Übers Meer rauschen

CN: Gefühlstaubheit, Depression, Mord, miese Politik, küssen, Körperdysphorie.

Marusch war eine solide Seglerin. Das war für Lilið keine Überraschung. Immerhin war sie ja auch von Nederoge hierher gesegelt, was selbst, wenn sie vor Reiseantritt noch nie gesegelt wäre, genug Übung für diesen Eindruck gewesen wäre. Obwohl die Hinreise sicher, da eher mit der Strömung als gegen sie und mit einem guten Nautika, höchstens eine Woche gedauert hatte. Wie Marusch während einer kurzen Unterhaltung während der Fahrt erzählt hatte, war aber auch das nicht ihre erste Segelerfahrung mit einer Jolle gewesen.

Obwohl es Lilið nicht hätte überraschen sollen, war sie auf etwas anderes eingestellt gewesen. Vielleicht, weil sie in den vergangenen Jahren nur dann mit neuen Personen zum Segeln gruppiert worden war, wenn diese neuen Personen keine Erfahrung mitbrachten und von ihr lernen sollten. Oder weil Marusch nicht navigieren konnte, sich dahingehend auf sie verließ, und Lilið einfach naheliegend empfunden hätte, wenn Marusch sich auch beim Segeln auf sie verlassen müsste. Aber Marusch brauchte so wenige Anweisungen und machte ihre Sache so gut, dass Lilið ihr die Steuerposition überlassen hätte, wenn Marusch denn gewollt hätte.

Als Steuerperson saß Lilið hinten, nah am Heck, auf der der Segelseite abgewandten Bordskante, die bei der Ormorane breit und beinahe gemütlich war, und hielt den Pinnenausleger in der Hand. Das war ein Stab, der mit einem Gelenk an der Pinne befestigt war, womit sie jene also aus einigem Abstand bewegen konnte. Die Pinne wiederum war ein Bestandteil der Ruderanlage. Schob sie diese Richtung Segel, so drehte sich das Ruderblatt am Heck des Bootes vom Segel weg und lenkte den Bug des Schiffes mehr in den Wind.

Die meiste Zeit über bewegte Lilið das Ruderblatt über den Pinnenausleger nur um Nuancen. Sie spürte den Wasserdruck auf selbigem im Pinnenausleger, der locker in ihrer Hand lag, sah und fühlte, wann der Wind sich veränderte, zum Beispiel leicht drehte oder etwas nachließ, und die Ausrichtung des Segelbootes beeinflusste. Dann korrigierte sie den Kurs entsprechend für ein paar Augenblicke ein klein wenig. Und dann waren da noch die rhythischen leichten Schlenker, die sie permanent fuhr, um die Wellen als Anschub zu nutzen. Auf den Wellen zu reiten, wurde das Vorgehen genannt. Das ging bei der schweren Ormorane nicht so gut wie bei den leichteren Jollen, die sie meistens segelte, aber bei eher starkem Wind von fast hinten waren Wellen dabei, bei denen sie es schaffte, so zu steuern, dass sie sich sozusagen unter dem Heck verfingen und sie beim Versuch, unter ihnen hindurchzurauschen, antrieben.

Immer wenn sie so eine Welle ritt, verlagerte Marusch, ohne Aufforderung ihr Gewicht weiter gen Bug, denn wenn der Bug beschwerter war, konnte die Welle unter ihnen noch schlechter weg. Sie tat es für Lilið ersichtlich nicht nur, weil sie Liliðs Gewichtsverlagerung nachahmte, sondern hatte auch selbst ein Gefühl dafür. Sie lächelten sich an dabei, immer wieder. Wellenreiten mit einer Ormorane war eine Kunst, gerade weil es so selten möglich war. Es machte auch deshalb Spaß und nicht nur, weil sie dabei so viel Fahrt aufnahmen.

