Das Nautika der königlichen Garde

CN: Apathie, Gore/Splatter - erwähnt, Fesseln, Morde erwähnt, Selbstzerstörungswunsch, Grenzkontrollen, Schuldgefühle.

“Zertifikat?”

Das war die Stimme des Kapitäns, die sie schon bei ihrer ersten Begegnung im nederoger Handelshafen kennen gelernt hatte. Er war eine ruhige, durchdachte Person, hatte Lilið den Eindruck. Sie fühlte sich immer noch losgelöst vom Weltlichen, dumpf und irgendwo darunter befand sich eine Art Wut, die sie nie zuvor gefühlt hatte, für die sie keine Worte hatte, nicht einmal Taten gehabt hätte. Mit der konnte sie ohnehin nicht arbeiten. Also war ihr Sein in eine Art Funktionsmodus übergeglitten, das wie ein mechanisches Gerüst die Wut unter sich einklemmte und nicht weiter beachtete.

Sie griff sehr langsam in die Tasche des Mantels, in der das Zertifikat steckte. Sie tat es deshalb langsam, weil Langsamkeit für eine Person in ihrer Situation nachvollziehbar wirken musste und sie auf diese Art Zeit hätte, es lange zu berührern.

Die Leute hier an Bord hatten bisher nicht den Verdacht geäußert, dass sie Lilið von Lord Lurch sein könnte. Lilið hoffte, dass sich niemand während der kurzen Begegnung im Halbdunkel beim Treffpunkt im nederoger Handelshafen so schnell ihr Gesicht hatte merken können. Außer Drude. Dort war aber ihr Name gefallen. Wenn sie herausfinden würden, dass das Nautika, das sie aus den schwimmenden Überresten der Kriegskaterane gefischt hatten, das gleiche war wie jenes, das sie belauscht hatte, fürchtete Lilið größere Probleme.

Sie berührte das Material des Papiers mit den Fingerspitzen und fühlte hinein. Sie war wach genug, um die eingesogene Tinte darin mit ihren Sinnen zu ertasten. Sie fühlte ihren Namen und verschob in einer komplexen Zwischenpapierfaltung die Tintenpartikel so, dass sie einen neuen ergaben, zog das Zertifikat noch während des Prozesses langsam heraus und legte es vor dem Kapitän ab. Es waren interessante Vorteile, die ein Buch mit den Fingern zu kopieren so mit sich gebracht hatten. Übung im präzisen Erfühlen von Partikeln in Papier.

“Aurin.”, sagte der Kapitän, den neuen Namen korrekt ablesend.

Lilið ließ zwei Finger auf dem Zertifikat liegen, um im Zweifel, wenn es doch nicht stabil genug wäre, die komplexe Faltung zu halten, als der Kapitän selbiges und ihr Handgelenk berührte, um die Eichung zu überprüfen. Dann packte sie es genauso langsam wieder ein.

“Aurin aus?”, fragte der Kapitän.

“Nederoge.” Dort kannte sie sich einfach am besten aus. Wenn sie über den Ort ihres Großwerdens erzählen sollte, über die Segelschulen und so weiter, dann wäre es am besten, wenn sie mit jenen auch wirklich vertraut war.

“Adel?”, fragte der Kapitän.

Lilið schüttelte den Kopf.

“Wieso stellt die königliche Garde ein Nautika aus Nederoge ein, das nicht einmal von Adel ist? Ist an dir etwas Besonderes?”, fragte der Kapitän.

Lilið war erst jetzt fertig mit dem Prozess, die Tasche, in die sie ihr Zertifikat sortiert und dabei wieder entfaltet hatte, zu verschließen. Sie mochte die langsamen, konzentrierten Bewegungen. Den Blick auf den Kapitän gewandt schüttelte sie den Kopf. “Die Garde hatte ursprünglich ein anderes Nautika.”, berichtete Lilið. “Ich bin nicht über Details aufgeklärt worden, sondern habe nur mitbekommen, dass jenes Nautika sich unter Vorgabe einer falschen Identität woanders anheuern hat lassen, was wohl im Sinne der Garde war, und woraus sich die Notwendigkeit für letztere ergab, dass sie ein neues brauchten.” Sie ließ die Geschichte absichtlich so vage, dass der Kapitän Schlüsse ziehen konnte, wenn sie passten, aber auch andere zulässig wären, wenn sie nicht passten. “Die Nautikae vor Ort in Nederoge haben mich empfohlen, weil ich mich in den nederoger Gewässern exzellent auskenne und gerade für einen längeren, auch gern unkalkulierbaren Zeitraum entbehrlich war. Dass Nautikae meist auf Adel pfeifen, weißt du sicher.”

