Bildbeschreibung:

Eine angeschnittene Quiche.

Content Notes:

Androhung von Folter/Mord, Gespräch über Lebensmüdigkeit.


Die Verschiedenheit der Weltrettungspläne

Die Horstenfels-WG

Eine Woche (fast, eigentlich nur sechs Tage) später in der Villa von Léonide von Horstenfels. Aus der Küche kriecht der Geruch von Quiche in alle Nischen des Hauses und bis in den Garten. Marcin bereitet sie zu. Er macht es nicht so gut wie Paolo, muss er dabei viel denken. Dabei hängt er in einem Video-Call mit Paolo, zeigt ihm alles und lässt sich alles erklären. Der Boden mit dem Gemüse backt bereits im Ofen, während Marcin in der Pampe rührt, die darüber gegossen werden soll, als Paolo sich verabschiedet.

“Ich muss gleich los”, sagt er. “Es war schön, mit dir zu reden. Irgendwie ganz anders als sonst.”

Marcin nickt. “Ich vermisse dich, aber ich glaube, die Trennung tut uns ganz gut. Vor allem mir eigentlich. Wie geht es dir inzwischen damit?”

“Ich vermisse dich auch ganz furchtbar!”, sagt Paolo, aber mit einem Lächeln quer übers Gesicht. “Ich kann nicht behaupten, dass ich die Trennung einfach wegstecke. Ich vermisse auch physische Nähe zu dir. Aber ich glaube auch, dass es ganz gut ist, dass ich die gerade gar nicht habe.” Er seufzt. “Ich will dich nicht bedrängen.”

“Ich mag gern mit dir kuscheln, wenn du wieder da bist und das dann noch möchtest. Und wenn dir kuscheln reicht”, erwidert Marcin.

Paolo reagiert einen Moment überhaupt nicht. Dann piepst irgendetwas schrill durchs Telefon. Paolo drückt darauf herum, bis es aufhört. “Das war der Wecker. Ich muss los!”, sagt er eilig. “Aber, ja, doch, wenn wir das beide dann noch mögen, würde ich sehr gern.” In seine Stimme hat sich ein zartes, vielleicht glückliches Weinen geschlichen. “Grüß die anderen alle, ja? Alle!”

Bevor Marcin etwas erwidern kann, ist der Anruf beendet. Also auch Luna, denkt Marcin. Wirklich? Aber Paolo hat betont, Marcin möge alle grüßen und er weiß ganz genau, dass Luna dabei ist. Na gut.


Luna befindet sich mit Kendra im Garten. Die Sonne scheint. Der Feuerlöscher steht bereit. Nicht, um Luna zu löschen, sondern die Dinge, die Lunas entflammender Körper aus Versehen anzünden könnte.

Luna ist, bis auf einen Arm, vollständig mit einer Decke bedeckt. Auf jenen Arm hat Kendra Markierungen gemacht und zwischen jene verschiedene selbst gemixte Cremes gerieben, die gegen UV-Licht schützen sollten.

Das Problem ist, dass das Experiment nicht einfach sofort ein hilfreiches Ergebnis liefert. Die Creme-Mischungen, die gar nichts taugen, haben sie bereits ausgeschlossen. Unter den jetzigen gibt es welche, die nur eine kurze Zeit gegen Entflammen helfen, bis sie eingesogen sind. Oder die nach der zweiten Schicht, nachdem die erste eingesogen ist, viel länger halten, aber eben auch nicht unbedingt dauerhaft.

Kendra macht Notizen dabei. Luna versucht, sich zu entspannen. Sie mag die Sensorik von Creme nicht und vor allem den Geruch von Creme nicht, aber es ist schon besser, dass sie nicht in Flammen ausbrechen wird, wenn sie heute mit den anderen gemeinsam am Tisch sitzen wird.

Léonide sitzt draußen mit am Tisch und puzzlet. As trägt einen Strohhut gegen die Sonne. Über Søregen herrscht seit ein paar Tagen ein Hochdruckgebiet, das sich verirrt haben muss. Es war in Léonides Erinnerung auf dieser Insel noch nie so lange am Stück sonnig. As hat eigentlich eine Cappy, aber Luna hat iem gestern einen Strohhut mitgebracht, einen ziemlich ehrwürdigen irgendwie, den sie wohl von anno dazumal in ihrer Sammlung gehabt hat.

As gibt auf, das Puzzleteil zu finden, das as gerade sucht, weil es an der Zeit ist. “Bleibst du da sitzen? Kann ich mir deinen Stock für 10 Minuten leihen?”

Kendra nickt. “Er ist dir vielleicht zu kurz.”

