutlich bald spannendere Dinge ausprobieren dürfen.


Es ist genau das Szenario, vor dem Horrorfilme quasi warnen: Das Vampir sieht harmlos aus, noch. Ein Gesicht, das zugleich kindlich und alt wirkt. Es vermittelt Vertrauen. Und dann, irgendwann unvermittelt auf dem Weg, stellt sich Paolo vor, wird Luna ihn in den Wald zerren, sich in ein Monster verwandeln und ihn ermorden.

Es ist nicht so wahrscheinlich, sonst würde Paolo sich darauf nicht einlassen, mit dem Vampir bei Nacht einen einsamen Weg zu einer Bank an einer Klippe zu spazieren. Es wird nicht diese Nacht passieren. Sie wird ihn erst in Sicherheit wiegen. Und wenn das passiert, muss er im richtigen Moment schneller sein. Für den Fall, dass sie doch nicht sterben will.

Es fühlt sich alles so falsch an. Es fühlt sich zu gefährlich an, neben einer schweigsamen Mörderin diesen Pfad zu gehen. Auf der anderen Seite hat er sich auf so etwas ohnehin eingelassen. Es ist nicht gefährlicher, als Nacht für Nacht auf der Bank zu sitzen und zu beobachten. Nun wird er also das erste Mal sehen, wie sie in den Wald verschwindet.

Als sie die Bank erreichen, ist der Ort nicht verlassen. Sonja sitzt dort und schaut in die Ferne. Kopfhörer auf den Ohren und zur Musik wippend, sonst hätte sie sie vielleicht kommen gehört.

“Sonja”, sagt Luna leise.

Sie kennen sich also. Nun, dass Luna ein Wunderwesen nicht entgangen ist, damit hätte Paolo rechnen können.

“Lässt du dich nun erschießen, oder nicht?”, fragt Paolo. Er fühlt sich eigentlich unsicher, aber es kommt irgendwie streng heraus.

“Durchs Herz möchtest du, nehme ich an?”, fragt Luna trocken.

Paolo runzelt die Stirn und nickt.

“Wenn du kein Problem damit hast, mich gegebenenfalls zu ermorden, nehme ich an, dass du auch kein Problem damit hast, wenn ich mich oben herum frei mache?”, fragt Luna.

Paolo runzelt die Stirn noch mehr. “Du willst nackt sterben?”

“Ich werde überhaupt nicht sterben”, korrigiert Luna. “Aber ich habe um die letzte Jahrhundertwende herum schon allzu viele Löcher in meiner Kleidung stopfen müssen.” Luna zuckt mit den Schultern.

Paolo sagt nichts weiter dazu, als sie das schulterlange Haar anhebt und ihm den Rücken zuwendet. Es ist klar, was sie will. Paolo öffnet die Schnürung. Lunas Haut ist kalt und fühlt sich papierern und gleichzeitig irgendwie zart an. Paolo versucht, die Erotik der Situation zu verdrängen. Als er erst halb fertig ist, zieht Luna den schwarzen Stoff mit der vielen Spitze daran ihren Oberkörper herab, sodass sie quasi nur noch einen Rock mit Gebamsel trägt, – und einen Spitzen-BH. Den öffnet sie selbst.

Dann, durch eine Bewegung, die Paolo nur als Rascheln und Windzug wahrnimmt, steht Luna auf einmal im Wald zwischen den ersten Bäumen.

“Das war so nicht abgemacht!”, ruft er zu ihr.

Luna zuckt gelangweilt mit den Schultern. “Ich kann mich nicht erinnern, dir mehr zugesagt zu haben, als dass ich dich hierher bringe und dass du mich durchschießen darfst. Und ich halte letzteres für ein sehr krasses Zugeständnis.”

Das ist der Moment, in dem Sonja realisiert, dass sie nicht allein ist. Vielleicht sind sie laut genug gewesen. Sonja nimmt die Kopfhörer ab, legt sie auf die Bank neben sich und starrt Luna an. Luna grinst mit leicht zusammengekniffenen Augen.

Paolo legt an, bevor sie ganz verschwinden kann und schießt. Holz splittert von einer Birke neben Luna ab. Ein Schwarm schwarzer Krähen flattert aus Geäst in die dünn verregnete Luft.

“Komm näher, wenn du treffen willst”, empfielt Luna.

“Damit du mich ermorden darfst, weil ich deinem Wald zu nah bin?” Paolo weiß doch genau, was sie will, aber dennoch nähert er sich ein paar Schritte. Er hat seine Zielfähigkeiten überschätzt.

“Bis vorm Waldrand bist du sicher”, ermutigt Luna. “Und immerhin hat das mehr Erfolgschancen, als ich vermutet hätte, dass du mich überhaupt durchbohrt bekommst. Ist es ein Betäubungsgewehr?”

