Unter dem Deckmantel

CN: Misgendern, Mord, Erpressung, Entführung, Damsel in Distress, Derealisation, vielleicht Dissoziation.

Lilið versuchte, zu realisieren, was sie da gerade getan und erlebt hatte. Aber es gelang ihr nicht.

In ihrer Kindheit hatte sie sich oft Abenteuer ausgedacht, in denen sie selbst die Hauptrolle gespielt hatte. Oft war sie in den Tagträumen Nautika gewesen, hatte sich als Mann verkleidet und andere in dem Zusammenhang über ihre Identität betrogen (weniger über ihr Geschlecht, sondern weil sie ja ausweisende Papiere mit anderem Namen gebraucht hätte), und war zur See gefahren. Nautika war kein Beruf, der Frauen zugetraut wurde, obwohl es auch weibliche Nautikae gab. Sie hatte sich in diesem Träumen oft schwer getan, sich zu entscheiden, ob sie als Protest als vermeintliche Frau Nautika werden wollte, oder ob sie lieber nicht noch häufiger darauf angeprochen werden wollte, angeblich eine Frau zu sein und etwas Ungewöhnliches für eine Frau zu tun. Sie war zum Schluss gekommen, dass sie in der Realität eher ersteres getan hätte, aber in ihren Träumen wollte sie den Schmerz nicht fühlen, wollte sie nicht durch diese Hölle an fast physischen Schmerzen gehen, die es auslöste, als Frau eingeordnet zu werden. In der Realität hätte sie trotzdem am sexistischen Gefüge rütteln wollen und es in Kauf genommen. In ihrer Traumwelt wollte sie Abenteuer erleben, wo anderes wichtiger war.

Sie hatte sich Abenteuer in ihrem Kopf ausgemalt, die vielleicht ungefähr so aufregend gewesen waren wie dieses, in dem sie gerade steckte. Und genau so fühlte sich dieses an: Losgelöst von der Realität, als hätte sie sich das ausgedacht. Oder jemand anderes, und sie würde darin jetzt bloß leben wie in einem Schauspiel. Es gab darin zu viele Elemente, die in ihrem Alltag nie vorgekommen waren, und zu viel Grauen, das sie nicht direkt betraf (noch nicht), zu hohes Risiko, dass alles unüberblickbar und unwiderruflich aus dem Ruder laufen konnte, als dass sie im Stande wäre, mit dem Realisieren erfolgreich zu sein.

Vielleicht, wenn sie hätte realisieren können, hätte sie gewusst, was sie fragen sollte, was gerade wichtig war. So hatte sie keine Ahnung, welche der vielen Fragen, die sie hatte, sie priorisieren sollte.

Marusch und sie hatten sich wieder entfaltet, umgezogen und sich dann rasch aufgemacht. Marusch führte sie am Saum der Insel entlang, weg vom Dorf. Sie verweilten nicht am Strand, wo die Ormorane schlief, sondern spazierten noch etwas weiter in Richtung des kühlen, dunklen Irkenwaldes am Rande der Hafenbucht nah an der Küste, wo sie ihr Lager aufschlagen wollten. In den dünnen, tagsüber silbrigen Blättern flüsterte der Wind und ein Ulendrache schuhuhte aus der Ferne. Manchmal glimmte ein sachtgrüner Schein im Wald auf, wenn die Ule Feuer spieh, um sich oder ihren Jungen Beute zu grillen. Sie drangen nicht tief in den Wald ein und sahen fast nichts. Marusch machte nur selten etwas Licht, aber war trotzdem erfolgreich darin, einen versteckten, weniger zugewucherten Platz nah am Waldrand für ihr Zelt zu finden.

Bis hier hin hatte Lilið geschwiegen, sich die Zeit genommen, um sich zu sortieren, war aber gescheitert. Nun beschloss sie, Fragen zu stellen, selbst wenn ihr nicht klar war, wo sie mit ihnen jeweils hinwollte. Sie hatten zwar mehr Zeit für die Vorbereitung eines Plans als vorhin, aber eben auch nur höchstens einen halben Tag und den Rest der heutige Nacht.

“Wieso liegt dir so viel an der Kronprinzessin?”. Das war die Frage, die sie am meisten beschäftigte. “Oder ist es quasi eine Gelegenheit, etwas zu tun, was in diese Kategorie von Verbrechen fällt, die wir besprochen haben? Aber so richtig antiautoritär kommt mir das nicht vor.”

