Bildbeschreibung:

Ein von innen gepolsterter Sarg. Die Klappe steht offen. Er hat Schnörkel und Griffe an den Seiten.

Content Notes:

Knochenbrüche, Morddrohungen.


Vor-, Rück-, Nach-, An-, Ab-, Zuver- und Übersicht

Marcin und Luna

Eigentlich, findet Marcin, hat sich Paolo wirklich bemüht. Warum sollte sein Ex perfekt darin sein müssen, nicht in die Opferrolle zu fallen, dafür dass Marcin mit ihm klarkommt? Warum ist es so, dass Marcin in diesen Situationen, in denen Paolo kritisiert wird oder Personen sich von ihm abgrenzen, quasi nur darauf wartet, dass er in seine Spirale stürzt, aus der er alleine kaum mehr herauskommt? Ist es böse von Marcin, dass er da manchmal keine Kraft für hat?

Es ist früh in der Nacht. Er schleicht sich aus Kendras Zimmer, die neben ihm schläft, die Treppe hinauf, an deren Rändern sich Bücherstapel türmen, zu Lunas Zimmer. Luna öffnet die Tür ehe er klopfen kann, und macht eine einladende Geste.

“Hast du mich gehört?”, fragt er, als die Tür wieder geschlossen ist.

Luna nickt. Ihr skeptischer Blick verfängt sich wieder an dem Sarg im Zimmer. “Léonide denkt irgendwie, ich könne mich über einen Schlafsarg freuen”, sagt Luna unüberzeugt. “Ein Schlafsack hätte mir besser gefallen.”

“Findest du es zu makaber?”, fragt Marcin.

“Ich?” Luna schnaubt. “Etwas zu makaber finden?”

Marcin kichert. “Er eignet sich nicht so gut, um nebeneinanderzusitzen”, kommentiert er.

“Und beim Beieinanderliegen müssten wir ziemlich kuscheln”, ergänzt Luna. Sie seufzt. “Ich würde auf diesem Holzstuhl Platz nehmen, wenn du mit dem Sarg Vorlieb nehmen willst. Oder umgekehrt. Oder wir setzen uns auf den Boden.”

“Oder wir kuscheln im Sarg”, wagt Marcin leise vorzuschlagen.

Luna schüttelt den Kopf. “Ich kann mich körperlich definitiv davon abhalten, dich zu ermorden”, versichert sie. “Aber wenn du mir heute nah bist, wird einiges meines Denkens mit Mordfantasien ausgelastet sein. Das möchte ich nicht.”

Marcin grinst sie an. Er fühlt sich bei Luna vor allem wohl, weil sie beide oft unwillkommene, sich aufzwängende Gedanken haben. Vernichtende Gedanken. Während Luna viel über das Morden nachdenkt, zerstört Marcin in Gedanken oft die ganze Welt. Infernös. Lässt sie in angenehmes Dunkel versinken, in seine Schatten, wo sie zu Asche zerfällt.

Er kennt Luna schon länger, als Bran sie gekannt hat. Er hat sich an den Waldrand gesetzt und seine düsteren Geschichten über Zerfall in den Wald hinein vorgelesen. Weil er eigentlich wollte, dass jemand ihm zuhört, aber sich vor keiner Person, die er kannte, getraut hat. Er hat einige davon unter Pseudonym im Internet veröffentlicht, aber darauf kam nie Rückmeldung und das hat ihm nicht gereicht. Er wollte sie vorlesen. Weil beim Vorlesen die Ungeheuer in diese Welt glitschen, die er so liebt. Sie waren bei ihm, solange er gelesen hat, und sind dann in den Wald entfleucht, wo sie das Böse des Waldes entweder ergänzen, oder von der Gefahr verschlungen werden. Nachts am Waldesrand hat Marcin sich sicher gefühlt, niemandem mit ihnen zu schaden, als er noch glaubte, sie wären gefährlich.

Und dann ist Luna aufgetaucht. Sie hat gemeint, wenn sie schon zuhört, kann sie es auch offiziell tun. Luna hat seine Ungeheuer gemocht. Und seine Kunst. Auch wenn sie sie nicht unkritisiert gelassen hat. Aber die Kritik war wohltuend. Marcin hat sich schreiberisch und auch anders künstlerisch schon immer mit Kritik weiterentwickeln wollen, aber alle in seinem Umfeld bis dahin waren entweder Typ ‘Das kannst du doch nicht machen, du kannst nicht immer alles zerstören!’ oder Typ ‘Oh wow, deine Kunst ist super gut, so schön!’.

Luna hat sich mit ihm und seiner Kunst auseinandergesetzt. Einfach so.

Marcin ist schon halb dabei, sich auf dem Stuhl niederzulassen, aber überlegt es sich anders. Der Sarg wirkt gemütlicher. Er gönnt anderen meistens das Gemütlichere, aber heute möchte er für sich entscheiden. Also setzt er sich in den Sarg, rückt ein Kissen an die Holzkante und lehnt sich an.

“Weise Entscheidung”, sagt Luna und setzt sich auf den Stuhl. “Du hast deinen Reader nicht dabei. Ich schließe, es gibt keine neue Geschichte?”

“Stattdessen eine Frage”, erwidert Marcin. “Wenn ich in deinen Wald käme, würdest du mich töten?”

Luna seufzt und nimmt die Füße mit auf den Stuhl. Sie umarmt die Beine und blickt Marcin auf eine Weise an, die er fast niedlich findet. “Ich habe heute Abend irgendwie mit der Frage gerechnet”, sagt sie. “Du würdest in den Wald kommen, um Paolo zu retten, falls eine Situation entsteht, in der das Sinn ergeben könnte, richtig?”