All diese Bewegungsabläufe machte ihr Körper fast automatisch. Sie dachte nicht mehr darüber nach, sondern fühlte in das rauschende Wasser um das Boot herum hinein, in die Vibration des Holzes, aus dem die Ormorane gemacht war, und ihr Körper reagierte einfach als Antwort auf Veränderung. Die kurzen Bindfäden, die als Hilfe auf dem Segeltuch mit Aufklebern befestigt waren und die Windverwirbelungen darauf anzeigen, brauchte sie eigentlich nicht. Wenn die äußeren verwirbeln würden, die sie durch das Segeltuch hindurchschimmern sah, müsste sie fieren, also die Schot lockerer lassen, und wenn die inneren verwirbelten, dichterholen. Aber sie kamen fast nicht dazu, überhaupt zu verwirbeln. Bei Maruschs Vorsegel passierte es gelegentlich, sie blickte mehr darauf.

Lilið konzentrierte sich vor allem auf die Richtung. Darauf, dass die Inseln, die sie am Horizont sah, im passenden Winkel vom Boot aus gesichtet werden konnten. Sie segelten zwischen zweien hindurch, anschließend einen langen Bogen, bis sie eine dritte dahinter anpeilten. Lilið liebte den Moment, als die Küste der einen Insel, die sie passierten, nah genug war, um Details auszumachen.

Sie war fast traurig, dass sie schon gegen frühen Nachmittag auf ihrer Zielinsel ankamen. Sie hätte noch zwei oder drei Stunden durchgehalten. Aber nun machte es keinen Sinn, weiterzusegeln.

Sie schoss vor Ufer in den Wind auf, sodass die Segel flatterten und der Gegenwind die Fahrt aus dem Boot nahm. Marusch glitt über die Bordskante, um die Ormorane zu halten. Lilið hatte gut geschätzt, das Wasser reichte Marusch höchstens bis zur Hüfte. Lilið zog das Schwert, das mittig durch einen Schlitzkasten durch den Rumpf gesteckt war, damit das Boot beim Segeln nicht abdriftete und lauschte auf das laute Flattern der Segel. Es fühlte sich für sie oft schon ein wenig wie Magie an, wie diese agressiv Geräusche verursachenden, mächtigen Flächen an Tuch, die kaum wirkten, als wären sie zu bändigen, sofort Ruhe gaben und ungefährlich wirkten, sobald Wind in ihnen stand.

Sie rutschte über die Bordkante und klemmte auch die Ruderanlage aus, bevor sie gemeinsam das Segelboot den leeren Strand hinaufzogen, die Segel einholten, sorgfältig aufrollten und befestigten.

Dies war eine unbewohnte, kleine Insel. Eine mit etwas Zivilisation zum Auffüllen der Vorräte wäre erst übermorgen wieder dran. Lilið hatte, außerhalb von Fieberträumen, noch nie auf einer kleinen Reiseinsel übernachtet. Die Vorstellung war aufregend, einzuschlafen, und wenn sie wieder aufwachte, ganz andere Landmassen am Horizont zu sehen. Und vermutlich auch die ein oder andere Reisekagutte, weil sie sich einer der Nebenfahrwasser der größeren Reiseschiffe nähern würden.

Lilið stellte das kleine Zelt auf und bereitete auf Maruschs inzwischen wieder gewaschenen Decke ein Abendessen vor, während Marusch sich auf der Insel nach einer Quelle umsah. Nicht alle Inseln hatten so eine, daher war es wichtig, wenn sie eine fanden, ihr Trinkwasser wieder aufzufüllen, falls es auf der nächsten Insel dann nicht die Möglichkeit gäbe.

Marusch brachte tatsächlich frisches Wasser in Flaschen und einen Kanister abgefüllt mit, als sie wieder auftauchte. “Das sieht sehr edel aus, wie du das hergerichtet hast.”, sagte sie. Sie stellte den unförmigen Kanister in die Mitte, und rückte etwas Obst, das Lilið dort hingelegt hatte, darum herum an, als wäre der Kanister etwas besonderes.

Lilið grinste. “Eigentlich wäre besser, das Wasser in den Schatten zu stellen, oder?”, fragte sie schnippisch.

Marusch warf einen Blick in den wolkenverhangenen Himmel, der nicht wirkte, als würde er vor der Abenddämmerung noch aufklaren.