Der Kapitän nickte und lächelte dabei. “Das ist mir nicht unbekannt.”, sagte er. “Nun, was die Geschichte mit der falschen Identität deines Vorgängers angeht, kann ich wohl über mehr Hintergründe aufklären. Wir haben ihn hier kennen lernen dürfen, denke ich. Und als aufflog, dass er uns nicht an unser Ziel sondern in eine Falle navigieren wollte, sind wir mit ihm nur unwesentlich glimpflicher umgegangen als mit dem Rest der Crew der Kriegskaterane, abgesehen von dir. Das heißt, er lebt höchstwahrscheinlich nicht mehr, aber war zum Todeszeitpunkt noch am Stück. Wenn du ein Interesse hast, ganz und am Leben zu bleiben, navigier uns also besser sinnvoll.”

Lilið nickte. Sie hatte bereits mitbekommen, dass sie wohl die einzige überlebende Person der Kriegskaterane war. Sie wusste nicht, ob die beiden Menschen im Ruderboot, bevor sie sie eingesammelt hatten, noch andere Menschen gefunden und getötet hatten. Wenn, dann war es jeweils sehr schnell gegangen. Oder ob, nachdem sie sie eingesammelt hatten, noch einmal gesucht worden war. Es konnte auch sein, weil sie ja schließlich aus dem sinkenden Kriegsschiff in die fast abgeschlossene Zerstörung hinaufgestiegen war, dass zu dem Zeitpunkt bereits alle anderen tot gewesen waren. Sie wusste es eben nicht. Sie hatte die Information, dass sie als einziges überlebt hatte, aus einem Gespräch, das sie überhört hatte, während sie an den Mast gefesselt darauf gewartet hatte, dass das Chaos abgearbeitet gewesen war und der Kapitän Zeit für sie gefunden hatte. Nun saß sie ihm in seiner Kajüte ungefesselt gegenüber.

Sie dachte darüber nach, ob sie erklären sollte, dass ihr egal wäre, für wen sie arbeitete, oder dass sie gar eigentlich lieber für diese Staatsmeuterei arbeite als für die Monarchie, und für letztere nur gearbeitet hätte, weil sie eben nicht groß eine Wahl gehabt hätte, wenn Stellvertretende der Königin sie dazu aufforderten. Aber sie hielt den Zeitpunkt für zu früh, so etwas zu behaupten. Nun galt es erst einmal, ein bis zwei Tage eine Meisterleistung an Navigation hinzulegen, die ein vermeintliches Vertrauen aufbaute, währenddessen Erkenntnisse zu sammeln, Drude davon zu überzeugen, sie nicht zu verpfeifen, und dann weiterzusehen. Und ja, wenn sie zwei Tage lang zielführend navigierte, wären sie sicher aus dem Bereich der Reiseinseln raus, in dem Marusch sie erwarten würde. Allerdings würde Marusch vielleicht derzeit erwarten, dass die Kronprinzessin gerettet und auf dem Weg zurück nach Nederoge wäre. Es sei denn, Marusch konnte überhaupt nichts mehr erwarten, weil sie zum Zeitpunkt des Massakers an Bord der Kriegskaterane gewesen wäre. Oder doch das fremde Nautika gewesen wäre und in dem Zuge bereits gestorben. Folglich, selbst wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, im verabredeten Bereich zu bleiben, war fraglich, ob es überhaupt nützen würde.

Wenn sie aus dem Bereich raus wären, würde es schwer werden, sie zu finden. Lilið könnte sie dann auf so viel Gewässer wahllos herumirren lassen, – zumindest könnte sie es dann versuchen –, dass selbst die gesamte königliche Flotte beim systematischen Durchkämmen des Ozeans Probleme bekommen würde, sie zu finden. Und selbst wenn sie es täten, würde dann wieder das Problem auftreten, dass sie auf ein einzelnes Kriegsschiff treffen würden, weil sich die Flotte zum Durchkämmen ja aufteilen müsste.

Es nützte nichts. Sie nützte tot gar nichts. Wenn sie jetzt schlecht navigierte, würde sie vermutlich noch maximal einen halben Tag leben. Es müssten bereits weitere Schiffe der königlichen Flotte unterwegs sein, damit dieser halbe Tag nicht völlig verschwendet wäre, wenn sie sie sofort falsch navigierte. Es war besser zu versuchen, Vertrauen zu gewinnen und an einem anderen Plan zu arbeiten. Immerhin gab es einen Postdrachen an Bord. Und die Kronprinzessin selbst. Wenn sie sich Vertrauen erarbeitete, indem sie erst einmal tat, was von ihr verlangt wäre, war das zwar immer noch keine gute Ausgangsposition, aber vielleicht die beste, die sie kriegen konnte.

