Einbruch bei Dunkelheit

CN: Sex, Erotik, Vergiftung als Thema, politische Morde.

Die feuchte Nachtluft strich kühl und angenehm über Liliðs Gesicht. Der Anzug, so gern sie ihn hatte, war ihr zu warm. Vielleicht hätte sie die Anzugjacke ausziehen und über ihren Arm hängen sollen, aber dazu hätte sie die Berührung zu Maruschs Hand auflösen müssen.

Der Weg war zwischendurch schmaler geworden, weshalb sie näher zusammengerückt waren, und sie hatten die Berührung ihrer Schultern nicht aufgelöst, als er sich wieder verbreitert hatte.

“Wo schlafen wir?”, fragte Lilið. Es war das erste, was sie nach einer ganzen Weile hervorbrachte, die sie nur auf den Weg, die Berührungen und ihre Gefühle geachtet hatte, die sich physisch wie Adrenalin durch ihren Körper bewegten, nur weniger warnend und heißer.

“Ich war gedanklich noch beim Ob.” Maruschs Hand drehte sich und ihre Fingerspitzen berührten Liliðs Handrücken. “Wir wollten noch Dinge abklären. Und wir sollten schlafen. Aber können wir das, bevor wir”, Marusch brach ab und strich extrem sanft Liliðs Hand und Arm hinauf in ihren Ärmel.

Liliðs Atem verhedderte sich. Als er wieder einen halbwegs sinnvollen Rhythmus gefunden hatte, hatte Maruschs Hand ihren Weg wieder zurückgefunden und verweilte sachte, den Handrücken gegen Liliðs geschmiegt. “Du möchtest mich ausziehen?”, interpretierte Lilið, versuchte dabei einen verschmitzten Stimmausdruck, der aber nicht ganz gelang.

“Schon, ja.” Maruschs Kopf wandte sich ihr zu. Die Gesichtszüge wurden nur vom blassen Leuchten der Wolken beschienen, aber sie waren nah genug für Lilið um eine Idee davon zu bekommen.

Lilið erwiderte das zarte, verspielte Lächeln. “Aber?”

“Ich bräuchte dafür deine Erlaubnis.”, sagte Marusch. “Ohne, dass ich von dir weiß, dass du das willst, tue ich nichts dergleichen.”

Auch wenn sie nichts anderes von Marusch erwartet hätte, fühlte sich diese Zusage erleichternd an. “Hätte ich deine, dich ausziehen zu dürfen?”, fragte sie. Dieses mal gelang es ihr, es frech zu tun.

Marusch grinste etwas mehr. “Ja, hast du.”

Liliðs verhakte ihren Blick mit Maruschs, wanderte mit ihrer Hand um Maruschs herum, bis sie auf der anderen Seite auf ihrem Rock ankam und dagegen drückte. Sie spürte Maruschs Oberschenkel unter den dünnen Lagen Stoff.

Maruschs Mund zuckte. Ihr Atem wurde unruhiger, dann kontrollierte sie ihn wieder. Lilið konnte ihr ansehen, dass sie es anstrengte, sie vielleicht mit Fassung rang.

Lilið strich mit den Fingern über den Oberschenkel in einer Weise, dass sie sich eine Rockfalte erzeugte, an der sie den Stoff dicht am Bein entlang hinaufzog, bis der Saum ihre Finger erreichte. Sie schob sie darunter und erfühlte Maruschs nackte Haut. Es hatte sich eine feine Gänsehaut darauf gebildet, nur ein wenig.

Marusch lehnte sich in die Berührung und auf diese Art noch weiter an Lilið heran. “Möchtest du es mitten auf dem Feldweg tun?”, raunte sie.

Lilið war sich nicht sicher, ob Marusch eine genauere Vorstellung von diesem ‘es’ hatte als sie. Sie hatte keine genaue. Aber bisher gefiel ihr es gut. “Ein weiches Bett wäre mir natürlich lieber.”, raunte sie zurück.

“Das ließe sich vielleicht einrichten.” Maruschs Stimme hatte wieder einen etwas selbstsichereren, verschmitzten Ton wiedergefunden, der nicht weniger warm war.

