Bildbeschreibung:

Ein Gerät, das Ähnlichkeiten mit einer Stimmgabel hat. Aus den beiden Armen der Stimmgabel ragen aber noch zwei kürzere Arme mit Stacheln. Oben auf den Enden der Gabel sind unidentifizierbare Nupsis, die vielleicht Wolken ähneln.

Content Notes:

Sterben und Blutsaugen, so allgemein als Thema, wirbellose Tiere, Umweltkriese erwähnt, Fäkalausdrücke.


Eine schlecht erzählte Geschichte

Luna und Paolo

Ein kaltes, zugiges Zimmer in einem verwinkelten Holzhaus im Geisterwald. Luna hat das kleine Fenster geöffnet. Der Wind rüttelt am Kronleuchter, die Kerzen lodern regelmäßig auf und tauchen die Instrumente in umheimliches Licht. Die Instrumente, die zur Perfektion des Blutaussaugens da sind, wie Paolo nun weiß. Das Geräusch von Kohlestift auf Zeichenpapier. Luna sitzt neben Paolos Liege auf dem Hocker, eine verschränkte Sitzhaltung, in der sie den Zeichenblock halten kann.

“Du malst mich nicht erst, nachdem ich tot bin?”, fragt Paolo mit zitternder Stimme.

“Ich zeichne”, korrigiert Luna. “Und zwar, während ich dir eine Geschichte zu erzählen gedenke. Letzteres erfordert den Umstand, dass du dabei noch lebst. Denke ich.”

Paolo antwortet nicht. Ihm ist schwindelig, und das, obwohl die Liege nicht gekippt ist.

Wieder ist es eine Situation für Luna, die gemischt behaglich und unbehaglich ist. Sie mag den Wind und die Kerzen. Ihren sanften Wachsgeruch. Sie mag das Spiel mit dem Leben. Aber sie fühlt sich sehr unbehaglich damit, dass Paolo all ihre Bilder gesehen hat. Die im unteren Stockwerk. Es fühlt sich an, als hätte ihr jemand in den Eingeweiden herumgewühlt. Die im oberen Stockwerk sind noch persönlicher. Dort hätte er auch Zeichnungen von Marcins Ungeheuern gefunden. Diesen wunderschönen Kreaturen der dunklen Gefühle.

Und nun hat sie sich vorgenommen, eine Geschichte zu erzählen. Auch das geht weit aus ihrer Comfort Zone hinaus. Aber sie möchte es gern probieren. Sie seufzt. “Vor hunderten von Jahren, oder so, lebte in diesem Wald einst eine Vampirkreatur, noch unerfahren.”

“Du bist älter als hundert?”, unterbricht Paolo.

Luna runzelt die Stirn. “Ja, das auf jeden Fall. Wie alt genau ich bin, keine Ahnung. Mein Gedächtnis wird poröser, je weiter die Erinnerungen zurückliegen.”

“Allein das”, sagt Paolo. “Du bist wider die Natur. Das Leben, das du bekommst, muss irgendwo anders abgezogen werden.”

Luna schnaubt. “Hast du dir das selbst ausgedacht?”

Paolo versucht, sich in eine etwas andere Position zu legen, wenigstens das, aber es geht nicht. “Denk doch mal selber drüber nach”, fordert er sie auf. “Guck, was du hier anrichtest! Du nimmst Leben!”

“Ja Paolo, ich nehme Leben”, bestätigt Luna ungeduldig. “Das eine hat mit dem anderen aber nichts zu tun. Kendra hat mich kürzlich freundlicherweise darüber informiert, dass so manche Qualle unsterblich ist. Und jene sind meist weniger mordlüstern als ich.”

Paolo blickt sie halb verständnislos und halb nachdenklich an, sagt aber nichts dazu.

“Und wenn du ein Lebewesen haben willst, dass ein bisschen eher meiner Natur entspricht, so von Zähnen her und mehr aus der Ecke Raubtier, dann nenne ich dir Grönlandhaie”, fährt Luna fort. “Wunderschöne Fische, und von einigen Exemplaren ist sehr wahrscheinlich, dass sie älter sind als ich. Hör mir auf mit wider die Natur. Schau dir die Natur gründlich an! Das, was davon noch da ist. Und wenn du gern Unmengen Energie in Weltrettungspläne stecken möchtest, dann darein, sie zu erhalten.”

Paolo erinnert sich daran, dass er die Theorie der Kipppunkte aus der Klimaforschung auf das Vampirproblem übertragen hat. Nun ergibt es in seinem Kopf plötzlich weniger Sinn als zu dem Zeitpunkt, zu dem er es Sonja dargelegt hat. “Es tut mir leid”, sagt er. Es fällt ihm echt nicht leicht, das zu sagen.