Sie musste wieder an Marusch denken, an das Bild mit den Pfaden. Sie musste außerdem an Marusch denken, weil in ihr drin alles dumpf war, bis auf diese sehr merkwürdige Wut, die sie aber behütet in sich drin ließ. Sie musste an Marusch denken, weil sie sich vor allem funktional fühlte. Und so, als würde sie sich nie wieder wirklich freuen können. Fühlte sich Marusch so? Hatte Marusch so etwas erlebt? Lilið erinnerte sich daran, dass Marusch davon geredet hatte, selbst gemordet zu haben. Das hatte sie eigentlich nicht, aber auf der anderen Seite vermutete sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihr Gewissen ihr das einreden würde, weil sie eigentlich die Aufgabe gehabt hätte, das Gemetzel zu vermeiden, und an jener gescheitert war.

Der Kapitän stellte ihr noch ein paar Fragen, die auf Lilið wie Fangfragen wirkten, um zu testen, ob sie die Wahrheit spräche. Lilið hatte keine Schwierigkeiten, sie zu beantworten. Dazu hatte sie die Grundsteine zu gut gelegt. Es fiel ihr nicht schwer, diese Rolle zu spielen. Oder vielleicht half es ihr sogar in ihrer Situation, eine Rolle zu spielen. Sie war jetzt eine andere Person.

Trotzdem würde sie den Namen Lilið in sich hüten.

Nach dem Gespräch schickte der Kapitän sie in den Speisesaal zum Essen. Es war inzwischen früher Nachmittag. Lilið wunderte ein wenig, dass sie nicht sofort ans Navigieren gesetzt wurde, aber der Kapitän argumentierte, dass sie ohnehin noch für ein oder zwei Stündchen vor Anker liegen würden. Ihre Segel waren zerrissen worden. Es gab Reparaturarbeiten, bevor es weitergehen würde. Und auch der Rest der Crew hatte nach dem Angriff Hunger. Sie würden gemeinsam speisen und dann erst würde Lilið unter Aufsicht des Kapitäns und eines Matrosens, der Grundkenntnisse der Nautik hatte, navigieren.

Lilið hätte nicht damit gerechnet, dass sie in dieser Stimmung irgendetwas beunruhigen könnte. Sie hätte vielleicht einen zweiten vergeblichen Angriff der königlichen Flotte einfach hingenommen, ohne zu fühlen. Es war fast albern, dass es dagegen reichte, an ihrem toten Gefühlsgefüge zu rütteln, dass Drude sie während des Essens unentwegt anstarrte, mit einem Gesichtsausdruck, den Lilið als anklagend oder wütend deutete. Deuten war bei Drude schwer, das wusste sie. Aber sie merkte auch, dass sie nicht anders konnte, weil ihr Unterbewusstsein verstand, dass Drude sie nun hassen musste. Oder mehr als das. Dass Drude auch so eine merkwürdige, alles zerstören wollende Wut in ihrem Inneren hatte, die sich aber vollständig und zurecht gegen Lilið richtete. Lilið erinnerte sich an den Blick, den sie den beiden Menschen zugeworfen hatte, die sie aus dem Wasser gefischt hatten. Wenn Drudes Blick genau so einer war, dann wollte Lilið diesen Schmerz fühlen. Und vielleicht darunter zu Asche zerfallen, sich vollständig auflösen.

Es war interessant, wie das kein negativer Gedanke war. Nicht einmal, weil sie glaubte, so etwas verdient zu haben. Sondern weil sie dadurch für die Linderung von Schmerz bei Drude dienen könnte, während sie sonst keinen Sinn hatte. Und weil es zwar merkwürdiges, aber immerhin vorhandenes Mitgefühl war, was sie da wahrnahm, und es sie erleichterte, doch etwas zu fühlen.

Trotzdem war sie froh, als sie sich nach dem Essen in den Raum mit den Karten begab. Das Essen war wieder ausgezeichnet gewesen. Lilið fragte sich, ob die Prinzessin auch so gutes Essen bekam, und wann und wo.