“Hast du doch so etwas wie eine Behausung in der Gegend?”, fragte Lilið.

Ein kleiner Teil in ihr lenkte sie kurz mit dem Gedanken ab, dass sie doch auf der Suche nach dem Blutigen Master M war und ob sie überhaupt die Zeit hatte, sich Marusch auf diese Art hinzugeben. Oder sie sich ihr hingeben zu lassen. Aber ein anderer verdrängte diesen sofort: Sie hatten sich gefunden. Auf ein paar Stunden käme es nicht an. Und Lilið wollte es sich nicht nehmen lassen.

“Ich nicht.”, widersprach Marusch. “Aber Lord und Lady Piks zweitgrößter Wohnsitz sollte nicht weit sein. Und Lord und Lady Pik richten große Teile des Balls aus. Sie werden also recht wahrscheinlich bis morgen Mittag irgendwann außer Haus sein, zusammen mit einem Großteil ihrer Wachen.”

“Meinst du, sie lassen ihr Gut unbewacht?”, fragte Lilið.

“Nicht komplett. Aber die Wachen, die zurückgelassen wurden, werden sich auf deren Haupthäuser konzentrieren, eben darauf, wo es Wertvolleres zu bewachen gibt. Besuchshäuser am Rande des Grundstücks werden vermutlich weniger bewacht sein.”, legte Marusch dar.

“Riskant.”, kommentierte Lilið. Ihre Hand verweilte ruhig an Maruschs Oberschenkel, zumindest so ruhig das ging, weil er sich ja beim Gehen bewegte. Sie waren langsamer geworden, damit sie das koordiniert bekamen. Langsam und mit angespannten Muskeln, um eventuelles Stolpern abzufangen, weil sie nicht einmal auf den Weg sahen, der zum Glück schnurgerade aus verlief.

“Ist es dir zu riskant? Möchtest du lieber das Feld?”, fragte Marusch.

“Ich überdenke das noch.”, widersprach Lilið. “Was kann passieren? Was riskieren wir?”

“Wir wollen nur in einem Bett schlafen.”, antwortete Marusch. “Das ist kein Diebstahl. Da hält sich Härte der Konsequenzen vielleicht in Grenzen. Es sei denn, sie finden bei uns gestohlene Schätze oder erkennen uns als gesuchte Langfinger oder Schlimmeres.”

“Trägst du Diebesgut bei dir?”, fragte Lilið.

“Außer dir? Nein.”, sagte Marusch schnippisch, und fügte vielleicht beschwichtigend hinzu: “Du bist zumindest diebisch und gut und bist bei mir, deshalb passt die Beschreibung vielleicht. Du gehörst mir natürlich nicht. Und du?”

“Ich habe ein paar Marken, die aber eher unwahrscheinlich zu Lord und Lady Pik gehören. Und einen Ehering von einem Skoremetrika, der sicher keine Verbindung zu Lord und Lady Pik hat.” Lilið wusste, dass Herr Hut mal zur nederoger Inselvereinigung gehört hatte und nun vielleicht zu den Herrschenden auf Frankeroge, aber vielleicht war er auch sozusagen entliehen.

“Und ein Buch.”, fügte Marusch hinzu.

Lilið hatte es nicht vergessen. Sie fragte sich, warum sie es in der Aufzählung ausgespart hatte. Es war ihr nicht klar. “Wieso gehst du davon aus, dass es gestohlen ist?”, fragte sie.

“Du trägst es in einer Jacke bei dir, die du nur ungern aus den Augen lässt.”, erklärte Marusch. “Du trägst auch verhältnismäßig wenig Gepäck bei dir. Die Tasche, in der du es dabei hast, wirkt nicht wie eine, die du dir absichtlich daheim ausgewählt hast, um vermeintlich eine Reise zum Internat für skorsche Damen auf Frankeroge zu besuchen.” Marusch musterte Lilið, während sie es aussprach, abermals aufmerksam. “Entweder ist nicht alles glatt gelaufen oder du hast irgendwo eine Basis. In jedem Falle bedeutet deine Entscheidung, das Buch dabei zu haben, dass es wertvoll für dich ist.”