“Was konkret?”, bohrt Luna unbarmherzig nach. “Dass du mich schon nach einem Satz unterbrochen hast, als ich anfing, die Geschichte der Mondklinge zu erzählen?”

“Dass ich dich für so böse gehalten habe”, murmelt Paolo.

Luna hebt äußerst skeptisch die Augenbrauen. “Nach welchen Definitionen von böse bin ich nicht böse?”

“Aber du bist nicht das Unheil der Welt.” Paolo ist es eigentlich echt nicht recht, diese Kreatur mit Anerkennung zu übergießen, während er an eine Liege gefesselt unter ihr liegt.

“Nein, bin ich nicht”, bestätigt Luna. “Wenn mich Leute einfach in Ruhe lassen würden, könnte ich sogar recht harmlos sein. Aber sie lassen mich nicht in Ruhe, also bin ich äußerst unharmlos.” Ungeduldiger fügt sie hinzu: “Was versuchst du da? Dass ich irgendwie denke, du hast dich verändert, du hast endlich verstanden, worum es geht, und dich freilasse?”

Paolo fühlt sich erwischt. Das war tatsächlich seine Hoffnung dabei. Oder etwas in der Art. Dass sie ihn anders behandeln würde, wenn sie ihn weniger hasst. Weil er mal etwas richtig macht. “Es war unehrlich von mir, das nicht dazuzusagen”, räumt er ein. “Aber es war mir auch nicht sofort bewusst.”

“Du machst also nun sogenannte Seelenstriptease vor mir”, folgert Luna. “Nachdem ich dir schon gesagt habe, dass ich nicht verhandle. Ich werde dich nicht freilassen.” Sie seufzt. “Paolo, ich weiß, dass du ein unsicherer Mensch bist und dass du gern ein guter Mensch wärest. Und nicht weißt, ob du es bist oder was du tun musst, um es zu sein. Und dass dich das fertig macht und belastet.”

Paolo fühlt Tränen in sich aufkommen. Er fühlt sich nun so verletzlich. Er hätte ihr diese Dinge nicht anvertrauen sollen.

“Es tut mir leid, dass du dich schlecht fühlst”, sagt Luna. “Und vielleicht wären deine Bemühungen einer anderen Person gegenüber sogar angebracht gewesen. Eine andere Person mag für dich in der Hinsicht auch safer sein als ich. Aber eh du bei mir weitermachst, sage ich dir, dass es in dieser Situation eher nicht angebracht ist. Ich brauche es nicht. Du bereust es hinterher. Es gewinnt niemand dadurch.”

Paolo weiß nicht, was er sagen soll. Er möchte sich verteidigen. Er möchte begründen, warum er es getan hat. Also wagt er einen letzten Versuch. “Ich”, – er muss durch Tränen sprechen –, “ich will geliebt werden. Ich will nicht gehasst werden. Ich will nicht immer alles falsch machen.”

“Du wirst geliebt”, sagt Luna sanft. “Nicht von mir, aber von Angela. Das weiß ich.”

“Stimmt”, schluchzt Paolo.

“Ich weiß nicht, wer dich hassen sollte. Am ehesten hat wohl Marcin Anlass, aber meines Wissens hat er dich immer noch sehr gern”, führt Luna aus und fragt sich im nächsten Moment, ob ihr überhaupt zusteht, diese Information weiterzugeben.

“Du hasst mich nicht? Oder Sonja?”, fragt Paolo skeptisch.

Luna schüttelt den Kopf. “Sonja ist misanthrop. Sie mag Menschen im allgemeinen nicht sonderlich, aber es ist kein Hass. Es ist eher Desinteresse und allgemeine Abscheu und Genervtheit. Es sei denn, einer eignet sich mal für ein Spiel. Dann hat sie ein etwas fieses, aber keinesfalls hassvolles Interesse.” Sie seufzt. “Und ich bin gezwungen, nun meinen Zug zu machen. Du bist da also zwischen zwei unsterbliche Personen geraten, die über Jahrhunderte hinweg ihren Zwist nicht gerade in rücksichtsvoller Weise für die Umlebenden ausleben.” Sie kichert ob des unbeabsichtigten Wortspiels. “Ich hasse dich auch nicht. Du bist mir nicht wichtig. Ich finde dich etwas nervig, aber jetzt auch nicht so, dass das allein Mordfantasien ausgelöst hätte.” Luna grübelt einen Moment. “Wobei ich glaube, dass ich mehr Mordfantasien bei Leuten entwickle, die ich mag. Interessante Erkenntnis.”