Marusch antwortete nicht, sondern fuhr damit fort, das Zelt aufzustellen. Lilið packte mit an, damit es schneller ginge. Sie hatten es schon so oft mit schlechten Sichtverhältnissen getan, dass sie es inzwischen mit Marusch im Dunkeln konnte. Aber als Marusch auch noch ihre Schlafunterlagen ausbreitete, bohrte sie doch nach. “Hast du noch vor, zu antworten?”

“Ich denke nach.”, sagte Marusch.

Lilið blickte alarmiert zu ihr hinüber, als etwas blau aufflackerte. Sie hatte in der Stimme auch schon wieder dieses Leblose wahrgenommen. Die Flammen waren fast sofort wieder weg. “Was brauchst du?”, fragte Lilið. Wann immer Marusch ihr diese Frage gestellt hatte, war sie gut gewesen.

Marusch hielt in ihrer Bewegung inne, verkrampfte einen Moment und räumte dann ihr Gepäck zurecht. Das war für die Vorbereitung der Nacht der letzte Schritt. “Können wir uns vors Zelt setzen?”, fragte sie.

Lilið stimmte zu und verließ das Zelt. Wenige Momente später folgte Marusch und setzte sich zu ihr vors Zelt mit Blick auf die Wasserkante, die sie immerhin im Mondlicht glitzern sehen konnten. “Deine Frage reicht in meine Vergangenheit rein, über die ich nicht reden möchte.”, antwortete sie. “Es ist vollkommen verständlich, wenn du deshalb jetzt lieber aus dem Vorhaben, sie zu retten, aussteigen möchtest.”

Lilið versuchte, sich nicht enttäuscht zu fühlen. Sie wollte gern nicht enttäuscht sein. Aber ein unsinniger Teil von ihr hatte sich gewünscht, dass sie Marusch nun nah genug war, dass sie ihr davon erzählen würde. Vielleicht wäre es auch etwas anderes gewesen, wenn Marusch damals nicht angedeutet hätte, dass es sich irgendwann ändern könnte, sondern stattdessen die Grenze unabhängig von Wohlfühlen und Vertrauen gezogen hätte.

Ihr Kopf lenkte sie von diesem Gefühl mit einer gewagten Theorie ab. Jene Gedanken waren vielleicht noch weniger sinnvoll, aber Lilið konnte sich nicht daran hindern, ihre Hypothese einmal grob durchzudenken: Sie hatte ja schon damals die Idee gehabt, dass Marusch Wache der Königin gewesen sein könnte. Auf diese Weise hätte sie eine Vergangenheit gehabt, in der sie Menschen ermordet hätte und in der es ihr zugleich leicht gefallen wäre, auf den Angelsoger Adeslball zu gelangen und sogar die Königin selbst abzuziehen. Was, wenn Marusch als Wache einmal die Aufgabe gehabt hätte, die Prinzessin zu beschützen, und es ihr nicht gelungen war? Was, wenn die Prinzessin mit ihrem Skorem innerhalb ihrer Blutsverwandtschaft deshalb so aus der Reihe fiel, weil irgendetwas passiert war, ein Unfall oder so etwas, den Marusch hätte verhindern sollen? Und nun hatte die Kronprinzessin einen lebenslangen Stempel, all das Schreckliche, was ihr drohte, hing davon ab, und Marusch fühlte sich in der Verantwortung.

Dafür, dass sie sich das gerade frisch ausgedacht hatte, ergab die These überraschend viel Sinn. Leider half sie in sofern nicht weiter, als dass sie zwar jetzt wusste, dass sie Marusch in so einem Fall dringend helfen wollen würde, aber sie ja gar nicht wusste, was wirklich vorlag. Gab es eine Theorie, die sie sich ausmalen könnte, auf der aufbauend sie Marusch keinesfalls helfen wollte?

“Würdest du bei der Rettungaktion Leute töten, wenn es nötig wird?”, fragte Lilið.

“Ja, auf jeden Fall.”, antwortete Marusch ohne Zögern.

Wow, dachte Lilið. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie schluckte. “Ist es in Ordnung, wenn das für mich nicht in Frage käme?”, fragte sie.

“Dass es für dich nicht in Frage käme, selbst zu töten, oder geht es darum, dass du mit mir nicht zusammenarbeiten würdest, wenn ich in eine Situation geriete, in der meine Wahl zwischen Töten von Personen und Kronprinzessin in Gefahr zurückzulassen auf ersteres fiele?”, hakte Marusch nach.