“Es hat Tagebuchcharakter für mich.”, erklärte sie, was nicht einmal extrem weit von der Wahrheit entfernt war. Sie fand es interessant. Vielleicht würde sie irgendwann hineinschreiben. Oder es hatte doch eine Kodierung. “Und, sagen wir, ich bin etwas unfreiwillig frühzeitig von Bord gegangen. Mit einer kleinen Dosis Lärchenwurz intus.” Sie hoffte, dass dieser Themenwechsel Marusch vom Buch ausreichend ablenken würde.

Marusch sah angenehm entsetzt aus. Allerdings für einen zu kurzen Moment, fand Lilið. “Ich werde, sollte sich eine ähnliche Situation wiederholen, mehr Vorkehrungen treffen.”, versprach sie. “Möchtest du Details erzählen?”

“Auf dem Weg zu einem Bett?”, fragte Lilið. Sie löste ihre Hand von Maruschs Oberschenkel und fühlte den Wind, den die Röcke verursachten, als sie Maruschs Beine wieder verhüllten, sowie den seidigen Stoff auf dem Handgelenk entlangstreichen.

Maruschs Atem stolperte, aber fing sich rasch wieder. “Ist das ein Entschluss, es zu riskieren?”

Lilið nickte. Sie strich Maruschs Rock glatt und ging dann wieder in die Haltung über, in der sich ihre Handrücken berührten. Und dann, kaum war ihr bewusst geworden, was sie da entschieden hatte, fühlte sie bohrend, dass sie für eine Nacht mit Marusch in einem Bett doch eine Menge riskierte. Marusch hatte fairerweise dargelegt, moralisch kein einwandfreier Mensch zu sein. Was sie automatisch alle beide nicht waren, wenn sie in ein fremdes Besuchshaus zum Übernachten eindrangen. Aber wer wusste, was Marusch noch ohne mit der Wimper zu zucken tun würde? Oder bei was Marusch zwar schon mit der Wimper zucken, aber es trotzdem riskieren würde?

“Was ist passiert?”, fragte Marusch sanft.

Lilið berichtete. Sie tat es nicht allzu ausschweifend, aber sie ließ nichts aus, weder Tomden, noch Barb.

Marusch blieb noch eine Weile still, nachdem sie geendet hatte. Sie hatte schön zugehört, fand Lilið. Obwohl Lilið wenig Emotion in ihre Stimme geflochten hatte, hatte Marusch verstanden, wann es ernst gewesen war, und wann eklig. Ihr Gesicht hatte einen angewiderten Ausdruck gehabt und Sorge gespiegelt, als Lilið von Tomdens Aufdringlichkeit erzählt hatte.

“Schleseroge.”, sagte Marusch leise. “Klingt ein bisschen unrealistisch. Als könnte der Teil eher noch zu deinem Traum gehören.”

“Die Fieberträume waren eher unangenehm.”, sagte Lilið zweifelnd. Sie kramte in der Tasche, die sie mit dem Anzug zusammen bekommen hatte, nach dem Beutel mit dem übrigen Brot und dem einen Stück Obst. Viel war es nicht mehr, aber immerhin hatte sie auf dem Ball zwischen ihrem zweiten Übungstanz und der Aufführung einiges an Häppchen gegessen. Sie reichte Marusch das zusammengebundene Tuch.

Marusch nahm es entgegen und begutachtete es. Sie roch am Brot. “Gutes Brot.”, kommentierte sie und verpackte alles wieder, bevor sie es Lilið zurückreichte. “Es ist ein sehr klassisches, gewachstes Tuch, das es fast überall weltweit auf Märkten gibt, wenn Leute Lebensmittel abholen und Taschen vergessen haben. Ich glaube dir selbstverständlich. Aber erlaube mir trotzdem die Frage: Hältst du es für ausgeschlossen, dass du irgendwann an der Angelsoger Küste angeschwemmt worden bist, dir vom Markt etwas gestohlen hast, und dann erst wieder klarer hast denken können? Und dein Gehirn hat sich aus den Träumen etwas anderes zusammen rekonstruiert?”