“Du hast recht.”, stimmte Lilið zu. “Vielleicht denke ich zu leicht bei veralbert ausgeführten Aktionen, dass sie vielleicht nicht ganz durchdacht sind, und verderbe dann ausversehen den Spaß.”

“Was nicht völlig verkehrt ist! Ersteres.”, betonte Marusch. Sie ließ sich Lilið gegenüber nieder, – was Lilið etwas enttäuschte, weil sie gern Körperkontakt gehabt hätte –, und belegte sich eine der Scheiben Brot, die Lilið abgeschnitten hatte. “Ich bin häufig albern, und ja, manchmal sehe ich dabei nicht genau genug auf Notwendigkeiten oder Gefahren. Da ist es gut, wenn du da ein Auge drauf wirfst.”

“Wie, als du dir überlegt hast, mir einen wunderschönen, verspielt klingenden Brief zu schreiben, in den eine Botschaft zu unauffällig hineinkodiert war?”, fragte Lilið grinsend.

“Wenn es auffälliger gewesen wäre, hätte Allil die Kodierung wahrscheinlich entdeckt.”, erwiderte Marusch sachlich.

Lilið fragte sich, ob Marusch das Thema nicht allmählich leid wäre. Sie hatten darüber nun schon mehrfach gesprochen und vielleicht war es nicht nett, darauf herumzureiten. Aber vielleicht war es auch in so einem Zusammenhang Unfug, Rücksicht auf Maruschs Gefühle zu nehmen.

“Wie fühlst du dazu überhaupt?”, fragte Lilið. Sie bemerkte, dass Marusch, das belegte Brot in der Hand, mit dem Essen auf sie wartete. Also nahm sie sich kurzerhand eine Banune und biss hinein. Die meisten Menschen schälten die dünne, blassrosa Schale ab, aber Lilið fand sie eigentlich ziemlich lecker.

“Wozu genau?”, fragte Marusch neugierig. “Möchtest du wissen, wie ich mich beim Schreiben des Briefs gefühlt habe? Oder wie ich darüber fühle, dass ich beinahe einen Mord an dir mitverschuldet hätte?” Endlich biss auch sie vom Brot ab. Sie wirkte ziemlich unbekümmert, fand Lilið.

“Letzteres.”, sagte sie, sich nicht einmal die Mühe gebend, vorher aufzukauen.

Marusch hingegen ließ sich Zeit mit der Antwort, bis sie das Brot verspeist, sich die Finger abgeleckt und dann in einer bereitgestellten Wasserschale gewaschen hatte. “Meistens ist es mir egal.”, sagte sie.

Lilið verbarg nicht, dass sie die Information ziemlich schockte. Sie legte die angebissene Banune beiseite. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

“Manchmal überrollt mich bei der Vorstellung ein Grauen, was gewesen wäre, wenn Allil es geschafft hätte.”, fügte Marusch hinzu. “Aber es ist Vergangenheit. Emotionen treiben oft Handlungen an, oder sind dazu da, etwas zu verarbeiten, glaube ich. Letzteres ist aussichtslos. Wenn ich etwas verarbeiten wollte, würde ich außerdem vielleicht bei den Morden anfangen, die ich mit mehr Erfolg begangen habe. Und mein Handeln ist bereits ausreichend beeinflusst. Ich weiß, worauf ich in Zukunft achten muss und werde.”

“Morde, die du mit mehr Erfolg begangen hast?”, fragte Lilið. Sie war interessanterweise darüber nicht entsetzt, obwohl sie Marusch glaubte. Zur Unterstreichung, der nicht vorhandenen Gefühle, hob sie die Banune wieder auf und aß weiter.

“Ich sagte dir schon, dass ich kein moralisch einwandfreier Mensch bin.”, erinnerte Marusch sie. “Und dass ich dir nichts über meine vergangene Identität erzählen werde. Kannst du damit leben?”

“Ich muss ohnehin! Ich habe da in den nächsten Wochen nicht so die Wahl.”, erwiderte Lilið. “Aber du suggerierst gerade, dass diese Sache, dass du Morde begangen hast, zu deiner vergangenen Identität gehört.”