Marcin denkt einen Moment nach, ob er Lunas Frage beantworten möchte, bevor sie seine beantwortet, aber nickt dann doch. “Ich weiß nicht, ob ich es tun würde, aber ich wüsste gern, woran ich dann wäre.”

“Ich möchte dir die Frage nicht beantworten”, leitet Luna ein. “Ich komme nicht davon weg, zu denken, wenn ich anfangen würde, Ausnahmen zu machen, dass dann die Leute in meinen Wald strömen. Meinetwegen mit freundlichen Absichten, um mir Kekse vorbeizubringen oder eben um eine Person zu retten.” Sie streicht das Haar hinters Ohr, auf der Seite, wo sonst immer eine Spange in Form eines Schmetterlings es zurückhält, die fehlt. “Lass die Sache sein, Marcin. Wenn du meinen Wald betrittst, während ich mich darin aufhalte, werde ich es wissen. Wenn ich die Absicht haben sollte, Paolo etwas anzutun, dann werde ich es ab dem Moment nur um so schneller tun.”

“Du hast mir leider schon erzählt, dass du mindestens eine halbe Stunde, eher länger brauchst, um eine Person so weit auszusaugen, dass sie stirbt”, sagt Marcin leise.

Lunas Gesicht entspannt sich und sie lächelt ein wenig, als sie noch leiser informiert: “Es gibt auch andere Weisen des Tötens, als durch Blutsaugen. Sie machen weniger Spaß, aber mehr als gar nicht zu morden.”


Es ist Nacht. Der Vollmond ist so grell, dass Luna sich vorstellt, wie das darin reflektierte Sonnenlicht unter ihrer Haut ein loderndes Kribbeln auslösen könnte. Aber das tut es natürlich nicht.

Die Gesamtsituation stimmt Luna eher so semizufrieden. Auf dem negativen Blatt steht die Sache mit Paolo und Sonja. Luna denkt, dass Lauden Léonide von Horstenfels’ Vermutungen schon richtig sein mögen: Sonja möchte herausfinden, ob Luna ihre Regeln wirklich so fix befolgen würde, jede Person zu ermorden, die mutwillig und um sie zu ärgern in ihren Wald käme, wenn daran an Stellschrauben gerüttelt würde, die es ethisch noch fragwürdiger machen. Luna öffnet das Fenster. Weit und breit niemand hier. Sie stellt sich vor, wie Sonja auftaucht, sich auf ihr Fensterbrett setzt und sie anlächelt. “Ich wollte dir zeigen, dass du es dir zu einfach machst mit deinen Regeln”, könnte sie sagen.

Luna seufzt. Sie mag Dinge einfach. Und zum Schlafen in einen Sarg zu klettern, ist sicher nicht so einfach, wie in ein Bett. Sie probiert es trotzdem. Aber sie mag es wirklich nicht. Dass im Liegen ihre Gliedmaßen überall gegen stoßen können. Sie schläft gern mit einem angewinkelten Bein. Aber… kann sie ein Geschenk einfach aus dem Fenster schmeißen? Eines von einer Person, deren Gesellschaft sie mag? (Und das steht auf dem guten Blatt: Die enstehende WG.)

Luna seufzt und klettert wieder aus dem Sarg. Sie hält den Kopf hinaus in den Wind. Sie sehnt sich nach dem Waldboden unter den Füßen. Nach der Einsamkeit des Waldes. Der Stille des Geraschels. Dem Flüstern in den Wipfeln. Dem Leben im Gewurzel.

Sie springt aus dem Fenster. Als sie aufkommt, erschließt sich ihr, dass das so keine optimale Idee war. Sie hört ihren spitzen Schrei im Wohnzimmer noch nachhallen. Und es braucht einen Moment, bis die Knochen in ihren Beinen sich wieder zusammenfügen. Sie ist noch nie aus dem ersten Stock gesprungen. Aus höheren Höhen, um ihre Grenzen zu erforschen, schon, aber über die Ungünstigkeit von nur einem Stockwerk hat sie sich einfach bisher nicht den Kopf zerbrochen.

Als sie sich mühsam wieder aufrichtet, öffnet Kendra die Terrassentür. Na gut, vielleicht hat Luna auch auf sie gewartet, nachdem sie mitbekommen hat, dass sie aufgewacht ist. Kendra nutzt ihren Stock mehr als sonst. Auch das hat Luna mitbekommen.

“Ich tauge nicht als Assistenz”, begrüßt sie Kendra. “Im Moment zumindest nicht. Ich scheuche dich an so einem Tag aus Versehen aus dem Bett.”

“Indem du dir die Beine brichst”, ergänzt Kendra trocken.

Luna nickt. “Ich halte es in einem Haus nicht aus”, sagt sie. “Und das müsste ich auch als deine Assistenz. Aber vielleicht würde es mit einem Bett anstelle eines Sarges gehen.”

“Warum nutzt du dann einen Sarg und kein Bett?”, fragt Kendra. “Eine Frage des Stils?”

“Unfug.” Luna fährt sich durchs Haar. Die Spange fehlt. Aber ein Teil von ihr findet es gut. “Das ehrwürdige Lauden von Horstenfels hat ihn mir besorgt. Ich bin kein Fan davon. Nun muss ich über ein Geschenk nölen.”

“Ich verstehe.” Kendra klingt tatsächlich einfühlsam.

“Ich komme morgen früh wieder. Und dann reden wir über die Zukunft”, verspricht Luna. “Es sei denn, ich finde Paolo im Wald.”