Das gab Lilið zu denken und reduzierte ihr Schockgefühl von eben. “Es geht dir nicht darum, dass du gewissenlos töten würdest, sofern es dich deinem Ziel näher brächte, sondern darum, dass du es sozusagen aus Notwehr tun würdest?”

Marusch legte nachdenklich einen Daumen an ihre Nase. Lilið war diese Geste noch nie aufgefallen. “Ich finde die Frage schwierig.”, antwortete Marusch. Sie klang dabei, als würden sie über die Logik hinter Magie reden, über ein interessantes und sehr abstraktes Thema. “Zum einen bin ich, wie ich dir mal erklärte, gewissenlos. Was nicht heißt, dass ich Töten in irgendeiner Weise in Ordnung oder gar gut fände. Wie erkläre ich mein Verhalten?” Sie holte tief Luft und blickte dabei in den Abendhimmel. “Das wird nun technisch, aber du verstehst so etwas ja. Von jedem Moment aus ergibt sich ein Universum an Handlungsspielraum, an Pfaden, was von dort an passieren wird, und die ich durch meine Entscheidungen beeinflussen, aber vielleicht nicht überblicken kann. Ich schätze ein, welche Entwicklungen wie wahrscheinlich sein sollten. Und von allen Pfaden, die aus meiner Sicht am wahrscheinlichsten dazu führen, dass ich der Prinzessin helfen kann, werde ich, so gut ich kann, den mit dem wenigsten Schmerz wählen. Unter Schmerz zähle ich Morde, aber auch andere Art von Schmerz.”

Lilið wartete ab, ob Marusch noch etwas hinzufügen würde, aber das tat sie nicht. “Das klingt berechnend.”, sagte sie. Aus irgendwelchen Gründen spiegelte sie Maruschs Stimmung. Obwohl sie glaubte, dass sie sich eigentlich grauenvoll fühlen sollte, fühlte sie stattdessen allmählich eine innere, kalkulierende Ruhe. Wollte sie das?

Marusch nickte. “Ich bin berechnend.”, bestätigte sie. Vielleicht, um Lilið jegliche anderweitige Illusionen zu rauben. “Bei diesem Plan bin ich es. Wobei es auch sehr viel nicht Berechenbares darin geben wird. Es wird lebensgefährlich. Unterschätz das nicht.”

“Ich glaube, das tue ich nicht.” Lilið bemerkte, dass sie nicht ganz überzeugt klang, was aber, so glaubte sie, nicht daran lag, dass sie das Risiko als zu klein einschätzte, das sie eingehen würde. “Ich gehe davon aus, wenn ich mich als Nautika ausgebe, als das ich an Bord einer Kagutte mit einer Crew aus dem Königreich Sper anheuere, die die Kronprinzessin entführt hat, dass ich da nicht einfach rauskommen werde, wenn ich auf der Fahrt entlarvt würde.” Sie fühlte noch einmal bewusst in sich hinein, ob die Angst nun endlich einsetzen würde, aber das tat sie nicht. “Ich bin aber in einem Gefühlsmodus, in dem sich alles unreal anfühlt, wie eine Geschichte, in der ich lebe, oder in einer Parallelwelt.”

Marusch blickte sie lange nachdenklich an. Dann sagte sie: “Jetzt wo du es sagst, fällt mir auf, dass ich mich vielleicht noch nie so oft verankert in der Realität gefühlt habe, wie in den letzten zwei Wochen mit dir.” Sie ließ ihren Worten ein paar Momente zum Klingen, atmete und lächelte. “Aber ich möchte dir nicht zumuten, dass es dir so geht wie mir sonst. Ich möchte dich nicht in Abgründe drängen.”

“Und doch hast du vorhin von mir schon in der Rolle des Nautikas geredet.”, erinnerte Lilið sie.

“Das tut mir leid.” Marusch klang nicht reuevoll, aber Lilið wusste trotzdem, dass sie es ernst meinte. “Das ist mir in der hektischen Planungsfindung passiert. Weil, nun, du bis zur Abfahrt der Kagutte Nautika sein wirst und ein Nautika gebraucht wird, verstehst du? Das Puzzle-Stück passte zu gut. Aber nichts gibt mir das Recht, dich einzuplanen. Ich möchte, dass du für dich entscheidest, ob es dir die Sache wert ist, und zwar nicht für mich, sondern für dich.”