Es waren auch ausgezeichnete Karten, die sie vorfand. Es war ein angenehmer Raum zum Navigieren. Er lag hinten im Heck, weit oben in der Kagutte. Es gab ein Heckfenster, durch das Tageslicht hereinflutete. Die Wolken, die über den Himmel zogen, ließen ihn heller und dunkler werden, aber das störte Lilið nicht.

Sie schaffte es, den Kapitän zu ignorieren, der mit verschränkten Armen neben ihr stand. Den Matrosen band sie ein. Sie versuchte, unauffällig herauszufinden, welchen Kenntnisstand er hatte. Sie stellte ihm Fragen in einem Stil, der vielleicht zu Heelem passte. Auf eine Weise, dass klar war, dass sie die Antwort wusste, um ihm die Wahl zu geben, seine Gedanken durch sie kontrollieren zu lassen. Sie durfte die Taktik nicht zu viel nutzen, aber in einem gewissen Rahmen war es wahrscheinlich für fortgeschrittene Nautika üblich, die sich eben auch mit Ausbildung befassten.

Sie navigierte, bis die Sonne allmählich unterging, und hatte gerade rechtzeitig zum Ankerlichten herausgefunden, welcher Kurs ab jetzt zunächst am meisten Sinn ergab. Sie hatte allerlei Alternativrouten in petto. Die Reiseplanung für die Kagutte unterschied sich von der für die Ormorane: Auf der einen Seite fuhr die Kagutte die Nächte durch, auf der anderen Seite hatte sie mehr Tiefgang und konnte zwischen manchen Reiseinseln nicht hindurchsegeln, zwischen denen der Grund zu flach war. Es war ungewohnt für Lilið, aber sie glaubte, durch ihre Fragen an den Matrosen und ihre immer noch mitschwingende Lethargie genügend kaschiert zu haben, dass sie nicht völlig routiniert in solchen Aufgaben war.

Sie wusste am Ende immer noch nicht, wie der Matrose oder der Kapitän hießen, sie hatte es nach der Vorstellung einfach direkt wieder vergessen. Aber als sie den Raum wieder verließ, fühlte sie ein völlig unerwartetes zweites Gefühl aufflammen: Eine gewisse Freude, weil sie gemerkt hatte, dass der Matrose sich bei ihrer Lehre wohlgefühlt hatte. Dass sie es hinbekommen hatte, eine Lernsituation zu ermöglichen, in der er mutig genug gewesen war, selbst Fragen zu stellen und gewagte Gedanken zu äußern, um darüber zu reflektieren.

Natürlich war es nicht damit getan, dass sie über ein paar Stunden hinweg Routen geplant hatte. Sie musste auch regelmäßig mit Messgeräten kontrollieren, ob sie den Kurs auch fuhren. Solche hatte sie zuvor noch nie länger in der Hand gehabt und kannte deren Funktionsweise bisher nur aus Büchern. Sie befasste sich mit jenen nun in der Abenddämmerung, während noch Chaos herrschte, obwohl sie allmählich sehr müde war.

Und schließlich gehörte natürlich zum Navigieren, dass sie die Position des Kartensteinchens immer wieder korrigierte, sowie die Karte an die sich zeitlich ändernde Realität anpasste. Ihr wurde, weil sie die Nächte durchfuhren, zwei Mal drei Stunden Schlaf zugestanden, in denen der Matrose Kontrolle des Kurses und Korrektur des Steinchens und der Karte übernahm. Er durfte sie nur wecken, wenn er mit etwas unsicher wäre. Die Koje, die ihr gezeigt worden war, lag nicht in einem Einzelraum und roch nach zu vielen Menschen. Aber nach diesem Tag war sie einfach so müde, dass sie die anderen Kojen nicht einmal zählte, als sie sich zum Schlafen einrollte.


Sie hatte den Eindruck, viel zu wenig geschlafen zu haben, als der Matrose sie das erste Mal weckte, und dachte daher, er täte es wegen so einer Unsicherheit seinerseits. Aber es waren einfach ihre ersten drei Stunden rum. Sie hatte tief geschlafen. Die Matapher, wie ein Stein, ergab für sie dabei eine neue Bedeutung, weil ein Stein vielleicht auch nicht so viel fühlte. Es war gut gewesen und eigentlich wollte sie nie wieder aufwachen. Aber der Matrose schüttelte sie unbarmherzig. Sie lag auf dem Bauch und realisierte gerade so rechtzeitig vorm Umdrehen, dass sie ihre Brüste neu wegfalten musste, die noch von gestern schmerzten, weil sie sich nicht getraut hatte, zwischendurch loszulassen.

