Bildbeschreibung:

Ein Auge, das mit einer Silberschicht überzogen ist, umrahmt von Wimpern, schaut schräg nach oben.

Content Notes:

Mordversuche - thematisiert, Machtgefälle, Morbidität.


Wissenschaft des Todes

Luna und Kendra

Kendras Körper wird allmählich kalt und Luna hat nicht genug Blut getrunken, um mit eigener Körperwärme entgegenzusteuern. Eigentlich hat sie eher die Befürchtung, dass sie Kendra in der Umarmung noch weiter herunterkühlt. Ein kleiner Teil von ihr möchte mehr von Kendras Blut, ein Spiel am Rande des Abgrunds spielen, so viel von ihr aussaugen, dass sie Kendra wärmen kann, aber dann die Spannung spüren, ob Kendra das überlebt. Aber das ist nicht dran. Sie will es auch nicht wirklich. Nur die Vorstellung ist schön.

“Soll ich dich nach Hause begleiten?”, fragt Luna.

“Das wäre schon was, was ich von meiner Assistenz erwarten würde.” Kendra schmunzelt schelmisch, sodass Luna nicht sicher weiß, ob es ein Scherz ist. Eigentlich wissen beide, dass Assistenzen meist nur für Tätigkeiten genehmigt werden, die wirklich nicht ohne gehen. Es wird, wenn, dann ohnehin ein Arbeitsverhältnis werden, dass der Staat nicht kennt.

Luna lässt Kendra los und zögert eine Weile, bevor sie ihre Gedanken in Worte kleidet. “Ich habe Bedenken, dass du dich, wenn ich deine Assistenz wäre, in der Verpflichtung sehen könntest, mit Blut bezahlen zu müssen. Weil ich mit anderer Bezahlung wie Geld nicht so viel anfangen kann.”

“Du möchtest aber viel lieber unbezahlt für mich arbeiten?”, mutmaßt Kendra.

Luna nickt lächelnd. “Oder sagen wir, die Bezahlung, dass ich dabei eine neue, spannende Erfahrung mache, ist mir vollkommen ausreichend.”

“Möchtest du mit mir jedes Klischee von ungesunden Beziehungen bedienen?”, fragt Kendra, wieder mit diesem Schalkschmunzeln.

“Möchtest du sie aufzählen? Vielleicht sind mir nicht alle bewusst”, schlägt Luna vor. Sie steht langsam auf und Kendra folgt ihrem Beispiel.

Kendra kommt dem Vorschlag ohne Umschweife nach. “Eine erotische Beziehung zwischen Chef und angestellter Person. Du bist Vampir und ich Mensch. Du bist um 200 und ich 17.”

“17?”, wiederholt Luna.

“Jop.”

“Shit! Wow, das war mir nicht klar”, sagt Luna. “Du könntest mich dafür anzeigen und mich einbuchten lassen. Nicht, dass es viel bringen würde.” Luna hat unzählige Male im Knast gesessen, früher, viel früher. Wenn sie es satt gehabt hat, gejagt zu werden. Aber es ist ihr stets irgendwann zu langweilig geworden. Aber wenn es für Kendra wichtig wäre? “Doch, es würde viel bringen. Wenn du das tun würdest, würde ich da bleiben, solange du das brauchst.”

Ganze Trupps von Menschen haben versucht, sie im Wald zu finden und zu ermorden. Weil sie sie für eine Gefahr gehalten haben, – womit sie natürlich nicht Unrecht hatten. Über Jahrzehnte hat Luna versucht, klarzumachen, dass sie nur im Wald eine Gefahr darstellt. Als Kompromiss. Sie hat gezeigt, dass sie der Gewalt, der sie im Dorf begegnet, nichts entgegensetzt, außer zu überleben, und schließlich eben aus Kerkern auszubrechen und sich in den Wald zurückzuziehen. Sie weiß nicht mehr, wann die Lage zum Besseren für alle gekippt ist. Nun kann sie üblicherweise ins Dorf gehen, ohne dass sie angegriffen wird. Viele erkennen sie nicht einmal.

“Es ist dir nicht egal? Also, die paar Jahre Unterschied, bis es rechtlich okay wäre?”, fragt Kendra.

Luna taucht aus ihren porösen Erinnerungen grausamerer Zeiten wieder auf und bedenkt Kendra mit einem langen Blick mit gerunzelter Stirn. “Meine Gründe sind noch absurder eigentlich”, sagt sie. “Ich weigere mich, mich freiwillig in so eine Romanzensache zwischen uraltem Vampir, aka mir, und einer Person zu verwickeln, die ausgerechnet 17 ist. In all diesen kitschigen, übergriffigen Romanen und Filmen sind sie 17, weißt du?”

“16 wäre okay?”

Sie kichern beide, aber Luna schüttelt den Kopf. “Ich muss in mich gehen. Ich fand es sehr schön. Es sprechen Dinge dagegen, es unter den Umständen zu wiederholen. Und dann wiederum kenne ich mich mit toxischem Mist eigentlich ziemlich gut aus und traue mir zu, mit dir ein gesünderes Beziehungsdings zu haben, als wahrscheinlich alles wäre, was du mit irgendwelchen in dieser Welt sozialisierten Gleichaltrigen erleben würdest.”