“Und wenn es für mich die Sache wert wäre, weil es dir wichtig ist?”, fragte Lilið.

Marusch antwortete nicht sofort und senkte den Blick. “Das würde ich akzeptieren.”, sagte sie schließlich leise. “Vielleicht würde ich mehr versuchen, gegen deine Motivation zu argumentieren, wenn es nicht um die Prinzessin ginge.”

“Für die du morden würdest.”, wiederholte Lilið.

Marusch nickte einfach nur.

“Was wäre, wenn sich irgendwie ergäbe, dass es der Prinzessin helfen würde, wenn du mich ermordetest?”, fragte sie trocken.

Marusch hob den Kopf wieder und lachte ton- und freudlos. “Ich halte sämtliche Situationen, in denen das der Fall sein könnte, für extrem konstruiert und unwahrscheinlich. Ich bin sie trotzdem durchgegangen.”, sagte sie. “Grob zusammengefasst: Wenn du die Prinzessin nicht bedrohst, sehe ich keinen Grund, wie es dazu kommen kann, dass du dem Unterfangen, ihr zu helfen, so sehr im Weg stehen würdest, dass dich zu töten ihr irgendwie helfen könnte. Wenn du sie bedrohst, dann bedeutet das, dass ich dich entweder sehr schlecht gekannt habe oder dass du Gründe hast, die ich derzeit nicht sehe. Ich würde dir eher vertrauen, dass sie gut sind, als irgendwem sonst, also dich in dem Fall auch eher unwahrscheinlich ermorden. Etwas wahrscheinlicher mag es Situationen geben, in denen ich die Wahl hätte, dich oder die Prinzessin zu retten, aber bei so einer Wahl, die nebenbei gesagt sehr hart wäre, würde ich dich nicht aktiv töten, sondern höchstens zurücklassen. Hilft dir der Einblick? Oder soll ich weiter ausführen?”

Interessanterweise führte Maruschs Ausführung nicht dazu, dass Lilið sauer wäre oder sich unsicherer fühlte. Sie begriff, dass sie eine von diesen ethisch miesen Fragen gestellt hatte, die nur schlimm beantwortet werden konnten. Sie schüttelte den Kopf. “Es tut mir leid, dass ich das gefragt habe.”

“Es ist in Ordnung. Frag alles, was du fragen musst.”, antwortete Marusch. “Ich habe allerdings zugegebenermaßen damit gerechnet, dass diese Antwort dir reicht, um zu verstehen, wie ich dazu denke.”

Lilið nickte abermals. Nun, da dieser Gesprächsfaden abgeschlossen war, brauchte sie wieder einen Moment, bis ihr neue Fragen einfielen. Die mit der sie sich nun befasste, war: Würde sie sich dafür entscheiden, die Kronprinzessin zu retten, wenn es nicht Marusch gewesen wäre, die das in die Gänge geleitet hätte, sondern sie zufällig eine Begegnung haben, aus der sich die Möglichkeit halbwegs sicher ergäbe, mit in einen entsprechenden Plan einsteigen?

Wut loderte in ihr auf, als sie darüber nachdachte. Sie kannte die Kronprinzessin natürlich nicht und Lilið war zudem im Allgemeinen von der Staatsform Monarchie nicht begeistert, aber sie hasste alles daran, dass eine Person so sehr Spielball der Mächte war. Ja, die Prinzessin hätte von vornherein abdanken können. Das hätte Lilið vielleicht besser gefunden, als ihren Plan, Königin zu werden und keine vorgesehenen Handeslverträge einzugehen. Sie konnte sich eine Motivation dahinter vorstellen, dass die Prinzessin so entschied, aber es war einfach sehr egoistisch, hätte üble Folgen für alle. Aber der Grund, warum diese Verträge überhaupt vorgesehen waren, war einzig ihr geringer Skorem, wenn es mal auf das Wesentliche heruntergebrochen wurde. Ja, es wurde geredet, dass es etwas anderes wäre, wenn sie gute Kommunikationsstrategien hätte, aber jene wären auch nur ein Ausgleich. Wenn sie einen hohen Skorem hätte, hätte sie keine allzu überzeugende Rhethorik beherrschen müssen. Niemand hätte das verlangt.