Sie hatte mit fünf anderen in einem kleinen Raum geschlafen, von denen mindestens die Hälfte laut schnarchte. Ihr Schlafplatz war eine Kiste mit einer Decke, die der Matrose nun einfach übernahm, bis sie ihn in einer Stunde wieder wecken durfte.

Lilið schritt an Deck in die kühle Nachtluft. Um ihn besser auf der Haut zu fühlen, zog sie ihren Mantel aus, in dem sie sogar geschlafen hatte, und hängte ihn sich über den Arm. Sie mochte die Gänsehaut, die dabei entstand. Sie war nicht allein an Deck. Sonst hätte sie den Moment vielleicht länger genossen. Diese friedliche Ruhe eines gleichmäßigen Windes, der in die Segel strich und diese mächtige, schwere Holzkonstruktion vorantrieb, die die Kagutte war. Das dunkle Meer um sie herum mit seinen Wellen, auf die der Mond eine schillernde Lichtspur warf. Der Sternenhimmel, der ihr das Gefühl gab, dass diese Momentaufnahme des Kosmos, die sie gerade belastete, vergänglich war und vielleicht in den Weiten gar nicht so wichtig.

Lilið peilte mit Werkzeugen bestimmte Sterne an, machte sich Notizen in ein Büchlein und ging mit den neuen Erkenntnissen in den Kartenraum. Sie zündete einige Lampen an und besah sich, was der Matrose ihr hinterlassen hatte. Ein Chaos, wie sie feststellte. Entweder, er hatte eine Menge vergessen, was an der Karte hätte angepasst werden müssen, oder er testete sie. Lilið vermutete eine Mischung aus beidem. Denn wenn er gut genug für diese Route mit der Kagutte hätte navigieren können, dann hätten sie ja nicht so verzweifelt nach einem Nautika gesucht, dass sie bereit wären, das vermeintliche Nautika der königlichen Garde am Leben zu lassen. Aber es wäre auch eine verpasste Chance, sie zu prüfen, wenn er nicht zusätzlich auch noch Fehler einbaute, an denen er kontrollieren könnte, ob sie sie absichtlich übersehen würde oder nicht.

Lilið hatte nicht vor, etwas absichtlich zu übersehen. Aber sie hatte vor, genau zu beobachten und zu versuchen, seine Muster zu erlernen. Sie traute sich zu, über ein paar Tage hinweg herauszufinden, welche Fehler ihm warum passierten, welche Absicht wären und welche eben nicht. Sie lächelte ein wenig, weil es ein kleiner Hoffnungsschimmer war.

Das Navigieren beruhigte. Sie mochte die konzentrierte Arbeit, die ein anderes Gedankenuniversum in ihr wachrief, in dem egal war, wer warum gestorben wäre. In der sie ihre Angst um Marusch vergessen konnte. Aber als sie fertig war, war ihre Stunde noch nicht rum. Und ein weiteres Mal zu kontrollieren lohnte sich jetzt noch nicht. Sie sollte aber auch nicht einschlafen, weil sie sonst vermutlich einfach ausversehen die Nacht durchgeschlafen hätte.

Nachdenklich blickte sie Richtung Fensterfront, aber scheiterte bei dem Versuch, in die Ferne zu sehen. Sie sah durch die Fenster natürlich nichts, weil drinnen Licht leuchtete. Sie hatte gerade überlegt, das Licht zu löschen, um ihre Augen mehr zu entspannen, als ihr Blick in eine schattige Ecke des Raums fiel, in der sie die Silhouette einer Person entdeckte. Trocken registrierte Lilið an ihrer Körperreaktion, dass sie durchaus noch im Stande war, sich zu erschrecken.

“Magst du noch mit mir reden?” Das war Drudes Stimme.

Lilið nickte. “Und du mit mir?”

Drude trat aus dem Schatten und an den Tisch heran. Die Abe trug sie im Arm, aber die bekam davon wahrscheinlich nicht viel mit, weil sie schlief. Drude legte sie auf dem Tisch ab, wo der Körper mit der unwillkührlichen Weiche des Schlafs rasch eine gemütliche Position fand. “Ich würde dir gern so etwas sagen wie, es ist nicht deine Schuld.”, sagte sie. “Ich weiß nicht einmal, ob du das brauchst. Ich hätte es gebraucht, als ich das erste Mal versagt habe.”