Paolo nickt und nähert sich der halbnackten Gestalt langsam weiter. Er hat im Vorfeld herausgefunden, dass Holzpatronen in normalen Gewehren zu weich sind und dabei zerreißen. Er hat geübt, aber er hat nur nahe Testziele durchschossen. Er nähert sich zögerlicher. Ein Teil von ihm hofft, dass Sonja ihm sagen wird, wann es genug ist. Wann es gefährlich würde. Aber Sonja tut nichts dergleichen.

Als Paolo glaubt, dass er nun wirklich treffen müsste, zielt er gründlicher und schießt erneut. Der Knall echot aus dem Wald, wieder flattern Vögel erschreckt auf.

Luna strauchelt dieses mal, macht ein kurzes unwillkührliches Schmerzensgeräusch, als hätte sie sich mit einer Nadel in den Finger gepiekst. Die Kugel hat sie tatsächlich in Herzgegend durchbohrt, aber Luna heilt so rasch dagegen an, dass Paolo klar wird, dass Holzpatronen nicht der Weg sind. Er hat es schon eine Weile angezweifelt, aber ein Teil von ihm hat es doch gehofft.

“Hast du genug? Darf ich mich wieder anziehen?”, fragt Luna, als wäre nichts gewesen.

Paolo nickt resigniert. “Klar. Ich habe ohnehin keine Patronen mehr.” Er ärgert sich über sich selbst. Was für ein Spruch. Er hat nicht das Gefühl, sich heldenwürdig zu verhalten. Er hat einfach nichts mit irgendwelchen Held*innen in Fantasy-Büchern gemein. Nicht souverän, nicht fertig durchgeplant, nichts klappt sofort. Aber so ist die Realität.

Luna zieht den BH wieder an. Sie bleibt dabei, wo sie ist. Sonja ist aufgestanden und neben Paolo getreten. Eine Spannung entsteht, die er nicht so recht einordnen kann. Warum rennt Luna nicht weg? Warum ist Sonja so nervös?

Luna steckt die Arme wieder durch die Ärmel und dreht sich um, sodass sie ihren Rücken sehen können. Sie fängt an, hinter dem Rücken zu schnüren. “Sonja!”, sagt sie.

“Hm hm?”, macht Sonja.

“Willst du es wagen?” Etwas Dunkles hat sich in Lunas Stimme geschlichen.

Sonja zögert. Aber dann spaziert sie in den Wald hinein zu Luna und befasst sich mit der Schnürung.

“Nein! Nicht!”, schreit Paolo. Aber er kann nichts tun. Er überlegt, in den Wald zu laufen, um Sonja zu retten. Sonja ist fragil. Zumindest wirkt sie sehr zart. Ihr Griff in der Schnürung ist allerdings alles andere als zart. Vielleicht plant sie etwas. Luna ein Gift zu verabreichen oder im letzten Moment irgendwie zu töten.

Aber als die Schnürung festgezurrt ist und sie flink den Wald verlassen will, hat Luna auf einmal ihr Handgelenk fest im Griff und versenkt die Zähne in Sonjas Unterarm. Sonja gibt ein ähnlich schmerzhaft zartes Geräusch von sich, wie Luna vorhin, als er sie durchschossen hat. Sie wehrt sich, aber irgendwie nur halbherzig.

Luna wird sie austrinken. Aber in dem Moment, in dem Paolo doch beschließt, Sonja zu helfen zu versuchen, lässt Luna von ihr ab. Sie leckt über die Bisswunde, schubst Sonja aus dem Wald und verschwindet selbst in seinen dunklen, nebligen Tiefen, übernatürlich schnell.

Sonja taumelt aus dem Wald und setzt sich ermattet zurück auf die Bank. Sie betrachtet ihren blutigen Unterarm und Paolo beobachtet, wie sich auch hier die Wunden schließen. Ob das Lunas Magie ist? Dass auch Wunden, die sie zufügt, rasch heilen?

Er setzt sich neben Sonja. “Was war das?”, fragt er. “Was bedeutet es?”

“Eine alte Fehde zwischen uns”, sagt Sonja. “Ich wusste, dass sie mich nicht töten wird.”

“Ist dein Blut schlecht für sie, weil es sozusagen rein ist?”, fragt Paolo. “Das Blut eines Wunderwesens, meine ich?”

Sonja blickt auf und lächelt. Sie hält immer viel von Paolos Ideen. Und normalerweise mag Paolo das. Er fühlt sich dadurch ernst genommen, und als hätte er tatsächlich ein Verständnis der Dinge. Aber gerade zweifelt er. Kendra wegen.

“Vielleicht”, antwortet Sonja.

“Weißt du, wie man Luna töten kann?”, fragt Paolo.

“Oh, du kennst sie jetzt mit Namen!”, stellt Sonja fest.

Paolo berichtet von den jüngsten Ereignissen, von all seinen Zweifeln an sich selber, und Sonja hört gebannt zu. Sie mag es, ihm zuzuhören. Sie hat wirklich Zeit für ihn und driftet nie in eigene Gedanken ab.