So sehr Lilið trotzdem bessere Möglichkeiten für die Kronprinzessin sah, mit ihrer Lage umzugehen, sei es eben abzudanken oder sei es bessere Kompromisse oder ein diplomatischeres Verhalten an den Tag zu legen, um wenigstens das Volk mehr von sich zu überzeugen, so sehr verabscheute Lilið auch, dass sich Leute herausnahmen, sie so entmenschlichend zu behandeln. Lilið glaubte kaum, das je jemand gewagt hätte, den Kronprinzen oder die Königin zu entführen. Einfach, weil der größte Teil des Volks zu viel Respekt gegenüber jenen Personen hätte. Eine entsprechende Erpressung würde dann nach hinten losgehen. Die Königin war zu beliebt, weil sie souverän war und bei ihren Entscheidungen auf das Volk und seine Wünsche einging, oder ihre Entscheidungen trotzdem nachvollziehbar machte. Der Kronprinz war mit seinem Skorem von wieviel? sehr privilegiert, wurde dafür allein schon zu sehr respektiert und zudem konnte er gefährlich werden.

Ja, Lilið hätte am liebsten die Königin auf ihrem Thron behalten, aber das stand nicht mehr lange zur Debatte. Und darauffolgend wollte Lilið sicherlich die Prinzessin nicht regierend wissen, weil sie die Willkür und Machthungrigkeit fürchtete, aber sie würde noch weniger wollen, dass das Königreich, zu dem sie gehörte, König Sper unterfiel, dieser sexistischen, schmierigen Herrschaftskatastrophe, oder dass ein privilegierter Kronprinz mit dem höchsten je in einer Monarchie-Familie gemessenen Skorem überhaupt regieren würde, der nur sich selber sah. Beides führte vermutlich zu weniger schlimmen Veränderungen und hatte weniger Kriegspotenzial, und trotzdem wollte sei beides weniger. Ihr gefiel an sich der Gedanke einer Frau mit niedrigem Skorem auf dem Thron (noch lieber natürlich einer Person, die nicht Frau oder Mann war mit niedrigem Skorem), wenn jene in der Lage gewesen wäre, zum Beispiel Liliðs Interessen gut zu vertreten. Was an sich schon schwierig war, weil es wahrscheinlich ein Anrudern gegen Seeplattenströmungen wäre, selbst wenn es eine erheblich geschicktere Person wäre als die Kronprinzessin. Bei jener war aussichtslos, dass sie irgendeine Gruppe sinnvoll vertreten konnte. Vielleicht wollte sie es nicht einmal.

Lilið merkte, wie sie sich in Gedanken verhedderte, obwohl sie eigentlich längst die Antwort gefunden hatte. “Ich würde gern bei der Rettungsaktion mitmachen. Nicht nur, weil er dir wichtig ist, sondern auch, weil ich von der Sache an sich ausreichend überzeugt bin.”, sagte sie. “Unter zwei Bedingungen: Das Buch wird vorher zurückgegeben, sodass mein Vater außer Gefahr ist. Und ich möchte gern über den Plan dieses Mal möglichst genau im Bilde sein. Ich möchte gern, dass du mit mir am besten alle Eventualitäten durchgehst, die du dir selbst schon überlegt hast. Ich möchte mich in dem Plan am Ende fühlen können, als würde ich ihn mit dir auf Augenhöhe durchziehen, und nicht als eine Rolle in einem Spiel, das nur du ganz kennst.”

Marusch nickte. “Einverstanden.”, sagte sie. “So habe ich mir das vorgestellt.” Sie runzelte die Stirn und fuhr sich durchs Haar. Auch eine Geste, die Lilið an ihr noch nicht oft gesehen hatte. Sie fand sie sehr schön. “Also, für den Fall, das du mitmachst.”, ergänzte Marusch. “Für den Fall ging ich davon aus, dass die Buch-Sache erledigt werden muss und dass wir alles gemeinsam so gut vorbereiten, dass du mit mir gleichberechtigt und im Zweifel eigenständig Entscheidungen fällen kannst.”

Lilið fühlte, wie Anspannung von ihr abfiel. Von ihnen beiden. Weil ein Entschluss gefasst war. Dann ginge es jetzt wohl ans Planen und Absprechen. Sie fingen mit einem Zeitplan an, der auch ein paar Stunden Schlaf vorsah und auf den Informationen aus dem Brief des Nautikas beruhte.