Lilið runzelte die Stirn und versuchte sich, diese Möglichkeit vorzustellen. War sie überhaupt an einem Markt vorbeigekommen? Durch ihre Erinnerungen blitzten Bilder, Gerüche und Gedränge von Marktgetümmel. Aber die Erinnerung konnte auch viel älter sein.

Marusch hatte recht, dass diese Insel mit ihrem Gefüge nicht sehr realistisch wirkte. Wie eine Utopie. Und dass Liliðs Erinnerung daran unscharf war, traf auch zu. Sie hatte es auf das Restgift, die Erschöpfung und all das danach Erlebte geschoben, dass sie bereits verblasst war. “Ich werde irgendwann herausfinden, ob es Schleseroge gibt, wenn ich Nautika werde.”, sagte sie. Und auch das war ein Element, das die Skepsis bestärkte, die Marusch ins Spiel gebracht hatte: Leute, die auf einer Insel wohnten, die angeblich nur in wenigen Karten verzeichnet war. Davon hatte Lilið auch noch nie gehört. “Es ist nicht völlig ausgeschlossen.”, beantwortete sie Maruschs Frage. “Aber eigentlich halte ich für unwahrscheinlich, dass mein Kopf so viel und so überzeugend korrigiert hat.”

Marusch nickte und lächelte sanft. “Ich glaube dir.”, betonte sie. “Ich möchte das. Ich wünsche mir, dass diese Utopie irgendwo im Kleinen existiert. Und vielleicht irgendwann auch im Großen.”

“Wo wir bei Utopien sind: Hat es für dich was mit einer Utopie zu tun, eine potenzielle Mörderin den Weg zu ebnen, ein Internat zu besuchen?”, fragte Lilið.

“Tatsächlich ja!”, antwortete Marusch. Sie wirkte überraschend ernst, vielleicht sogar etwas streng dabei. “Ich finde, Bildung sollte ein Grundrecht sein.”

Lilið blieb stehen. Nicht nur, weil die Zufahrt zum Gut nun unverkennbar in Sicht war, von dem Lilið hoffte, dass es zu besagtem Zweitwohnsitz von Lord und Lady Pik gehörte, weil ihre Beine allmählich ermüdeten. Sie konnte noch, aber hätten sie zu einem anderen Gut gemusst, dann hätte es noch einmal einiges an Strecke bedeutet.

Marusch lenkte sie seitlich am Gut vorbei und drängte sie dazu, wieder zu gehen. “Wir sollten nicht zu lange hier verweilen.”, sagte sie. “Es gibt sicher einen Nebeneingang, von wo wir auf das Gelände gehen können.”

Lilið sah ein, dass es besser wäre, nicht im Sichtfeld der Hauptzufahrt stehen zu bleiben, aber als sie einen finsteren Winkel der Außenhecke erreichten, an den sie der Graspfad an einem Bach entlang führte, hielt sie doch wieder an. “Sie wollte mich umbrigen!”, raunte sie, arktikulierte wütend.

“Grundrechte sind Dinge, die allen zukommen, egal welche Absichten sie haben.”, erinnerte Marusch sie.

Würde das ein Streit werden? “Aber du hast ihr geholfen! Wir haben das getan, aber du wissentlich!”

Marusch seufzte und schob sich neben sie in den noch dunkleren Schatten, ohne ihr näher zu kommen. “Allils Leben ist dauernd bedroht. Und weißt du von wem?”

Lilið wusste nicht, worauf Marusch hinaus wollte, aber startete einen Versuch, die Frage zu beantworten. “Von”, unterbrach sich kurz und führte die unangenehme Wahrheit aus, die ihr zuerst einfiel, “Leuten, die sie zur Rechenschaft ziehen würden. Ich bin auch nicht gerade begeistert vom System.”

“Ja, genau. Von Leuten, die mehr an der Spitze von Macht stehen.”, konkretisierte Marusch. “Leuten, die oft genug nicht einmal selbst töten, sondern töten lassen. Die Schutzbefohlene haben, die für sie diese Arbeit und andere verrichten. Also, wenn du mich fragst, warum ich einer Mörderin zu Bildung verhelfen würde, finde ich auch die Frage relevant, warum besagten mächtigeren Leuten, ohne dass es viel Aufruhr bedeutet, geholfen wird, ein todbringendes System aufrecht zu erhalten. Leuten, die auch ganz sicher keine Probleme haben zu irgendwelchen Schulen zu gehen, wenn sie wollen.”