Marusch nickte. “Ich verstehe, wenn dir das zu schlimm ist.”, sagte sie. “Ich weiß nur nicht, wie wir damit dann gut in den nächsten zwei Wochen umgehen werden, wie du schon sagtest.”

“Du interpretierst in eine falsche Richtung.”, widersprach Lilið. “Solange ich nichts unmittelbar mit den Morden zu tun habe und nun keine solche Gefahr mehr von dir ausgeht”, sie unterbrach sich, “also, nehmen wir an, du hältst dein Versprechen auf mehr Vorsicht und von dir ginge tatsächlich keine todbringende Gefahr mehr aus. In dem Fall zumindest ist mir deine Vergangenheit egal.” Lilið kicherte, weil sie sich so sehr in Gedanken verhedderte. “Auch nicht egal, weil ich ein übermäßig neugieriger Mensch bin. Aber egal für die Entscheidung, ob ich mit dir etwas zu tun haben will.”

“Ich halte mein Versprechen.”, versicherte Marusch. Sie atmete tief durch und setzte sich gerader hin. Was unbeschreiblich schön aussah, fand Lilið. Das entspannte, minimal besorgt wirkende Gesicht, der Blick auf ihr zweites Brot gerichtet, das schwarze Haar, das sachte im Wind wehte, bei dieser geraden Körperhaltung. “Was wäre die richtige Interpretationsrichtung gewesen?”

“Du möchtest über deine vergangene Identität nichts erzählen, aber du hast dann doch etwas preisgegeben.”, antwortete Lilið. “Das verleitet mich dazu, abgrenzende Fragen stellen zu wollen, was du preisgeben möchtest und was nicht. Was vielleicht abstrakt genug für dich ist, um doch darüber zu reden. Aber ich möchte dich auch nicht bedrängen.”

Marusch lächelte ihr Brot an. “Du bist lieb!”, sagte sie. “Du darfst alles fragen, solange es immer selbstverständlich in Ordnung sein wird, wenn ich abblocke. Ich glaube, ich würde vielleicht auch noch ein paar Worte zu den begangenen Morden loswerden, um die Sache ein bisschen einzuordnen, aber ich weiß noch nicht, wie genau. Vielleicht helfen da sogar abgrenzende Fragen, wie du sie genannt hast.”

Eine kühle Windböe wirbelte eine Ecke der Decke auf. Lilið faltete sie wieder glatt, suchte in ihrer Umgebung nach einem Stein, aber fand keinen. Also steckte sie ihre freie Hand unter den losen Sand um eine Ladung nassen Sand vom darunter auf die Deckenecke zu platzieren. Sie atmete die kühle, salzige Abendluft ein, die mit der Böe gekommen war, und konzentrierte sich dann wieder auf Marusch. “War es bei den Morden, die du begangen hast, ähnlich, wie bei dem Fastmord an mir?”, fragte sie. “Du hast Allil mal Mörderin genannt und nicht nur potenzielle Mörderin.” Lilið erinnerte sich genau daran. Es war ihr aufgefallen. “Hat sie mal eine Person ermordet, der du eine Zusammenarbeit mit ihr nahegelegt hast? Oder hat sich etwas in der Richtung mit einer weiteren Mordesperson ereignet und du nennst dich deshalb so?” Lilið wagte nicht den Oder-Teil der Frage in Worte zu fassen. Dass Marusch einen Mord eigenhändig ausgeführt hätte.

“Ich weiß, dass Allil mal einen sexuell übergriffigen Mentor ermordet hat.”, erwiderte Marusch.

Wieder hatte sie dabei diese Strenge im Ausdruck, die Lilið inzwischen glaubte, einordnen zu können. Die hatte Marusch schon beim letzten Mal gehabt, als sie über Allil gesprochen hatten. “Du hast dazu eine feste Einstellung, dass Allils verbrecherisches Verhalten üblicherweise zu undifferenziert verurteilt wird, und bereitest dich darauf vor, gegen mich gegenzureden, wenn ich den Punkt diskutieren wollte?”, fragte sie.