Der Mantel eines Nautikas war oft das wertvollste, was es besaß. Das hieß nicht zwangsläufig, dass er von hohem Wert wäre, außer für das Nautika selbst natürlich. Manche Nautikae besaßen einfach fast nichts, was nicht bloß ideellen Wert hatte. Es kam darauf an. Manche Nautika trugen durchaus ihre eigenen Karten mit sich herum. Das machte sie flexibler, weil sie dann auch von Crews angeheuert werden konnten, die Kartenmaterial nicht selber stellten. Manche Nautikae mochten auch einfach aus Gewohnheit ihren eigenen Kartensatz benutzen, in den sie vielleicht sogar Notizen gemacht hatten. Manche Nautikae kartographierten auf Reisen auch und hatten deshalb eigenes Material dabei. Eigentlich war üblich, dass größere Schiffe und Crews Kartenmaterial stellten, aber manche Crews waren aus verschiedenen Gründen zu schlecht ausgerüstet oder zu abenteuerlustig oder fanden eben, ein gutes Nautika sollte eigene Karten mitbringen. In jedem Fall brachte es dem Nautika mehr Flexibilität, eigene Karten zu haben, aber bedeutete auch ein höheres Risiko, überfallen und ausgeraubt zu werden. Dieses Nautika, dem sie den Mantel gestohlen hatten, hatte einen eigenen Satz Karten dabei gehabt, sowie ein Büchlein, in dem es Kurse geplant hatte. Es war erst vor wenigen Wochen angebrochen worden.

Lilið hatte trotzdem keine Zeit, alle Einträge durchzugehen. Und da ihre Schrift erkennbar nicht die selbe war wie die des Nautikas, war es besser, es nicht dabei zu haben. Sie warf lediglich einen Blick hinein und besah sich einige Routen, um sich mit dem Kartenmaterial grob vertraut zu machen und einen Stil zu erkennen.

Interessanterweise war auch jenes Nautika von Angelsoge hergekommen, allerdings über eine andere Route mit längeren Zwischenstopps auf größeren Inseln. Aus den Notizen zu schließen, die es manchmal an den Rand schrieb, hatte es die Person aus dem Königreich Sper vor zwei Tagen hier kennen gelernt. Es stand darin, dass sie bei Gesprächen über Politik näher zusammen gefunden hatten und das Nautika hoffte, dass sie sich einmal wieder begegnen würden. Mehr nicht.

Neben der Einladung befand sich im Mantel noch ein Empfehlungsschreiben einer Person, die so krakelig unterschrieben hatte, dass weder Marusch noch Lilið den Namen entziffern konnten. Marusch hätte gern gewusst, ob dahinter vielleicht eine Lord- oder Ladyschaft oder so stand (sie hatten sich immer noch kein neutrales Wort ausgedacht), die sie gekannt hätte. Es wäre interessant gewesen, zu wissen, welcher Adel der Monarchie wie gegenüberstand.

Abgesehen von ein paar Marken, die ihnen auch nicht weiterhalfen, und einem kleinen Stofffisch enthielt der Mantel nichts. Den Fisch hätte Lilið gern zurückgegeben, denn er war sicher von emotionalem Wert für das Nautika und brachte ihnen überhaupt nichts. Aber dazu war es zu spät.

Jedenfalls, wenn für ein Nautika etwas von Wert war, so war davon auszugehen, dass es im Mantel steckte, wenn es hineinpasste. Das war einer der Gründe, warum Marusch den Mantel hatte haben wollen. Sie hatte damit gerechnet, dass sie darin am ehesten Informationen finden würden, die sie brauchten. Die Informationen waren mau, aber hatten ihnen weitergeholfen. Lilið hatte sich darüber gewundert, wie wenig Persönliches darin war, etwa hätte sie mehr persönliche Briefe erwartet, aber Marusch wunderte das nicht. Sie erklärte, dass auch das Nautika gewusst hatte, dass es sich in eine gefährliche Lage brachte und wahrscheinlich Dinge, an denen zu viel Information klebte, aussortiert und irgendwo auf der Reise bei befreundeten Menschen oder Familie zurückgelassen hatte.