“Es ist so böse, was ihr da macht”, sagt Paolo schwach.

“Das ist es”, bestätigt Luna nickend. Sie fasst den Stift anders, sodass er nicht aufs Papier trifft, als sie mit den Fingern eine Schattierung verreibt. “Und zur Frage, ob du alles falsch machst, liegt mir natürlich die Antwort auf der Zunge, dass um wirklich alles falsch zu machen, noch sehr viel Potenzial nach oben offen ist.”

Paolo kichert bitter und schluchzt dabei gleichzeitig. “Ich möchte viel weniger falsch machen.”

“Nein”, sagt Luna. “Das reicht dir nicht. Du möchtest nichts falsch machen. Nie wieder. Du möchtest außerdem, dass nur Situationen vor dir liegen, die jeweils genau eine richtige Entscheidung zulassen. Denn immer dann, wenn es zwei ähnlich gute Möglichkeiten mit jeweils ihren Nachteilen gibt, kommst du nicht klar, mit egal was du hinterher entschieden hast.”

Paolo zittert, weint und möchte widersprechen. Er weiß nicht wie, aber es ist so ungerecht, was Luna sagt.

Aber Luna hindert ihn daran, bevor er dazu kommt. “Lässt du mich meine Geschichte weitererzählen? Bitte?”

“Gleich”, sagt er, als er etwas realisiert. “Ich glaube, du hast Recht, mit dem, was du sagst. Ich denke immer, warum würde ich so etwas Unrealistisches wollen? Aber die Frage muss eher sein, wie lerne ich, nicht so etwas Unrealistisches zu wollen?”

Luna seufzt. Sanft dieses Mal. Sie nimmt sogar den Stift vom Blatt und sieht ihn an. “Ich bin keine Therapeutin.” Die Stimme untermalt mit einem verständnisvollen Summen, das nicht zu mitleidig klingt.

“Ich wollte immer in Therapie gehen. Aber ich verstehe mich mit der Therapeutin im Dorf nicht”, sagt Paolo. “Und um weiter weg zu pendeln oder so etwas wie eine Psycho-Kur zu machen, dafür hatte ich zu viel Angst, Marcin allein zu lassen.” Nun weint er wirklich. Tränen laufen ihm einfach über das Gesicht. Marcin mag ihn noch, hat Luna gesagt. Aber die Beziehung ist Vergangenheit. “Ich liebe Marcin.”

“Paolo, du machst immer noch Seelenstriptease vor mir”, ermahnt Luna. “Es mag dir inzwischen sogar gut tun, aber mir nicht. Ich möchte das nicht.”

Wie kann etwas, was sich gerade noch nach neuer Erkenntnis angefühlt hat, so rasch von diesem stechenden Schmerz, falsch zu sein, durchbohrt werden? “Dann erzähl deine bekackte Geschichte.”

“Einst lebte in diesem Wald eine Vampirkreatur, noch unerfahren”, setzt Luna wieder ein. Aber wie weitererzählen? “Es ist ein guter Wald. Ein Wald, der flüstert, ein Wald der so viel Leben enthält. So viel schönes Leben.” Sie seufzt. “Und dann kamen Menschen in diesen Wald, Menschen, die keinen Sinn für dieses Leben hatten. Sie wollten Holz und Fleisch und gierten nach der Macht über den Grund. Sie sagten, ihnen gehöre der Grund nun. Aber ein Wald kann niemandem gehören.”

“Außer dir”, grummelt Paolo sarkastisch.

Luna schüttelt den Kopf. “Ich wohne im Wald und beschütze ihn. Ich teile ihn nicht mit Menschen. Aber der Wald und seine anderen Bewohnenden haben kein Verständnis davon, besessen zu werden, also besitzt sie auch niemand.” Luna seufzt abermals. “Menschen kamen in diesen Wald, um zu zerstören. Und die Vampirkreatur wurde zum Fels, an denen sie mit ihrem Vorhaben zerschellten. Ein Krieg entstand und einen verständnislosen Menschen nach dem anderen raffte sie dahin. So viele, dass das Morden aufhörte, Spaß zu machen.”

“Es hat dir von vornherein Spaß gemacht?”, fragt Paolo.

“Ja!” Luna rollt mit den Augen. “Auf jeden!” Sie schnaubt über ihre eigene Ausdrucksweise. “Weil es aber so viele waren, und es sich anbot, machte sich die Vampirkreatur eine Kunst daraus. Das kennst du bestimmt: Wenn du irgendeine Sache immer und immer wieder tust, dann perfektionierst du sie irgendwann auch, oder?”