Léonide nimmt ihn und drückt sich daran hoch. As nickt. “Stimmt.” Aber as nimmt ihn trotzdem mit. Er hilft iem bei der einen Stufe von der Terrasse in die Essnische hinauf. Halber Weg in die Küche geschafft. Heute fällt iem alles schwer. “Marcin?”

“Gleich!”, ruft Marcin. Er überlegt, die Form noch zu Ende aus dem Ofen zu nehmen, aber das sind zu viele Schritte. Es wird sicher nicht schlimm sein, wenn sie da zwei Minuten zu lange drin ist, also klappt er den Ofen wieder zu und kommt Léonide entgegen.

“Hast du die Zeit im Blick? Der Bus kommt bald”, ermahnt Léonide.

Marcin blickt auf die Kuckkucksuhr und wird hibbelig. “Kann jemand von euch die Quiche dann aus dem Ofen nehmen?”

Léonide nickt. “Wenn Luna bis dahin nicht präpariert ist und die Sache übernehmen kann, werde ich es schon hinkriegen. Du bringst mir dann am besten einen Wecker nach draußen, bevor du gehst.”


Phillipp steigt zitternd am Busbahnhof im Dorf aus. Was für eine Fahrt. Sie wartet, bis sich die Menge um sie herum aufgelöst hat (die eigentlich nur aus vier Leuten bestanden hat) und außer ihr nur noch eine Person am Bahnsteig steht. Phillipp winkt vorsichtig. Sprechen kann sie gerade nicht.

“Phillipp? Kendras Mutter?”, fragt Marcin.

Phillipp nickt bloß. Sie schaltet die Noice Cancelling Kopfhörer aus, setzt sie ab und verstaut sie in ihrem Rucksack. Es ist viel Gerödel, aber es ist auch gut, dass das jetzt dran ist, weil es ihr Zeit gibt, mit dem Ankommen klarzukommen. Mit der fremden Person.

Es war abgesprochen, dass Marcin sie abholt. Sie haben vorher über Signal kommuniziert. Marcin weiß, dass Phillipp oft nicht sprechen kann, wenn sie frisch an Bahnhöfen ankommt.

“Soll ich den Rucksack tragen?”, fragt Marcin.

Aber Phillipp schüttelt den Kopf und tut es selbst.

“Sollen wir losgehen?”, fragt Marcin als nächstes.


Später draußen am Tisch mit einer Tasse schwarzen Tees in der Hand fängt Phillipp an, sich zu entspannen. Das einzige, was stört, ist der Geruch nach Sonnencreme. Aber der wird auch schwächer werden. Luna sitzt ihr Gegenüber in einem schwarzen Kleid, Typ gothic, mit Ärmeln und Spitzenhandschuhen. Sie sitzt unter einem schwarzen Sonnenschirm. Sie hat, wie Kendra Phillipp am Telefon erzählt hat, tatsächlich schwarzes Haar, das nicht in der Sonne glänzt, als hätte es einen dieser fast komplett absorbierenden Schwarztöne oder als hätte das Haar eine nicht so haartypische Beschaffenheit. Luna ist erheblich weniger dünn, als Phillipp sie sich ausgemalt hat, und sie schämt sich ein wenig für ihr stereotypes Bild einer eher schmalen Gestalt, das sie mit Vampiren verknüpft hat. Sie kann sich nur schwer davon abhalten, ihren Blick immer wieder auf Luna zu richten, aber diese scheint das nicht zu stören.

Als der Wecker piepst, erschreckt Phillipp sich. Marcin steht auf und holt die Quiche aus dem Ofen. Sie riecht sehr gut und überdeckt den Sonnencremegeruch.

“Es tut mir leid, dass ich so lange brauche, bis ich mich woanders zurechtfinde”, entschuldigt Phillipp sich, als die Teller verteilt sind.

Alle versichern ihr, dass das doch gar kein Problem wäre. Aber sie hätte gern am Gespräch zuvor teilgehabt. Marcin hat von seinem Ex-Freund erzählt, der nun in einem Camp zur Aufarbeitung psychischer Probleme ist.

“Du deckst einen Teller zu viel”, richtet sich Léonide an Luna.

Lunas Gesichtsausdruck wirkt irgendwie vielsagend, sagt Phillipp aber natürlich überhaupt nichts. Luna legt unbeirrt Besteck zum sechsten Teller. Die Türglocke bimmelt.

“Wenn du Sonja eingeladen hast…”, leitet Léonide ein, Wut oder Bedrohlichkeit in der Stimme.

Aber Luna schüttelt den Kopf. “Angela.”