Ein viel wichtigerer Grund für den Diebstahl des Mantels war allerdings, dass so ein Mantel eines Nautikas auch eine Ausweisfunktion hatte. Mäntel, die Nautikae trugen, waren nicht einfach bloß Mäntel. Sie waren auf sie angepasst und wetterfest, wie Liliðs Jacke. Sie reichten fast zum Boden, was durchaus Eindruck machte, und das war kein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Nautikae hatten Vorteile davon, als solche erkannt zu werden. Für Jollen war diese Länge unpraktisch, zumindest in der Mantelform. Mäntel von Nautikae hatten allerdings Verschlüsse und Schnüre, mit denen sie unten in eine Hose umfunktioniert werden konnten. Eine, die so stabil war, dass sie das Körpergewicht des Nautikas darin tragen konnte. Ein Nautika konnte den in einen Anzug umfunktionierten Mantel auf diese Art nutzen, um sich für Reparaturarbeiten in den Mast zu ziehen oder weit über Bord zu hängen, die Füße am Bootsrand, um ein Boot mit Gewichtstrimm bei noch stärkerem Wind aufgerichteter zu segeln.

Zu Liliðs Überraschung passte ihr der Mantel fast wie angegossen, wenn sie nur ihre Brüste wegfaltete. Was sie ohnehin schon halb geplant hatte, jetzt, da sie es konnte. Sie würde aufpassen müssen. Dauerhafte Faltung tat dem Körper nicht gut, schmerzte sogar nach einer Weile, und spätestens nachts im Schlaf würde sich die Faltung wahrscheinlich von selber lösen. Sie musste zusehen, dass sie Zeiten an Bord der Kagutte finden würde, in denen sie sich entfalten könnte, während niemand hinsah.

Aber erst einmal musste sie natürlich überhaupt an Bord kommen.

Sie konnte jedenfalls nicht leugnen, dass sie sich wohl im Mantel fühlte. Sie wäre natürlich gern ehrlicher an einen gelangt, einen, der sich dann auch wie ihr Eigentum angefühlt hätt, aber sie hatte sich in diesen schon vorhin im Imbiss verliebt, als sie ihn das erste mal erfühlt hatte.

Sie brachen nach einigen Stunden Schlaf wie üblich zum Sonnenaufgang auf. Den groben Plan hatten sie vorm Schlafen noch festgesteckt, auf der Fahrt sprachen sie über Einzelheiten und entwarfen Alternativpläne für den Fall, dass ihr Hauptplan scheiterte.

Lilið steuerte den Handelshafen an, in dem auch das Treffen stattfinden würde. Dort würden sie sich auftrennen. Während sie sich im Hafen ihr Zertifikat abholen würde und anschließend versuchen würde, anzuheuern, würde Marusch die Ormorane alleine etwa eine Stunde an der Küste entlang segeln, bis sie einen kleinen Jollenhafen nah des Zweitwohnsitzes erreichen würde, wo sich so oft Liliðs Mutter aufhielt. Lilið wusste, dass es dort eine Bootshalle gab, in der nicht selten Boote fremder Leute für einige Wochen ruhten, ohne dass es auffällig wäre.

Sie hatten abgesprochen, dass Marusch sich ihrer Mutter offenbaren würde, und dass sie ihre Mutter einbinden würden. Marusch hatte als Nachweis dafür, dass sie mit Lilið befreundet war, ihre geliebte Jacke, einen persönlichen, kurzen Brief, den sie gestern noch geschrieben und in eine Elikane gefaltet hatte (einem Drachen mit einem etwas überdimensioniert breiten Maul, der in Sümpfen lebte), und ein Geheimnis, das am Hof nur ihre Mutter kannte. Irgendetwas Peinliches aus ihrer Kindheit. Ihre Mutter würde es wahrscheinlich schaffen, Zugang zu den Tresoren zu bekommen, wenn sie dabei den Schatz der Monarchie zurückbrachte. Dazu würden sich ein paar Wachen finden, die sich bereiterklären würden, zu helfen, weil ja schließlich alle im Hause Lurch davon profitieren würden.

Es war ein seltsames Gefühl, Marusch das Leben ihres Vaters in die Hand zu geben, und auch ihre geliebte Jacke. Aber sie erinnerte sich daran, dass Marusch ein eigenes Interesse an der Rückgabe des Buches hatte, um Lilið zu helfen, weil Liliðs Leben gefährdet war, käme raus, dass sie der Blutige Master M war. Wäre es Marusch nur darum gegangen, ihren Vater für sie zu schützen, dann hätte sie vielleicht nicht genug darauf vertraut, dass Marusch sich nicht bei der kleinsten Gefahr umentscheiden würde. Aber so? So vertraute sie. Eine Restangst blieb trotzdem. Wie würde sich Marusch verhalten, wenn Lilið nicht dabei wäre? Und es war darum gegangen, die Gefahr, in der Lilið schwebte, aufzulösen. Nun begab sie sich direkt in eine größere, neue. War es für ihr eigenes Leben dann überhaupt noch signifikant von Vorteil, den Fall mit dem Schatz der Monarchie abzuschließen?