“Ähm…”, macht Kendra, sagt aber dann weiter nichts dazu.

Luna runzelt die Stirn. “Ja, vielleicht hast du recht, und es war falsch, was ich gesagt habe. Es spricht zu viel dagegen. Und gleichzeitig finde ich das Thema nicht unkomplex. Es wurden über all die Jahrzehnte, Jahrhunderte wohl, dazu verschiedene Sichtweisen gelebt. Keine davon gut. Aber…”

Kendra unterbricht sie. “Ich bin mir durchaus sicher, dass ich ein gutes Gefühl zu diesem Thema habe. Meine Kritik war eher, dass zwar viele Leute in meinem Alter Beziehungskram anfangen, der grenzverletzend und so weiter ist, aber ich kann ziemlich gut kommunizieren und meine eigenen Grenzen erkennen und verteidigen. Und ich habe gerade eigentlich keine Lust, das Thema auf eine nicht satirische Art auszurollen.”

“In Ordnung”, sagt Luna.

Der Waldweg, den sie nehmen, knirscht und raschelt leise unter ihren Füßen. Luna hat sich kurz gefragt, ob sie Kendra beim Gehen unterstützen sollte. Als Assistenz. Aber wahrscheinlich ist das beste, was sie machen kann, sich Kendras Tempo anzupassen. Sie machen den Bogen um den Wald herum Richtung Marktplatz. Luna rechnet damit, dass noch nicht Paolos Zeit ist. Sie rechnet damit, dass er später in der Nacht wieder ein paar Stunden auf der Bank verweilen wird. Von Paolo ist Luna sich relativ sicher, dass er zu dem Zweck so oft auf der Bank sitzt, um ihr aufzulauern, aber bei Kendra hat sie mit einer vergleichbaren Vermutung falsch gelegen.

“Was hältst du von der Idee, dass ich versuche, dich zu töten?”, fragt Kendra in Lunas Gedanken hinein.

Luna lacht. Das hat sie lange nicht mehr. “Da wäre ich für zu haben. Das wird scheitern, schätze ich. Warum willst du es? Hast du Mordlust und hättest gern, dass es keine Konsequenzen hat?”

“Sagen wir, ich habe ein wissenschaftliches Interesse an dir”, erklärt Kendra. “Ich würde gern untersuchen, wie du so physikalisch funktionierst.”

“Uh!” Luna wird ein wenig weich in den Knien. Das hat sie auch echt lange nicht mehr gehabt. “Ich mag dich.”

Kendra schnaubt. “Dann fügen wir diese ungesund anmutende Beziehungsebene auch noch hinzu.”

Sie erreichen das Dorf. Dünner Nebel aus dem Wald kriecht über das Pflaster. Es ist nichts mehr los. Kendra führt Luna zum Reihenhaus, in dem Angela wohnt. Also auch Paolo und Marcin. Und wo Bran gewohnt hat. Zufällig ausgerechnet das. Obwohl, vielleicht doch nicht so zufällig: Es ergibt Sinn, dass das Zimmer einer Verstorbenen frei wird. “Wohnst du ganz oben?” Luna hat nach Brans Tod mit Angela gesprochen und weiß inzwischen ein bisschen mehr über Brans Lebenssituation vor deren Tod. Angela ist auch zum Trauern zur Bank an der Klippe neben dem Geisterwald gekommen.

Kendra nickt.

“Das ist eigentlich unzumutbar für dich, oder? Daran arbeiten wir”, sagt Luna, und fügt rasch hinzu: “Wenn du möchtest.”

“Isst du eine passende Person auf, sodass ich deren Zimmer übernehmen kann?”, fragt Kendra.

Luna verzieht das Gesicht in einen Ausdruck zwischen Skepsis und Belustigung. “Ist dir bewusst, dass du in dem Zimmer einer Person wohnst, die ich ermordet habe?”

Aus Kendras überraschter, doch tonloser Reaktion schließt Luna, dass ihr das nicht bewusst gewesen ist. “Bran”, sagt Kendra.

Luna nickt. “Eine mutige Person.”

“Ist sie in den Wald gegangen? War das dein Grund, sie zu töten?”, fragt Kendra.

Luna nickt abermals. “Sie wollte, dass ich sie töte.” Wieder fühlt sie dieses zarte, sehnsuchtsvolle Reißen in ihr. Sie blickt Kendra an und findet in derem jungen Gesicht einen Ausdruck, der Luna gefällt. Etwas Ernstes und ein Stück Liebe. Aber vielleicht überinterpretiert Luna hier auch.

“Willst du noch mit hochkommen?”, fragt Kendra. “Beziehungsweise, wann sprechen wir über die Details unserer Beziehungsebenen?”

Luna lächelt. “Es berührt mich, dass du immer noch magst”, sagt sie. “Ich komme gern mit hoch.”