Léonide wirkt erleichtert, einen Moment fast sanft. “Okay, damit komme ich klar”, sagt as. “Aber wenn du noch einmal ohne Absprache jemanden in mein Haus einlädst, dann blute ich dich aus und föhne dich anschließend in der Sonne mit einem Heißluftföhn.”

Luna verzieht das Gesicht zu einem Ausdruck von Abscheu. Nur für eine Moment. “Das könnte endgültig werden.”

“Meinst du?” Léonide wirkt plötzlich weniger überzeugt.

Luna zuckt mit den Schultern und macht sich auf dem Weg zur Tür. “Ausbluten war halt schon überraschend heftig. Wir haben noch nicht fertig erforscht, woher mein neues Blut kam. Aber wenn es unter anderem aus der Luftfeuchte kam, dann kann ein Heißluftföhn oder ein Feuer schon einen entscheidend ungünstigen Effekt haben. Und so krass mein Körper auch ist, völlig unzerstörber wird er nicht sein”, sagt sie noch, bevor sie durch die Terrassentür schreitet.

Phillipp sieht zu ihrem Kind hinüber. “Ich bin noch nicht so sicher, was ich davon halte, dass ihr diese Experimente macht. Aber vielleicht kommt das, weil ich mir nicht vorstellen kann, damit leben zu können, dass Luna dann doch dabei zu Schaden kommt. Zu dauerhaftem.”

“Aber sie ist so interessant!”, sagt Kendra. Ihre Wissenschaftseuphorie klingt so wunderschön durch dabei. “Sie ist genauso neugierig, wie ich. Aber vielleicht forsche ich erstmal an ungefährlicheren Dingen an ihrem Körper rum. Etwa erforschen wir im Moment, wie er heilt. Also was für biologische oder physikalische Prozesse dahinterstecken. Dabei machen wir erstmal immer das Gleiche.”

“Anschneiden, vor allem”, sagt Léonide trocken.

Phillipp möchte ihrem Kind eigentlich auch nichts verbieten, was so logisch sinnvoll klingt. Aber ein gutes Gefühl hat sie dabei nicht unbedingt. Luna ist schließlich auch eine Mörderin. Die Situation ist so abgefahren!

Aber im nächsten Augenblick hat sie ganz andere Gedanken im Kopf. Luna führt eine Person auf die Terrasse, die eine Schönheit an sich hat, die Phillipp den Atem raubt. Das hat sie selten. Angela ist mit Sicherheit ein gutes Stück älter als sie und trägt eine Traurigkeit oder Melancholie in ihrem Gesicht, und zugleich eine Freundlichkeit in ihrer Haltung, die einfach mit Phillipp sprechen.

Angela bringt Léonide ein Besuchsgeschenk mit. “Paolo meinte, Geschenke sind nicht unbedingt willkommen bei Ihnen”, sagt sie. “Ich habe Verständnis, wenn ich es einfach wieder einpacken soll. Aber in meiner Familie gehört es eigentlich dazu, dass wir eines mitbringen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht.”

Léonide nimmt es grumpig entgegen. “Können wir uns auf Duzen einigen?”

“Natürlich”, stimmt Angela zu.

Léonide schaut sie dabei nur flüchtig an und holt ohne Umschweife das Geschenk aus der braunen Papiertüte. Es ist eine Kräuterteemischung. “Das wird bei uns schon alle.”

“Das freut mich!” Angela setzt sich Luna gegenüber auf den freien Platz.

Sie reden noch ein wenig darüber, wer hier welchen Tee trinkt, bis Luna die Quiche anschneidet und verteilt.

Sie riecht immer noch gut, aber Marcin wirkt etwas unglücklich. “Ich habe mit Paolo videotelefoniert, als ich sie gemacht habe. Aber sie hat trotzdem einfach nicht die gleiche Konsistenz wie bei ihm”, sagt er.

“Ihr habt videotelefoniert?”, fragt Angela. Sie ist gleichzeitig traurig und glücklich dabei. “Bei mir meldet er sich im Moment kaum mehr.”

“Oh”, macht Marcin.

“Du bist Paolos Elter?”, fragt Phillipp.

“Mutter”, konkretisiert Angela. “Also, auch Elter, klar. Ich hätte auch einfach ‘ja’ sagen können.”

“Ich fühle mich mit dem spezifischen Begriff ‘Mutter’ auch so wohl, dass ich das Bedürfnis kenne, dass er benutzt wird.” Phillipp versucht einen motivierenden Tonfall, aber sie ist sich nie sicher, ob sie es hinbekommt, ihre Emotionen so zu vermimiken, dass sie sinnvoll gelesen werden können. Dann besinnt sie sich, über welches Thema sie gerade reden und was das für Paolos Mutter bedeuten mag. “Ist dir überhaupt wohl dabei, über Paolo zu sprechen? Ich kann mir vorstellen, dass das Thema recht belastend für dich ist. Oder dass wir in dem Zusammenhang vielleicht Unterthemen aussparen sollten. Wie ist das?”