Sie wäre gern mitgekommen. Aber leider passte das zeitlich nicht. Das Treffen mit der Crew war für frühen Nachmittag anberaumt, also so, dass das Nautika es locker hätte erreichen können, wenn es auch zum Sonnenaufgang aufgebrochen wäre. Sie hätte etwas weniger Zeit, dahin zu gelangen, weil sie zuvor ihr Zertifikat abholen musste. Aufbruch der Kagutte war für heute Abend geplant, und es konnte gut sein, dass die Crew sie bis dahin vereinnahmte. Wenn sie in alles eingeweiht wäre, würde sie vielleicht nicht leichtfertig von Bord gelassen. Auf jeden Fall war es unwahrscheinlich, dass sie nach dem Anheuern und vor der Abfahrt ohne Verdächte auf irgendetwas zu erregen, drei Stunden hätte verschwinden können, die sie gebraucht hätte, um das Buch zurückzubringen.

Wenn sie es schaffte, an Bord zu gelangen, würde sie die Kagutte möglichst unauffällig in der Gegend hin- und hernavigieren. Nicht so dicht vor der Küste, dass sie Nederoge wiedererkennen könnten, sondern zwischen den Reiseinseln, die sich so verwirrend bewegten, dass kaum ein Mensch, der sich nicht sehr gut auskannte, davon Wind bekommen würde. Hoffte sie. Marusch wusste, wo ungefähr sie plante, sich absichtlich zu verirren, und würde eine Rettungscrew organisieren. Das hörte sich für Lilið im ersten Moment schwieriger an, als es war. Aber eigentlich musste Marusch dafür nur den richtigen Leuten Bescheid sagen. Natürlich hätte die Königin ein Interesse daran, dass die Prinzessin gerettet würde. Und dass Marusch im Zweifel die Königin selbst erreichen würde, traute Lilið ihr zu.

Würde Lilið nicht an Bord gelangen, weil irgendetwas bei ihrer Vorstellung schief ginge, würde Marusch behaupten, das Nautika zu sein und von Lilið bestohlen worden zu sein. Falls Lilið nicht selbst geschafft hätte, zuvor zu fliehen, würde Marusch sie von Wachen zu Lord Lurch bringen lassen, so der Plan. Es war der, der Lilið in dem Fall die besten Überlebenschancen einbaute, aber es war auch ein haariger Notfallplan für ein besonders unglückliches Szenario, in dem Lilið nicht abgekauft würde, das richtige Nautika zu sein, und sie nicht selber fliehen konnte. Solange sie nicht an Bord wäre, standen ihre Fluchtmöglichkeiten als Person mit Faltmagie allerdings nicht unbedingt schlecht. Wenn sie fliehen könnte, könnte sie auch versuchen, Marusch zu informieren, wodurch sie aufgeflogen wäre und sie könnten gemeinsam überlegen, was Marusch beim Anheuerversuch besser machen müsste. Lilið mochte nicht daran denken, denn in jedem Fall wäre ein zweiter Anheuerversuch durch Marusch nach einem gescheiterten durch sie mit extrem hohem Risiko verbunden.

Marusch würde nach der Rückgabe des Buches also wieder zum Handelshafen kommen, um im Zweifel gescheiterte Pläne aufzufangen, aber eigentlich in der Hoffnung, Lilið an Bord vorzufinden. Marusch würde dann nicht an Bord gelangen können, aber sie hatten sich eine Reihe unauffälliger Gesten überlegt, mit denen sie über eine Distanz hinweg kommunizieren konnten, was vom Plan jeweils geklappt hätte.

Es war der abenteuerlichste Plan, an dem Lilið je beteiligt gewesen war. Als sie im Handelshafen ausstieg und Marusch hinterherblickte, wie diese davon segelte, war ihr schon ein wenig mulmig. Marusch hingegen wirkte entspannt und winkte, verhedderte sich in den Schoten, weil sie ja nun zwei bedienen musste, sortiere alles wieder, lachte und winkte noch einmal. Es war ein schönes Lachen.