Marusch blickte sie eine Weile ernst an und nickte schließlich. “Und es ist nicht einfach, die Standardargumente auseinanderzunehmen.”, fügte sie hinzu. “Obwohl für mich offensichtlich ist, was alles auf welche Weise falsch läuft, weil ich eine Übersicht der politischen Gesamtlage zu haben glaube, muss ich dann auf einzelne, aus dem Gefüge herausgerissene Argumente eingehen, die Schmerz verursachen, weil sie Lagen von Menschen und Not verkennen.” Marusch seufzte. “Obwohl ich eigentlich Übung darin haben müsste, fühle ich mich immer noch nicht gewappnet, angemessen zu verteidigen. Während ich gleichzeitig auch nicht so viel von Morden halte, wie es vielleicht den Anschein erweckt.”

Lilið nickte. “Ich war gerade zumindest gar nicht darauf aus, Allil anzugreifen.”, räumte sie ein. “Das muss in meinem Kopf arbeiten. Dem Komplex gebe ich noch etwas Zeit, bevor ich dich damit wieder behellige. Es geht gerade um eine Einordnung deiner Einstellung. Hast du aus der Not heraus gemordet? Oder aus so einer anderen Lage heraus, die du gemeint hast?”

Zu Liliðs Überraschung schüttelte Marusch den Kopf. “Ich habe gemordet, weil ich beigebracht bekommen habe, dass es das Richtige ist.”, sagte sie. “Vielleicht etwa so wie Lord Lurch.”

Lilið schluckte. An dem Bissen Banune vorbei, den sie nicht ganz hinuntergekriegt hätte, aber nun schnell aufkaute. Das war eine Perspektive, mit der sie nicht gerechnet hätte, aber sie ergab einen grauenvollen Sinn und zerriss sie innerlich. Wieso konnte sie eine Person wie ihren Vater lieben? Ja, sie hatte ihn vielleicht kritisiert dafür, aber sie hatte eben auch verstanden, was die Wache gesagt hatte. Ihr Vater ermordete keine Leute, die Lebensmittel stahlen, sondern es ging um so etwas wie Bücher, die zwar interessant wirkten, aber einfach nicht lebensnotwendig wären. Sie verstand nicht, warum Leute für so einen Diebstahl ermordet wurden, aber sie verstand genauso wenig, warum Menschen für so einen Raub ihr Leben riskieren würden. Ergab ihr Strom von Gedanken überhaupt einen Sinn? Lilið fühlte, dass sie das Gesamtbild nicht sah.

Warum fiel es ihr so schwer, sich vorzustellen, Allil zu verstehen oder zumindest zu akzeptieren, wie sie war, aber sie fühlte nicht jedes Mal ein Grauen, wenn sie an die Morde ihres Vaters dachte? Warum hätte sie bis gerade am liebsten so etwas wie eine Verteidigung von Marusch gehabt, um sich mit ihr wohlzufühlen, aber fühlte sich zugleich so sehr distanziert von ihrem Alltag, in dem sie großgeworden war, nur weil das, was darin ablief, festen Regeln folgte und Maruschs oder Allils Handeln eben nicht?

Sie versuchte, das Gewusel in ihrem Kopf zu beruhigen und auf das zu reduzieren, was gerade wichtig für ihr Verständnis war. “Du bist zwar durchaus nicht die erste einbrechende Person gewesen, die ich nicht verraten habe,”, sagte sie schließlich, “aber wenn welche erwischt worden sind, habe ich keinen Versuch gewagt, meinen Vater davon zu überzeugen, sie gehen zu lassen. Und ich habe auch nicht versucht, Menschen aus den Kerkern zu befreien, womit ich vielleicht sogar mehr Erfolg gehabt hätte, als damit, meinen Vater von etwas zu überzeugen. Habe ich mich dadurch auch an Morden schuldig gemacht?”

Marusch lächelte sanft, aber entspannt wirkte sie nicht. “Vielleicht. Das kann ich nicht für dich entscheiden.”, sagte sie. “Ich hatte etwas unmittelbarer damit zu tun. Kannst du damit leben?”