Angelas Blick wandert weiter, fast mechanisch, bis er auf Luna haften bleibt. Luna lächelt. Angela nicht. Irgendwann seufzt sie tief und steht auf. “Ich kann das nicht, es tut mir leid”, sagt sie. “Du hast recht, Luna, ich habe ein Bedürfnis dazu, mich mit anderen zu treffen, und ich habe das viel zu kurz kommen lassen, weil ich eine Familie zu versorgen hatte und selbst genug, womit ich nicht klar komme. Aber ich kann nicht mit dir an einem Tisch. Es tut mir leid.”

“Setz dich wieder”, bittet Luna. (Eigentlich ist es ein Befehl, aber sie sagt es so sanft, dass es dadurch eher eine Bitte ist.) Sie steht ihrerseits auf. “Lass mich an deiner Stelle gehen. Ich verstehe dich.”

Einen Moment stehen sie sich einfach gegenüber und sehen sich an.

“Es mag sehr herzlos von mir sein, aber ich möchte trotzdem anmerken, dass dein Kind Mordabsichten gegen Luna hatte”, mischt sich nun Lauden Léonide von Horstenfels ein.

Angela atmet noch einmal tief ein und aus, als wäre es Schwerstarbeit, dann setzt sie sich wieder.

“Ich finde nicht, dass das mein Verhalten in irgendeiner Form entschuldigt”, merkt Luna an.

“Das nicht”, sagt Angela. “Aber du bist, als du ihn gefesselt in deiner Hütte zurückgelassen hast”, – Angelas Sprechfluss stolpert dabei ein wenig –, “zu mir gekommen und hast mir erzählt, dass er lebt. Und dass er nicht sterben wird.”

“Es sei denn, Sonja hätte ihn nicht gerettet”, murmelt Marcin.

Angela schüttelt den Kopf. “Luna hätte das nicht zugelassen. Das hat sie mir anvertraut.” Sie wendet sich Luna zu. “Setz dich wieder.”

Luna setzt sich sehr zögerlich und blickt dabei skeptisch drein.

“Du hast mein Kind gefoltert”, fährt Angela fort. “Aber Paolo hat mir auch bei seinem ersten Telefonat mit mir erklärt, dass es überraschend keine traumatischen Auswirkungen bei ihm haben wird, meint seine Therapeutin. Und er auch. Er hat vor allem mit anderen psychischen Problemen zu ringen, die schon vorher da waren.”

“Ich soll euch alle von Paolo grüßen”, fällt Marcin ein. “Ausdrücklich alle hier.”

“Mein Kind ist keine 18. Und ich halte es schon für etwas anderes, wenn er dir was antun möchte, als wenn du ihm was antun möchtest”, sagt Angela. Sie weiß nicht genau, worauf sie eigentlich hinaus will. Aber irgendwie muss sie gerade Dinge loswerden.

“Das stimmt”, bestätigt Luna. “Ich mag vielleicht spitzfindig korrigieren, dass ich ihm nichts antun wollte. Ich wollte es nur nicht doll genug nicht, um das Spiel anders weiterzuspielen, in dem ich steckte. Mein Verhalten ist dennoch oder auch vielleicht sogar deswegen ohne Frage viel kritischer zu bewerten als Paolos.”

“Du redest über das Foltern von Kindern und Jugendlichen als Spiel?”, fragt Phillipp. Ihr Ton ist sehr missbilligend.

“Ungern”, erwidert Luna. Sonst sagt sie nichts dazu. Es gibt Dinge, bei denen es nicht möglich ist, sich dafür zu verteidigen. Sie ist grausam gewesen. Es hat, was Grausamkeit betrifft, auch noch viel Spielraum nach oben gegeben, aber auch einigen nach unten. Luna bereut es trotzdem nicht. Auch wenn es ihr leid um Angela tut.

“Paolo hat die Welt verbessern wollen”, steigt Angela wieder ein. “Indem er ein Vampir tötet. Oder irgendetwas großes Held*innenhaftes macht. Dazu hat er viele Grenzen überschritten.”

“Nichts rechtfertigt, zu foltern”, erwidert Phillipp.

“Außer Konsens”, sagt Kendra.

Phillip schaut ihr Kind fragend an. Kendra blickt weiter zu Luna.