“Es gibt ein Instrument, das heißt ‘Mondklinge’. Es ist wahrscheinlich in Lunas Hütte im Wald gelagert. Es ist das einzige Instrument, das Luna töten kann”, berichtet Sonja. “Wir müssen irgendwie daran kommen. Und ich glaube, da ist der Aspekt, dass Luna jetzt den Wald des öfteren verlässt, etwas, was uns sehr in die Hände spielt.”


Fahles Sonnenlicht fällt durch die Wolkendecke zwischen den Eichenwipfeln hindurch auf den Vorplatz vor dem Schulgebäude. Ein Ziegelsteinbau. Alle paar Steinreihen ist eine Steinreihe grün lackiert und glänzt. Es nieselt.

Endlich gongt es, wieder, endlich ist unter den wenigen Schüler*innen, die die Schule verlassen, auch Kendra dabei. Sie ist langsamer als die meisten anderen. Paolos Gesichtsausdruck, als er Luna sieht, weiß nicht, in was er sich verziehen soll. Armer, verwirrter Paolo, denkt Luna, aber verschwendet weiter keinen Gedanken an ihn, als er davongeht.

Kendra kommt in Begleitung von Marcin. Marcin hat immer die zärtesten und sanftmütigsten Gesichtsausdrücke, findet Luna. Sie nickt ihm zu, er nickt zurück. Altvertraut. Aber es ist doch eine etwas neue Situation, weil sie dieses Mal nicht unter sich sind.

“Wäre es in irgendeiner Weise störend, wenn ich mitkäme? Oder wäre ich willkommen?”, fragt er. “Ich fühle mich nicht unhöflich weggeschickt, seid bitte ehrlich.”

Luna lächelt. Er ist stets so sehr darauf bedacht, dass sich alle in seiner Gegenwart wohl und sicher fühlen. “Du und deine Ungeheuer sind mehr als willkommen”, versichert sie. Dann richtet sie sich an Kendra. “Ich stehe hier seit einer Stunde mit dem Schirm in der Sonne, weil ich verpeilt habe, dass du noch Magie-Unterricht hast. Das fängt ja gut an mit meiner Assistenzfähigkeit.”

“Hast du Selbstzweifel?”, neckt Kendra.

“Ja, habe ich!” Als dürfe eine Person ab einem Alter von 200 oder so keine Selbstzweifel mehr haben. “Ich meine, als Mörderin hätte ich mir ohnehin schlechtere Karten bei meiner Bewerbung um den Posten ausgerechnet.”

“Sagen wir, du hast keine Konkurrenz.”, sagt Kendra. “Beziehungsweise, es gibt Leute, die den Job machen, aber damit die bezahlt werden, muss ich gefühlt durch die Hölle.”

“Eine größere, als mit einer Mörderin zusammenzuziehen wohl.” Luna grinst.

“Definitiv!” Kendras Blick wandert zum schwarzen Spitzensonnenschirm. Er schützt auch vor dem Nieselregen, aber vorwiegend vorm Tageslicht. “Verbrennst du in der Sonne?”

Luna schnaubt. “Davon gehe ich aus.”

“Ich denke, du bist unsterblich.” Kendra runzelt die Stirn.

“Nun, also, ich gehe schon davon aus, dass ich sowas in der Art wie tot wäre, wenn man mich in diese Fusionsdingsanlage, die die Sonne darstellt, mitten hineinyeeten würde”, hält Luna fest. “Das ist aber schwer hinzukriegen.” Luna holt tief Atem. “Im Sonnenlicht hingegen passiert dies.” Sie zieht einen Spitzenhandschuh aus, etwas ungalant, weil sie den Sonnenschirm dabei festhält, und hält die Finger unter dem Schirm hervor. Sie werfen zügig Blasen und fangen an zu brennen. “Sieht hübsch aus, nicht?”

Kendra nickt. “Eine gewisse Ästhetik kann ich keinesfalls abstreiten.” Sie sieht genauer hin. “Du heilst dagegen an?”

“Tatsächlich gehe ich bei Tageslicht zwar in Flammen auf, aber es ist in erster Linie schön. Im Sinne von ästhetisch, nicht in Sinne von ‘fühlt sich gut an.’”, hält Luna fest. “Es ist nicht unbedingt besonders angenehm, aber alles an mir regeneriert gegen das Feuer an, sodass ich lediglich als Fackel rumlaufe und vor allem alle anderen gefährde. Daher der Sonnenschirm.”

Marcin kichert. Als Luna und Kendra ihm den Blick zuwenden, erklärt er: “So unpraktisch. Ich dachte gerade, wenn es nachts zu dunkel ist, hast du direkt Licht dabei, aber nachts funktioniert das ja nicht.”

“Ja, finde ich auch”, sagt Luna. “Gerade auch, was die Schönheit betrifft. Feuer hat nachts so viel hübscheren Kontrast. Wollen wir?”