Paolo antwortet nicht. Er denkt einen Moment ans Kochen, aber er will absolut nicht Morden mit Kochen vergleichen oder irgendeinen positiven Aspekt am Morden nachempfinden. Oder sollte er? Wäre es richtig? Weil immer das, was ihm intuitiv richtig vorkommt, doch nicht richtig ist?

“Die Vampirkreatur ließ sich immer ein paar Leute übrig, die in den Wald kamen, um sie nicht direkt zu töten, sondern um mit ihnen zu experimentieren”, fuhr Luna fort.

“Abscheulich”, kommentiert Paolo.

“Ja, schon”, gibt Luna zu. Sie ist sich nicht sicher, ob sie mit diesem Teil ihrer Vergangenheit inzwischen im Reinen ist. Das ist gerade auch schwierig: Sie spielt wieder in dieser unnötigen Art mit Beute. Weil sie in einer Zwickmühle steckt. Aber es erinnert sie an damals, und es ist kein allzu schönes Gefühl. Wie sie am Anfang festgehalten hat: Es ist einfach keine gute Option da gewesen, und diese, die ihr als die beste erscheint, behagt ihr nicht.

Luna seufzt noch einmal und fragt sich, ob sie am Ende mehr seufzen als erzählen wird. “Auf einem der Instrumente liegst du. Es ist ein einfaches Gerät, um Blutdruck in Halsgegend zu erhöhen. Simpel gedacht, aber gar nicht so wenig effektiv. Du kennst diese Sache, dass eine typische Erstehilfemaßnahme in Fällen, wo das Blut mehr in den Kopf sollte, ist, die Beine hochzulegen?”

Paolo nickt. Er weiß nicht mehr genau, in welchen Situationen das gut ist, was ihn ärgert. Der Kurs, den er mit der Schulklasse gemacht hat, liegt doch gar nicht so lange zurück.

“Ehe ich auf all die anderen eingehe, komme ich vielleicht am besten gleich zur Mondklinge”, sagt Luna. “Jene Vampirkreatur mochte Musik sehr gerne und hatte herausgefunden, dass sie durchaus auch einen Effekt auf hörende Wesen hat. Auf deren Kreislauf. Also entwickelte die Vampirkreatur eine Stimmgabel, verwob darein eine zweite, und bastelte so lange daran herum, bis ein Instrument entstand, das auf möglichst viele Menschen den Effekt einer Extase auslöst. Herzrasen. Du hast es erlebt.”

Paolo nickt. Er findet es tatsächlich eindrucksvoll. “Es ist also kein Instrument, um dich zu töten, sondern auch dafür da, dass du mehr Blut aus Menschen bekommst?”

“Genau”, bestätigt Luna.

“Und Sonja möchte, dass ich sie ihr beschaffe, damit du sie nicht mehr benutzen kannst?”, mutmaßt Paolo. “Damit du weniger grausig sein kannst?”

“Grausig!” Luna lächelt. “Ein schönes Wort. Danke.” Sie deutet eine Verbeugung an, eh sie ihren Stift wieder aufnimmt und weiterzeichnet. “Nein, ich denke nicht, dass das ihre Motive sind.”

Sie gleicht das Gesicht, das sie gezeichnet hat, noch einmal mit Paolos ab. Dann legt sie den Stift beiseite und nimmt stattdessen den Knetradierer, um die Tränenspuren anzudeuten. Sehr sachte.

“Dieser unirdische Klang, wie ihn viele beschreiben”, fährt sie fort, “hatte einen Schneefuchs in den Wald gelockt. Die Vampirkreatur kannte es schon, dass einige der Tiere im Wald den Klang durchaus mochten. Sie hat ihn so kreiert, dass er sicher keine traumatische Erfahrung für die Tiere im Wald war. Aber sie merkte, dass an dem Schneefuchs etwas anders war als an den anderen Tieren im Wald.”

“Sonja”, sagt Paolo leise.

“Sonja.” Luna nickt.

“Ich wusste, bevor du es gesagt hast, nicht, dass sie auch unsterblich ist”, gibt Paolo zu. “Ist sie auch ein Vampir?”

“Nein, das ist sie nicht”, erwidert Luna. Sie merkt, wie sie ungewöhnlich sanft im Zusammenhang mit Sonja klingt. Das ist interessant.

“Ist sie das Gegenteil eines Vampirs? Dein Gegenstück etwa?”, fragt Paolo.

“Du meinst, sie, hm, gefriert im Mondlicht, und statt Blut zu trinken, spuckt sie es?” Luna kichert. “Nein, das trifft sicher auch nicht zu.”