Luna nickt. “Ja, Kendra hat mich mit meinem Einverständnis gefoltert. Das ist schon okay.”

“Aber Paolo war nicht einverstanden, oder?”, fragt Phillipp.

Luna lächelt. “Nein. und ich hätte es auch nicht für ihn getan, hätte er mich darum gebeten”, fügt sie hinzu. “Ich mag es, wie du so klar sagst, dass ich grausam bin und auf welche Art. Es passiert mir zu oft, dass ich verteidigt werde.”

“Es finden dich mehrere von uns sympathisch und wollen das wohl”, überlegt Léonide.

Luna nickt.

“Warum?”, fragt Phillipp.

“Arx!”, macht Kendra. “Luna verteidigt einen Wald. Ja, mit dem Konzept habe ich so meine Probleme, aber wenn niemand in den Wald kommt, tut sie einfach niemandem was. Die Sache mit dem Wald ist bekannt. Ansonsten ist sie interessant und neugierig, hört gut zu, ist verständnisvoll.”

Angela nickt. “Verständnisvoll ist sie. Und ich glaube, ein bisschen auch, gerade weil man zu ihr mit Lebensmüdigkeit kommen kann und sie”, Angela zögert, “weil sie dafür Raum gibt. Weil ich keine Angst haben musste, dass es in dem Gespräch darum geht, dass ich mir auf keinen Fall was antun soll, sondern ich einfach erstmal eine Person zum Zuhören hatte.”

Angela merkt, wie sich alle Blicke erst auf sie richten und einige davon sich anschließend unauffällig woanders hin verlieren. Angela nimmt sich die Gabel in die Hand und beginnt zu essen. Bis jetzt hat das noch niemand getan. Wenn schon awkward, dann richtig, denkt sie. “Marcin, die Konsistenz stimmt vielleicht nicht, aber die ist richtig gut!”

Marcin lächelt. “Danke!”, sagt er. Einen Moment später fügt er hinzu: “Ich war auch viel bei Luna, um mit ihr über Themen im Zusammenhang mit Tod und Trauer zu reden, die sonst niemand verstanden hat. Ich weiß, dass sie meine Schwester getötet hat. Und dass es schön war. Für beide.”

Natürlich entsteht Marcins Drache, aber er ist größer als sonst. Er legt seine Flügel um Marcins Schultern und seinen Kopf an Marcins Hals.

“Manchmal, denke ich, dass so etwas viel eher die Welt rettet”, meint Kendra. “Wirklich zuhören. Loslassen davon, dass wir Dinge bei anderen nicht wollen, die weh tun, und zulassen, dass sie halt da sind.”

“Ich fühle mich bei dir auch sehr wohl, weil du meine Ungeheuer magst”, murmelt Marcin.

“Eine Wahlfamilie gründen”, schlägt Léonide vor. “Wenn ihr mögt zumindest.”

“Auch ich, obwohl ich Schwierigkeiten mit Luna habe?”, fragt Angela.

“Auch du”, sagt Léonide. “Ich glaube, für diese Schwierigkeiten haben wir ja auch alle Verständnis.”

Womit Léonide recht hat. Besonders Phillipp kommt damit noch nicht so klar. Sie denkt darüber nach, dass sie grausames Verhalten von Personen auch ermöglichen, wenn sie es akzeptieren. Aber immerhin steht keine Rechtfertigung im Raum. Es ist alles sehr merkwürdig. Ihr Kopf hat Schwierigkeiten, sich darumherum zu stülpen.

Sie speisen gemütlich. Dann gehen sie ins Wohnzimmer, wo ihnen Marcin am Kurzflügel vorspielt. Sie genießen die Musik und die Ungeheuer. Dann unterhalten sie sich bei Tee. Marcin ist in Kendras Arme gekuschelt. Phillipp macht sich Gedanken, ob Angela gern kuschelt, aber sie weiß auch überhaupt nicht, ob sie sich bei ihr nicht bisher eher vollkommen unbeliebt gemacht hat. Es wird sich zeigen.

Als der Abend graut und sie ein Gesellschaftsspiel ausgepackt haben, verabschiedet Luna sich. “Es war ein schöner Urlaub mit euch. Für eine Woche im Dorf zu schlafen, war eine neue Erfahrung für mich, die ich nicht missen will, auch wenn sie sehr anstrengend war”, sagt sie. “Ich glaube, ich werde hier nicht wohnen bleiben. Für mich ist und bleibt der Wald mein Daheim. Aber ich komme gern vorbei, solange ich willkommen bin.”

Der Wald. Der geliebte Geisterwald, durch den der Nebel wandert. Das ist auch eine Welt, die es zu retten galt und gilt.