Kendra holt den Schlüssel aus der Tasche, aber bevor sie ihn ins Schloss stecken kann, öffnet Paolo die Tür. Er ist in eine dicke Jacke und eine warme Kordhose gekleidet. Kendras Blick wandert über seine Hose, die auf eine Weise Falten wirft, als würde sie auf weiterem Stoff haften. Paolo trägt vielleicht eine Leggins oder eine Strumpfhose unter der Kordhose. Es liegt also nahe, dass er wieder lange nachts unterwegs sein wird.

“Wer ist das?”, fragt Paolo Kendra und deutet mit einem Nicken auf Luna.

“Luna. Sie wird, wenn alles gut geht, meine Assistenz”, fasst Kendra zusammen.

Paolo wirft einen skeptischen Blick auf Luna. Und… da ist es wieder. Es wirkt, als würde er das Gesicht zum Weinen verziehen, aber statt dass Tränen aus seinen Augen träten, verfärben sich die ganzen Augenbälle silbern. Er blinzelt ein paar Mal und der Effekt verschwindet wieder.

“Beeindruckend”, murmelt Luna. “Echtes Silber?”

Paolo nickt. “Natürlich, sonst würde es ja nicht funktionieren.”

Kendra erinnert sich, dass Paolos Magie ist, Edelmetalle zu beeinflussen. Er beherrst sie ziemlich gut verglichen mit anderen in der Klasse, aber bisher ist er nicht sehr angetan von der Idee, Schmied für Schmuck zu werden, was ihm des öfteren vorgeschlagen wird. Kendra hat für ihn außerdem an eine Karriere im Bereich Medizin gedacht. Implantiertes Metall im Körper anzupassen, ohne die Notwendigkeit, jene zu öffnen, wäre sicher ein guter Einsatz seiner Magie. Aber sie hat noch nicht gewagt, ihm etwas vorzuschlagen, weil er ihr gegenüber oft abweisend ist.

“Oh wow, ich wollte eigentlich einen Scherz machen.” Luna runzelt belustigt die Stirn. Sie kann diese Person einfach nicht so wirklich ernst nehmen. “Und was funktioniert dadurch?”

“Ich kann damit sehen, ob jemand ein Vampir ist”, erklärt Paolo. “Vampire und Silber funktionieren nicht zusammen, richtig? Also sehe ich, wenn ich meine Augen mit einer Silberschicht überziehe, einen Unterschied zwischen Mensch und Vampir.”

“Hast du Belege dafür, dass es funktioniert?”, fragt Kendra.

“Du immer mit Belegen! Wie stellst du dir das vor?” Trotz seiner offenkundig üblen Laune hält er Kendra und Luna die Tür auf. “Wahrscheinlich sollte ich deiner Ansicht nach eine Studie durchführen. Aber bislang ist mir nur ein Vampir bekannt. Und von dem weiß ich nicht, wie es aussieht oder wie ich es finde. Erklär mir bitte die Erfolgschancen einer Studie!”

Kendra wirft Luna einen Blick zu und fängt ihren amüsierten auf. “Ich habe kein Problem mit einer unwissenschaftlichen Herangehensweise mangels besserer Mittel”, hält Kendra fest. “Ich habe ein Problem damit, wenn du die Herangehensweise ohne irgendwelche Beweise unhinterfragt als wirksam einordnest. Aber vielleicht sollte mir das auch egal sein, abhängig davon, ob etwas Wichtiges davon abhängt oder nicht. Was willst du überhaupt machen, wenn du über eine Person erfährst, dass sie ein Vampir ist?”

“Sie töten”, informiert Paolo. “Hast du damit ein Problem?”

Kendra schnaubt. “Das Vorhaben teile ich immerhin.”

“Du bist auf Vampirjagd?” Das erste Mal, seit sie Paolo kennt, fühlt Kendra keine Ablehnung in seiner Reaktion.

“Ich will versuchen, ein Vampir zu töten. Von Jagen war keine Rede”, antwortet Kendra mit einem Lächeln. Sie deutet auf ihren Stock und bewegt sich endlich in die Wärme des Hauses. Luna folgt ihr.

“Ich halte Ausschau!”, sagt Paolo, deutet seinerseits auf seine Augen und zwinkert. Er fügt hinzu: “Aber nichts für ungut: Du bist behindert. Ich weiß nicht, wie du es mit einem Vampir aufnehmen willst.”

“Da sind wir ja schon zwei, was es anbelangt, die jeweils andere Person für nicht so fähig einschätzen, ihr Vorhaben umzusetzen.” Kendra grinst. “Ich traue deinem Silbertest nicht. Aus guten Gründen.”

“Wieso? Ist jemand von euch beiden ein Vampir?” Paolo erwidert das Grinsen.

Luna nickt, blickt Kendra an, blickt Paolo an und deutet auf sich. “Meine Wenigkeit.”

Paolo starrt.

Kendra und Luna kichern.

“Kein Witz?”, fragt Paolo.

“Ich finde das alles durchaus sehr witzig”, sagt Luna. “Aber ich bin diese Vampirperson, die du suchst. Das hast du schon richtig verstanden.”