“Wenn du auf mich anspielst, weil ich hätte zu dieser Schule gehen können, bedenke, dass ich dich hätte verraten können und es nicht getan habe.” Lilið verstand den generellen Ärger, den Marusch ansprach, den hatte sie auch. Dass Mächtige dieses System ohne Konsequenzen aufrecht erhielten, störte sie. Aber sie fand, dass sie ein Recht hatte, beides schlimm zu finden, und nur, weil über das eine Problem zu wenig geredet wurde, das andere ansprechen durfte, wenn sie beinahe Opfer davon gewesen wäre.

“Hättest du.”, räumte Marusch ein. “Bis zu diesem Gespräch bin ich übrigens davon ausgegangen, dass du mich hast vergiften wollen.”

Lilið schluckte. Sie hatte Marusch tatsächlich vergiften wollen. Nicht töten zwar, aber das wusste Marusch ja nicht. “Das Gift hätte dein Gedärm etwas durcheinander gebracht.”, erklärte sie. “Ich hatte mir ausgerechnet, mich im Zweifel besser gegen dich wehren zu können, wenn du geschwächt bist, oder dich eher vom Gelände komplimentieren zu können, wenn du dringende, körperliche Bedürfnisse hast, die versprechen, schlimmer zu werden.”

Marusch nickte. “Es tut mir leid, dass ich dich falsch eingeschätzt habe. In der Diebesszene rechne ich wahrscheinlich stets vorsichtshalber mit Schlimmerem.”, sagte sie. “Vielleicht habe ich deshalb auch ein bisschen zu unvorsichtig eingeschätzt, dass du schon mit einer Giftmischerin zurecht kommen würdest. Trotzdem ist das weder der Grund, warum ich dir eine Giftmischerin vermittelt habe noch rede ich von dir. Ich rede von Leuten wie dem König. Oder Lord Lurch, wenn du einen kleineren, freundlich wirkenden Lord genannt haben willst, den du wahrscheinlich kennst.”

Lilið verzichtete darauf, Marusch zu informieren, dass Lord Lurch ihr Vater war. Wahrscheinlich wusste sie es ohnehin, oder hielt es zumindest für wahrscheinlich. “Ich frage mich, ob, dass es ein System gibt, in dem Königliche, Lords und Ladys, – und wer weiß, ob es auch Herrschaften gibt, für die diese binären Begriffe nicht passen –, sich daneben benehmen und morden, rechtfertigt, dass Leute, die ganz unten stehen, morden, wenn es nicht gerade Notwehr ist. So als Vorsichtsmaßnahme gegen eine Person, die eigentlich helfen möchte.”

Maruschs Gesicht, dass Lilið nur deshalb gerade so noch in der Dunkelheit der Schatten ausmachen konnte, weil es ihr wegen des Flüsterns wieder ausreichend herangenaht war, wirkte mit einem Mal wieder weicher. “Ich kann dir die Frage nicht beantworten, ich finde sie schwierig.”, sagte Marusch. “Ich möchte aber betonen, dass ich Allil nicht verteidige. Ich will, dass sie zur Schule gehen kann, wie alle anderen Personen, einschließlich Verbrechenden, auch. Das hat nichts mit Verteidigung der Taten zu tun.”

Lilið fühlte, wie sie sich auch wieder entspannte. Es löste sich etwas in ihr. Es war schwer für sie zu verstehen, aber sie wollte mehr darüber nachdenken. Und sie konnte damit leben, dass Marusch sich Zugang zu Bildung für eine potenzielle Mörderin wünschte, jetzt, wo sie verstand, dass es mit Verteidigung nichts zu tun hatte. Wenn Marusch ihr Bildung ermöglichen wollte, was wäre die Alternative gewesen? Sie nickte. Und dann fuhr sie zusammen, als eine Ulene über ihre Köpfe hinweghuschte. Ein Nachtdrache, ein Geschöpf mit so leisen Schwingen, dass Lilið sie stets erst bemerkte, wenn sie direkt über ihr waren.