Lilið nickte. “Es ist ja auch nicht so, als würde es dir nicht leidtun.”, sagte sie nachdenklich. “So scheint es zumindest.”

Aber wo und wie anfangen, diese Ungerechtigkeit der Welt, die sich Lilið hier darlegte, dieses Messen nach zweierlei Maß zu bekämpfen? Sie könnte ihren Vater wahrscheinlich von nichts überzeugen. Weil er wiederum von anderen abhinge. Und Leute aus dem Kerker zu befreien, wäre ein Rudern gegen Seenplattenströmungen. Sie verabscheute den Gedanken, so über individuelle Menschenleben zu denken. Vielleicht wäre jede Befreiung einer Person aus einem Kerker ein Gewinn. Aber dazu müsste sie vielleicht auch wissen, wofür die Leute saßen.

“Ich finde es nicht richtig, und ich handele vielleicht, als würde es mir leidtun. Aber eigentlich fühle ich nichts.”, widersprach Marusch. “Ich bin innerlich sozusagen selber tot. Ich fühle meistens überhaupt nichts. Ich handele nach meinen Überzeugungen, nicht nach meinem Mitgefühl, und die Überzeugungen werden durch diese Welt auch regelmäßig durchgerüttelt. Hat es überhaupt einen Sinn?” Marusch grinste plötzlich breit, wie um etwas zu überspielen. “Nun fange ich mit ganz schön belastendem Zeug an. Lass dir den Appetit nicht verderben.”

Es bräuchte eine Revolution, dachte Lilið. Aber wie zettelte man so etwas an?

Nachdenklich aßen sie, nun eine Weile schweigend, bevor Lilið fragte: “Aber du fühlst Romantik?” Sie versuchte, es sachlich zu tun, weil es so beabsichtigt war, und es funktioniert auch halbwegs.

“Ja sehr!” Marusch lächelte wieder sanft und blickte sie dabei an. Die dunklen Augen glänzten unter Wimpern, deren Schönheit Lilið noch nicht lange genug betrachtet hatte, fand sie.

“Ist deine Hoffnung, dass dich deine romantischen Gefühle aus deiner Depression herausholen werden?”, fragte Lilið. Sie fragte sich, ob die Diagnose von ihrer Seite in Ordnung war und fügte die Bedenken auch gleich hinzu: “Es klingt für mich nach einer, aber ich bin keine Fachperson.”

“Es kann sein, dass es eine ist, ich weiß es nicht. Ich hatte mein Leben lang schon diese langen Phasen von Gefühllosigkeit. Und wenn die Phasen sich mal verzogen, brannte in mir Wut, und die ist noch schlimmer. Oder ich fühle eine tiefe Trauer in mir, die ich sehr mag, aber niemand versteht das. Und ich kann sie oft nicht erreichen.”, sagte sie. “Romantik ist mehr ein Gefühl, das außen herum sitzt und durchaus sehr schön ist. Gerade ist das Gefühl extrem stark, ich genieße es sehr. Aber ich hoffe nicht darauf, dass sie mich heilt oder so etwas. Ich habe gemordet, Lilið, und ich fühle dazu nichts. Solche Dinge, wie dass du durch mich mitverschuldet hättest sterben können, sind mir meistens, wie gesagt, egal. Ich weiß nicht einmal, ob das nur schlecht ist. Oder ob das eben einfach ein Teil von mir ist. Ein Teil, der immer da ist, und keineswegs dadurch verschwindet, dass ich arg verliebt in dich bin.”

“Und in Heelem?”, fragte Lilið. Sie hatte den Eindruck, dass die Frage verräterisch Eifersucht wiederspiegeln könnte, die sie gar nicht empfand. Oder verdrängte sie sie einfach? “Ich glaube, ich bin einfach nur neugierig. Du musst nichts dazu sagen.” Es fühlte sich richtig an, was sie sagte. Sie fühlte sich eigentlich sehr entspannt dabei, vielleicht ein wenig freudig oder alberig verspielt.