Lilið schluckte. Das war nicht, was sie erwartet hätte. Einen Moment hatte sie das Bedürfnis, Drude in den Arm zu nehmen, weil sie vom ersten Mal sprach, und davon, mit einem Gefühl allein gewesen zu sein. Aber stattdessen fokussierte sie sich wieder auf die erst kürzlich vergangenen Ereignisse. “Du weißt doch nicht einmal, ob ich ihnen wirklich davon abgeraten habe, euch anzugreifen, oder doch?”, fragte sie.

“Das spielt keine Rolle bei der Frage nach der Schuld.”, antwortete Drude. “Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass du nicht alles versucht hast, um Schlimmeres zu vermeiden, aber die Lage war folgende: Die königliche Crew hatte das Ansinnen, uns anzugreifen und durchaus auch zu töten. Die Crew hier, zu der ich gehöre, wehrt sich dagegen ebenfalls mit entsprechenden Tötungsabsichten, die sicher auch über Selbstverteidigung hinausgehen. Du kannst nichts für die Tötungsabsichten. Solange du nicht gerade die eine Gruppe dazu anstachelst, die andere zu töten, ist es nicht deine Schuld, wenn sie es tun. Wir beide haben versucht, sie auszutricksen, sodass sie es nicht tun, aber es ist immer noch deren Verantwortung, was sie tun, und nicht deine.”

“Das ist eine interessante Sichtweise.”, sagte Lilið. Sie überlegte, ob Drudes Worte vielleicht tatsächlich helfen würden, sobald Schuldgefühle drohten, einzusetzen. “Vor allem der Aspekt mit dem Austricksen. Damit nehme ich Menschen gegebenenfalls sogar Verantwortung oder freie Entscheidungsmöglichkeit aus der Hand.” Lilið erinnerte sich, dass sie das gar nicht getan hatte: Ihr Weg zwischen Wahrheit und Lüge war so ausgelegt gewesen, dass die wesentlichen Informationen, auf deren Basis die neuen Entscheidungen gefällt werden würden, der Realität entsprochen hatten. Aber das wusste Drude ja nicht.

Drude nickte. “Hast du Schuldgefühle?”

“Noch nicht.”, antwortete Lilið. “Ich fühle insgesamt sehr dumpf.”

“Ich auch.”, gab Drude zu. “Ich bin für das Sinken der Schiffe verantwortlich. Eigentlich hielte ich für kein Problem, dass Überlebende in einem Ruderboot zurückgelassen werden. Die brauchen dann immer noch lange genug, bis ihnen vielleicht geholfen werden kann. Aber die Wachen des Königs haben andere Verpflichtungen und nicht den Mut, sich darüber hinwegzusetzen.”

“Nicht den Mut, sich darüber hinwegzusetzen.”, wiederholte Lilið leise. Sie wusste nicht warum, vielleicht, weil es sie fassungslos machte, – und sie sprach es laut aus: “Dass es Mut kostet, Menschen nicht zu töten. In welcher Welt leben wir?”

Drude warf ihr einen erneuten Blick der Sorte zu, die Lilið als Schmerzen auslösen wollend las. “Ich verstehe es auch nicht, aber ich glaube, du machst es dir zu einfach.”, sagte sie. “Es stecken so viele Konflikte da drin. Die Wut auf eure königliche Armee zum Beispiel, die seit zwei Jahren Handel massiv erschwert, weil sie alle, die durch euer Land reisen wollen, schlimm filzt, und das alles nur, weil eure Königin Stern an der Macht bleibt, obwohl sie nicht mehr darf, weil sie glaubt, etwas retten zu können, was nicht zu retten ist.”

Lilið runzelte die Stirn. “Ist die Entführung der Kronprinzessin nicht genau das Ansinnen, etwas zu retten, was die Königin an sich auch zu retten versucht, nur mit zwar vielleicht effektiveren aber eben auch unmenschlicheren Mitteln?”

“Hm.”, machte Drude und wirkte nachdenklich. “Ja, da war ich voreilig in der Formulierung. Es ist etwas zu retten und sie versucht es, aber ich persönlich finde ihre Wege unmenschlicher als unsere. Vor allem eben, weil es absolut nicht absehbar ist, dass sie innerhalb der nächsten Jahre zu einem Ziel führen würden. Und bis dahin wird halt auch gern mal ein Bote samt Eskorte gemeuchelt, der für den König verhandeln soll, weil sich dadurch Verhandlungen länger hinziehen und Königin Stern so länger ausharren kann.”

Lilið nickte. Davon bekam sie mit, auch wenn das in der Berichterstattung immer verteidigt wurde. Damit, dass diese Eskorten unverschämt wären, eine Bedrohung darstellten, oder sich an irgendwelche Protokolle nicht hielten, was einer Beleidigung schlimmsten Grades gleichkäme und so etwas. “Dann wiederum ist es eine vertrackte Situation.”, sagte sie. “Ich jedenfalls habe keine sonderliche Lust auf eine Herrschaft durch König Sper.”