Auch Marusch zuckte zusammen. Einen Moment grinsten sie beide. “Kannst du mit meiner Einstellung leben?”, fragte sie. “Es ist jederzeit in Ordnung, wenn sich unsere Wege trennen.”

Lilið schüttelte rasch den Kopf. “Ich finde deine Ethik interessant. Aber nicht offensichtlich falsch oder schlimm. Im Gegenteil.”, sagte sie. “Ich würde deine Einstellung gern ausprobieren und herausfinden, ob sie auch zu mir passt. Vielleicht habe ich nur noch nicht genug von der Welt gesehen. Oder ich habe zu starke Gefühle gegenüber einer Person, die mich beinahe ermordet hätte, dass es mir schwerfällt, ihr etwas zu gönnen.”

“Das kann ich verstehen.”, sagte Marusch bloß.

Liliðs Hand suchte vorsichtig wieder die von Marusch. “Gehen wir weiter?”, fragte sie.

Marusch nickte.


Es gab tatsächlich einen Nebeneingang, einen Hügel hinauf etwas abseits vom Haupthaus. Marusch hielt Lilið wieder den Arm hin, sodass sie eingehakt, als wären sie ein müdes Tanzpaar nach einem anstrengenden Abend, das aber hierher gehörte, das Gelände zwischen zwei Hecken hindurch betraten. Lilið versuchte, sich nicht allzu auffällig umzusehen. Sie waren hörbar. Ihre Füße machten Geräusche auf dem sandigen Weg, der die Häuser miteinander verband. Aber niemand war zu sehen. Alles war ruhig und dunkel.

Sie peilten ein kleines Häuschen an, von dem sie sich einig waren, dass es die klassischen Charakteristiken eines Besuchshauses erfüllte. Ganz sicher waren sie noch nicht. Es war abgeschlossen. Das sprach dafür, dass es leer stand.

“Stellen Schlösser für dich ein Hindernis dar?”, raunte Marusch.

Lilið begutachtete das Schloss einen Augenblick. “Hältst du Wache?”, fragte sie. “Ich brauche höchstens fünf Minuten.”

“In Ordnung.” Marusch wandte sich dem Gelände zu.

Das Einbruchswerkzeug, das Lilið auch immer in der Jacke versteckt trug, fühlte sich so vertraut in den Händen an, das Lilið in sich hineinlächeln musste. Sie mochte die prickelnde Spannung unter der Haut, ein fremdes Schloss zu knacken, dieses Mal in einer brenzlicheren Lage.

Sie hatte das Schloss maßlos überschätzt. Sie knackte es fast so schnell, wie sie mit einem Schlüssel gebraucht hätte. Das sprach wirklich dafür, dass es hier nicht viel zu holen gäbe.

Sie drückte die Tür vorsichtig und leise auf, um sich nach Schuhen im Eingang umzusehen. Vielleicht hatte sich ja bloß jemand eingeschlossen. Aber es roch, als wäre hier schon ein paar Tage nicht gelüftet worden. Das hielt sie davon ab, so etwas zu sagen, wie ‘die Luft ist rein’. Stattdessen betrat sie einfach den Raum und Marusch folgte ihr.

Sie suchten sich ein Schlafzimmer im Erdgeschoss aus, mit einem Fenster nach hinten, damit sie die besten Chancen hätten, zu fliehen, wenn sie doch entdeckt würden. Lilið lüftete und bewachte das Fenster, während Marusch Bettbezüge suchte, um die Deckeninnenleben zu beziehen. Lilið hätte am liebsten laut gelacht, weil die Situation so herrlich schön und absurd war. Aber sie beließ es bei einem leisen, unauffälligen Grinsen.

Sie schloss das Fenster wieder und zog die Vorhänge in ihre alte Position, als Marusch fertig war. Nun standen sie sich in der Dunkelheit gegenüber, ein paar Schritte von einander entfernt. Es war nicht stockfinster, aber Lilið sah von Marusch nicht viel mehr als eine Silhouette. Ihr wurde heiß, allein bei der Vorstellung, was jetzt passieren könnte. Oder wollten sie einfach in diesem Bett schlafen? Vielleicht ein wenig kuscheln?