“Weniger.”, antwortete Marusch. “Heelem und ich sind schon länger befreundet. Und ja, wir finden uns auch gegenseitig anziehend. Wir haben irgendwann darüber gesprochen und dann ausprobiert, was wir mögen. Aber es war nie so ein Gefühlschaos wie das jetzt mit dir.”

“Ist Heelem zufällig die Person, die vom Küssen auf den Mund enttäuscht war?”, fragte Lilið, sich an die kleinen Nasenküsschen erinnernd.

Marusch nickte mit einem Grinsen im Gesicht. “Heelem hat es auch noch mit anderen ausprobiert und mag es einfach nicht.” Sie fügte etwas ausdrücklicher hinzu: “Ich glaube, das darf ich erzählen, aber weitere private Fragen über Heelems Vorlieben werde ich nicht beantworten.”

Lilið nickte. “Ich habe viel zu persönliche Fragen gestellt.”, sagte sie und schämte sich tatsächlich ein wenig.

Sie schwiegen eine Weile, in der sie zu Ende aufaßen. Lilið hatte nur ausgepackt, was heute gegessen werden durfte, damit ihre Vorräte nicht irgendwann verfrüht zur Neige gehen würden.

Marusch hatte eine Menge von sich offenbart, was sie eigentlich wirklich nichts anginge, fand sie. Auf der anderen Seite half es ihr tatsächlich, ein gewisses Vertrauen aufzubauen. Mehr, als wenn sie nicht einmal gewusst hätte, dass irgendwas so großes, schweres hinter Maruschs Fassade lauerte.

Hatte es überhaupt eine Fassade gegeben? Es hatte sich nicht angefühlt, als wäre irgendeine Mauer durchbrochen worden. “Fällt es dir schwer, über deine Gefühlsleere zu reden? Vertraust du mir auf besondere Weise? Oder legst du das einfach jeder Person offen dar, die fragt.”

“Ein klein wenig Grundvertrauen brauche ich, aber sonst letzteres.”, antwortete Marusch.

“Warum?”, fragte Lilið. Sie legte sich auf die Decke, nachdem alles aufgeräumt war, sodass Marusch neben ihr Platz hätte.

Marusch setzte sich neben sie in einen Schneidersitz. “Ich weiß es nicht.”, sagte sie. “Umgekehrt habe ich aber auch nicht das Gefühl dass das privat sein müsste. Ich wüsste nicht, warum ich es nicht erzählen sollte. Vielleicht möchte ich mich einfach nicht verstecken. Vielleicht möchte ich auch zu meinen Taten stehen. Vielleicht erhoffe ich mir, irgendwann gesehen zu werden und dafür gemocht zu werden, wer ich bin.”

In Liliðs Inneren zog sich bei diesem letzten Satz alles traurig zusammen und sie wollte sagen, dass sie Marusch dafür mochte. Aber sie reflektierte, ob das wirklich stimmte. Sie mochte Marusch, aber war es dafür? “Ich mag dich zumindest mit diesem etwas. Mit dem Universum in dir, das zu dir gehört.”

Marusch legte sich nun doch neben sie und berührte vorsichtig ihre Wange mit ihren Fingerspitzen. “Das bedeutet mir viel.”, flüsterte sie. “Das dringt tatsächlich ein bisschen in mich hinein und zupft an der Traurigkeit. Danke.” Sie griff Liliðs Hand, die sich gerade, von Maruschs Geste inspiriert, auf dem Weg zu Maruschs Gesicht befand, und küsste sachte ihren Handrücken, bevor sie sie wieder ablegte. “Und wenn du morgen anders fühlen solltest, ist das auch in Ordnung.”

Lilið verstand das Ablegen ihrer Hand als Hinweis, dass sie Marusch gerade nicht anfassen sollte. Sie atmete tief ein und aus, um das Lodern niederzuringen, dass Maruschs Lippen gerade entfacht hatten. “Ich habe noch eine vielleicht schlimme Frage, eine Verständnisfrage, glaube ich.”, sagte sie.

“Ich nehme all deine Fragen.”, sagte Marusch.

“Würdest du gern zur Rechenschaft gezogen werden?” Lilið grauste es davor, aber sie konnte sich vorstellen, dass es zu Marusch passen könnte. “Für die Morde, meine ich?”