“Es würde gerade für euer Königreich Rückschrittlichkeit in Sachen Frauenrechte bedeuten, das sehe ich ein.”, antwortete Drude. “Ich habe den Unterschied erlebt. Er ist spürbar. Aber definitiv nicht schlimmer als die Situation jetzt für uns, oder eine Situation, die da kommen möge, würde die Kronprinzessin einen lächerlichen Regierungsversuch starten, oder würde der Kronprinz sich doch dazu herablassen. Den schätze ich nicht unbedingt als weniger sexistisch ein. Ich denke, im Gegenteil: es würde sich die Gesamtsituation verbessern, wenn König Sper eure Monarchie übernimmt, auch wenn ich ihn hasse. In dem Moment, wo er eure Monarchie übernimmt, kann er nämlich durchaus durch Verträge dazu gezwungen werden, seinen Frauenhass weniger politisch umsetzen zu können.”

“Ich bin übrigens keine Frau.”, informierte Lilið. “Auch wenn mich das dadurch nicht weniger betreffen wird.”

Drude zog sich einen Stuhl heran und nahm am Kartentisch platz. “Mir ist aufgefallen, dass du deine Brüste wegfaltest.”, sagte sie. “Ich wusste nicht, ob das nur damit zu tun hat, dass dann der Mantel besser passt, oder ob du semierfolgreich versucht hast, dich als Mann auszugeben, aber für letzteres wirkte die Veränderung eigentlich zu halbherzig. Also hatte ich mich bereits gefragt, ob es was mit deinem Geschlecht zu tun haben könnte. Ich habe keine Ahnung, wie du das ausgedrückt haben willst.”

“Oh, ich werde hier nicht als Mann wahrgenommen?”, fragte Lilið überrascht und ein wenig enttäuscht. “Ich dachte, sie reden hier mit ‘er’ über mich.”

“Das tun sie, weil sie deine Verkleidung akzeptieren. Die meisten.”, antwortete Drude. “Ich hoffe, es ist nicht zu schlimm für dich, dass ich dir das sage. Jedenfalls wissen wir hier doch alle, dass es so sexistische Katastrophen wie den Hut gibt und dass man da als Nautika besser wegkommt, wenn man männlich wahrgenommen wird. Einige an Bord lästern deshalb über dich, soweit ich das mitbekommen habe, aber die meisten nehmen es halt als Versuch hin, weniger Gewalt abzubekommen, und akzeptieren dich als Mann, glauben aber zu wissen, dass du es nicht wärst.” Drude holte tief Luft und seufzte die Frage, die sie dann stellte, fast: “Bist du denn ein Mann?”

Lilið schüttelte den Kopf. “Auch das nicht.”

“Ist dir das Pronomen ‘er’ denn recht?”, fragte Drude. “Das heißt doch Pronomen, oder?”

“Ich würde in meiner Rolle hier gern ‘er’ behalten, aber sonst ist mir eigentlich aus Gewohnheit ‘sie’ lieber.”, informierte Lilið. Hoffentlich machte sie es für Drude nicht zu kompliziert. Sie fand das Gespräch interessant, weil es sich anfühlte, als würde Drude überhaupt nicht werten und vorbereitet auf so ein Gespräch sein. Lilið setzte sich auf der anderen Seite an den Kartentisch und hoffte, dass es sich noch lohnend anfühlen würde. Bald müsste sie noch einmal den Kurs kontrollieren und dann ihre zweiten drei Stunden schlafen.

“Das kriege ich hin.” Drude seufzte abermals. “Ich bin eine Frau. Aber ich finde so anstrengend, dass das in Gesprächen irgendwie automatisch immer sofort mindestens implizit Thema ist. Durch Pronomen, Anreden und Bezeichnungen. Ich habe mich oft gefragt, ob ich nicht neutrale Begriffe für mich erfinden möchte, die dann auch alle anderen natürlich benutzen dürfen, sodass Leute mit mir und über mich ohne Geschlechtsbezug reden können.”

Lilið lächelte unwillkührlich. “Das hört sich schön an!”, sagte sie. “Und? Hast du dir welche ausgedacht?”

“Ich glaube, von den Begriffen wie Transmagika hätte ich gern einfach das ‘das’ davor statt das ‘die’. Und statt Beobachterin gern Beobachteran oder Beobachtungsfisch oder sowas.”, sagte sie.