“Ist sie sowas wie ein Werfuchs? Sind Bisse von ihr für dich tödlich?”, schlägt Paolo vor.

Luna will erst widersprechen, aber streicht sich dann nachdenklich übers Kinn. “Spannende Frage. Ich glaube, Sonja hat mich noch nie gebissen.” Sie wendet sich wieder ihrer Zeichnung zu. “Unwahrscheinlich trotzdem, denke ich. Du denkst zu legendenhaft, zu wenig wissenschaftlich. Du versuchst oft, irgendwelche Aspekte aus alten Geschichten, die ihren Weg verblümt in Fantasy-Werke gefunden haben, aufs Leben zu übertragen. Das eine Instrument, was das Vampir töten kann: Die Mondklinge! Die eine Person, die das Böse der Welt verkörpert: Die Vampirkreatur! Und nun, da Mondklinge out ist, suchst du das nächste eine Element, das ein Gegenpol sein kann.”

Ehe Paolo wieder in irgendwelche Gedanken abdriften kann, dass es ja klar wäre, dass er wieder falsch denke, bittet er Luna, fortzufahren.

Luna lächelt mild. “Jedes Mal, wenn der Klang den Wald erfüllte, kam sie. Jedes Mal ein Stückchen näher. Sie wusste, dass sie gefährlich lebt, weil sie eben nicht nur Fuchs, sondern auch Mensch ist. Sie wusste, dass ich es fühle, aber solange sie in Fuchsform war, habe ich sie in den Wald gelassen.” Sonja kam auch nicht, um Luna zu stören, fällt Luna ein. Sonja wollte nur nicht so alleine sein. Und Luna hat damals keinen Sinn dafür gehabt. “Aber als sie sich irgendwann vor meinem Haus in menschlichere Form gebracht hat, als der Ton erscholl, habe ich sie ausgesaugt.”

Paolo starrt sie entgeistert an. “Du hast Sonja ausgesaugt?”

“Immer wieder”, sagt Luna. “Sie kam, um den Ton zu hören, glaube ich. Das wird mir jetzt klar, da sie die Mondklinge stehlen will. Ich habe sie lange nicht mehr benutzt. Ich denke, sie hat einfach Sehnsucht nach dem Klang.”

Sie schweigen eine Weile. Die Geschichte ist zu Ende. Aber es ist so unvorhergesehen für Paolo, dass er es nicht sofort realisiert.

“Was, wenn der Ton dich töten kann, wenn eine andere Person ihn anschlägt?”, überlegt Paolo.

Luna zupft die Mondklinge aus ihrer Halterung und legt den unteren Stab, an dem die Gabeln sich verzweigen, in Paolos Hand. “Wenn du willst, schlag sie an.”

Paolo zögert. Wenn es sie tötet, dann ist er hier immer noch gefangen. Es wäre besser, wenn sie ihn zuerst befreit. Wie lange wird er hier drin überleben? Werden doch Menschen kommen und ihn suchen, wenn er nicht wieder auftaucht? Vielleicht, wenn eben auch Luna nicht wieder auftaucht?

Will er Luna überhaupt noch töten? Aber sollte er nicht eine Person töten wollen, die Marcins Schwester auf dem Gewissen hat und die ihn hier gefesselt neben sich liegen hat? Ist es nicht die Frage, ob er oder sie? Wenn er sie nicht tötet, tötet sie ihn. Wenn er sie tötet, sterben sie vielleicht beide. Egal. Paolo bewegt die Mondklinge, sodass sie sehr leicht gegen das Holz unterhalb seiner Hand stößt. Vorbereitend darauf, es gleich mit dem ganzen Spielraum zu tun, den seine Hand hat. Aber diese sanfte Berührung bringt sie schon so zum Schwingen, dass er sein Blut rauschen spürt, sein Griff schwächer wird, er sie fast loslässt.

Und dann realisiert er: Es ist völlig egal, wer sie anschlägt. Sie wird nicht dadurch anders klingen, dass er es tut, und der Klang ist es, der etwas auslöst, das Gleiche auslösen wird wie vorhin. Er wird sich damit selbst in Extase versetzen, so wie er sich selbst auf die Bank gelegt und ausgeliefert hat. “Nimm sie”, wimmert er. “Mach es selbst!”

Luna nimmt ihm die Mondklinge ab, atmet tief ein und aus. Sie blickt zum Fenster in die Dunkelheit, lauscht in die Stille, bevor sie sie noch einmal anschlägt. Ihr Fingernagel schnellt mit Schwung dagegen und der Klang durchbricht die Stille, kitzelt selbst unter ihrer Haut. Reißt an ihrem Inneren. Der Klang des Todes.