Marusch lächelte, vielleicht eine Spur veralbert. “Eigentlich nicht.”, sagte sie. “Es sei denn, damit ist etwas gemeint, was irgendwem etwas bringt. Was nicht einfach Vergeltung oder Strafe ist, sondern dazu beiträgt, dass es Leuten besser gehen kann. Ich halte nicht viel von Rache oder davon, dass Leute sich besser fühlen, wenn bloß der bösen Person genügend weh getan worden ist.” Sie machte eine Atempause, vielleicht, um den nächsten Satz noch einmal mehr zu betonen: “Aber ich würde es akzeptieren. Was auch immer das zur Rechenschaft ziehen dann beinhalten würde.”

“Ich möchte das nicht.”, flüsterte Lilið. Interessanterweise war dies für sie bis jetzt der emotionale Tiefpunkt dieses Gesprächs. “Aber ich möchte dir auch nicht im Wege stehen. Und ich möchte dich verstehen, ohne dir einfach reinzureden, weil ich was anderes für besser halte.”, fügte sie hinzu. “Ich hoffe einfach, wenn es je dazu kommen sollte, dass du zur Rechenschaft gezogen wirst, dass dabei erkannt wird, dass du nun ein anderer Mensch bist.”

Marusch grinste auf einmal sehr breit. “Die Wahrscheinlichkeit, dass ich für diese Vergangenheit zur Rechenschaft gezogen werde, ist ohnehin sehr klein!”, sagte sie. “Es ist viel wahrscheinlicher, dass du getötet wirst, weil du ein olles Buch gestohlen hast. Zehn Jahre hat das Buch niemand mit dem Arsch angesehen, und jetzt, da es weg ist, wollen diese hohen Herrschenden allen an die Gurgel, die etwas mit dem Schwund zu tun haben. Es ist alles so absurd!”

“Hast du es stehlen wollen, weil es absurd ist?”, fragte Lilið amüsiert.

“Vielleicht?” Marusch schmunzelte verschmitzt und berührte sie abermals an der Wange. “Und um es zu lesen, wie ich schon sagte. Wenn man keinen Sinn im Leben hat, ist es egal, was für Ziele dir doch noch irgendetwas geben. Dann gehst du denen halt nach.” Marusch runzelte kurz die Stirn, ohne das Schmunzeln aufzulösen. “So ist es bei mir zumindest. Und ich glaube, Heelem ist auch ein bisschen so.”

Lilið musste an Allil denken. Ob sie auch keinen Sinn im Leben sah? Aber sie verdrängte den Gedanken rasch. Marusch sah keinen Sinn im Leben und wollte sie trotzdem nicht ermorden. Und dass, obwohl sie ihren Zielen im Weg stand. Lilið wollte gedanklich gerade viel lieber bei Marusch bleiben. Und bei dem Verlangen, das sie bei Maruschs zweiter Berührung nicht unterdrückt hatte, sich ihr wieder körperlich zu nähern. “Magst du wieder küssen und solche Dinge?”, fragte sie mit möglichst weicher Stimme.

Marusch lächelte. “Sehr gern, wenn es dunkel wird.”

Lilið runzelte die Stirn. “Ist dir das im Hellen unangenehm?”, fragte sie. Sie bemerkte, dass die Frage wertend klang. “Was in Ordnung wäre. Ist es, weil dein Körper nicht so aussieht, wie du es dir wünschen würdest?”

Marusch schüttelte den Kopf. “Ich glaube, ich hätte gern kleine Brüste. Also, ich habe Brüste, aber ich glaube, ich hätte gern, dass sie sich ein bisschen mehr wölben.”, sagte sie und strich sich dabei selbst mit den Händen über die flache Brust. “Sonst bin ich eigentlich zufrieden. Und ich habe auch kein Problem mit Nacktheit im Hellen. Vielleicht mag ich dich, wenn du das magst, sehr gern mal im Hellen nackt ausführlich betrachten. Aber solange Licht da ist, würde ich mich gern mit dem Buch auseinandersetzen. Gibst du es mir?”