“Oh, das trifft auf mich auch zu, ich möchte neutrale Begriffe für mich.”, fiel Lilið ein. “Wobei, Fisch bin ich ja nicht. Und über so eine Form wie Beobachteran muss ich erst noch nachdenken, das Konzept ist mir neu. Meine”, Lilið zögerte. Waren sie befreundet? Was war es? “Meine Beziehungsperson nutzt für mich dann zum Beispiel etwas wie ‘beobachtende Person’.”

“Beziehungsperson ist auch ein schönes Wort.” Drude lächelte. “Beobachtungsperson wäre mir auch recht.” Dann war das Lächeln auch schon wieder vorbei. “Als größte Schwierigkeit stellt sich für mich das Pronomen heraus. Ich habe in dieser Sprache immer Mal wieder welche zu basteln versucht, die sich natürlich anhören und nicht wie eine Mischung aus beidem. In meiner Erstsprache gibt es ein Pronomen für unbekannte Menschen, dass ich mal versucht habe, an diese Sprache anzugleichen. Das wäre dann dey, dere, demm, demm. Also sowas wie: Dey ist an Deck, um dere Aufgaben zu erfüllen, damit niemand demm ausschimpft oder demm auf die Nerven geht. Aber ein ey fühlt sich unatürlich in dieser Sprache an, und auch der dritte und vierte Fall mit jeweils vier statt drei Buchstaben.” Es huschte doch noch ein weiteres Lächeln über Drudes Gesicht. “Ich bin Grammatik- und Sprachbastelstreberan. Und texte Leute anscheinend zu, sobald sie mich über so etwas reden lassen.”

“Ich finde das sehr interessant! Mach das ruhig.”, bat Lilið. “Ich glaube, du könntest mir gerade keinen größeren Gefallen tun, als mich über so etwas zuzutexten. Es fühlt sich nach dem Sinnvollsten an, was ich gerade habe. Ich habe nur leider nicht mehr viel Zeit.”

“Ich weiß.”, sagte Drude. “Ich kenne deinen Zeitplan. Und eigentlich soll ich dich beobachten und mich nicht mit dir unterhalten. Und ich bin unbeschreiblich froh, dass du es zulässt, dass ich das heimlich tue. Ich vertraue dir, dass du mich nicht verrätst.”

“Wo wir beim Thema sind: Du scheinst mich nicht mehr verraten zu wollen. Ist das richtig?”, fragte Lilið.

“Nicht innerhalb der nächsten zwei Tage.”, antwortete Drude. “Es werden zwei Tage sein, in denen wir von deinen Nautikkünsten profitieren können, ohne dass du uns Schaden kannst. Die Lage ist für mich auch nicht mehr heikel, weil ich dich nicht vor anderen verstecken muss. Du bist ja nun das Nautika der königlichen Garde und nicht aus einem Würfel geschlüpft, den ich hätte entdecken müssen.”

Lilið kicherte, aber wurde direkt wieder ernst. “Was ist nach den zwei Tagen?”

“In zwei Tagen könntest du beim Kapitän ausreichendes Vertrauen in dich aufgebaut haben, dass er glaubt, dass du tust, was er will.”, antwortete Drude. “Aber ich weiß, was ursprünglich dein Plan war, und gehe davon aus, dass du wieder dahin zurückkehren wirst, sobald du kannst. Ich werde mit dir also Gespräche führen, und es gibt drei Möglichkeiten. Entweder, du überzeugst mich von deinen Ideen. Oder ich dich von meinen auf eine Art, dass ich daran glaube, dass du wirklich die Seite wechselst. Oder ich verrate dich, weil wir gegeneinander arbeiten.”

Lilið spürte Hitze, die ihr durch den Körper wallte. Eine Panikreaktion? Nun? Nach drei Tagen an Bord, wo in vielen Situationen eher eine angebracht gewesen wäre. Sie nickte und stand auf. “Ich freue mich trotzdem auf die Gespräche. Sie sind mir mit dir eine ehrliche Freude.”, versicherte sie. Und sie fühlte auch so. “Soll ich, bis du ein besseres Pronomen gefunden hast, versuchen von dir als ‘dey’ zu denken?”

Da war es, das dritte Lächeln, und dieses mal war es breit. “Gerne.”, sagte Drude. “‘Sie’ ist wirklich nicht schlimm, aber ich würde mich freuen, wenn du ‘dey’ ausprobierst. Ich wüsste gern, wie es sich anfühlt.”