Nach uns die Sinnflut

CN: Misgendern, scharfe Klingen, Knebeln, toxische Mutter-Kind-Beziehung, emotionale Manipulation, Fäkalien, Demütigende Gesten, sexualisierte Übergriffigkeit.

Sie sprachen nicht, bis sie an der Teeseufel ankamen. Dort hielt Drude sie davon ab, an Bord zu gehen. “Ich denke, das Igeldings ist auf der sternschen Kagutte. Ich fange an, es als Körper einer Person wahrzunehmen, ich bin nicht ganz sicher.”, informierte dey sie leise. “Ich glaube, wir sollten die Gelegenheit jetzt ergreifen und schauen, ob ich Recht habe. Jede zukünftige Gelegenheit wird komplizierter werden. Jetzt reicht vielleicht eine geschickte Ausrede.”

“Richtig!”, stimmte Marusch zu. “Ich hatte vorhin auch den Eindruck, dass das Signal klarer ist. Und ja, vielleicht ginge es aktuell einfach, indem Lajana oder ich behaupten, dass es an uns übergeben werden soll, weil wir schneller zurück auf Angelsoge sein werden.”

“Aber wollen wir denn nach Angelsoge?”, fragte Lajana.

“Wir haben noch keinen Plan, wohin es hingeht.”, widersprach Marusch. “Aber wir können die Wachen auf der sternschen Kagutte anlügen.”

Lajana blickte Marusch einige Momente nachdenklich an, dann nickte sie. “Ich möchte das machen.”

Marusch runzelte die Stirn. “Bist du sicher? Traust du dir das zu?”

“Ich bin nicht sicher, aber ihr seid ja in der Nähe.”, sagte Lajana. “Es ist nur: wir sind alle noch wütend. Und ich kann nichts Schlimmes anstellen, selbst wenn ich wütend bin. Ihr schon. Versteht ihr?”

Marusch nickte. “Ich würde mit dir ein Zeitfenster vereinbaren, für das ich mich raushalte. Drude würde, wenn dey mag, von außen mit achtgeben. Und wenn unsere Sorge zu groß ist, kommen wir nach.”, sagte sie. “Du hast recht. Ich habe ein bisschen Zerstörungswut.”

“Ein bisschen mehr als ein bisschen.”, korrigierte Lajana.

“Würdest du in Ordnung finden, wenn ich mitkäme?”, fragte Lilið. “Ich bin auch wütend, aber ich kann vor allem Falten. Ich habe nie gelernt, irgendetwas wirklich Destruktives zu tun.”

Lajana musterte sie und nickte. “Du kannst gern mitkommen.”


Der Anfang ihres Überfalls verlief sehr einfach und widerstandslos. Mehrere der sternschen Wachen erkannten Lajana und fragten nicht einmal nach, bevor sie Lajana und entsprechend dann auch Lilið Zutritt gewährten. Lilið fragte sich, als sie über die Rampe an Bord schritten, ob sie vielleicht besser in gefalteter Form hätte mitkommen sollen. Aber es waren sicher Wachen an Bord, die Magie mindestens spüren konnten.

Lilið folgte Lajana ins Unterdeck. Die Kagutte war sehr anders als jene, auf der Lilið ungefähr zwei Wochen gewohnt hatte. Das Holz war besser verarbeitet und edler. Es roch nach Gewürzen und kaum nach Feuchte. Die Raumaufteilung war anders, aber Lajana kannte sich hier ein wenig aus, das merkte Lilið ihr an. Es war angenehm kühl unter den Planken. Wahrscheinlich befanden sie sich bereits halb unter der Wasseroberfläche.

Sie liefen an zwei Personen vorbei, die sie auch einfach passieren ließen. Lilið kam die Kagutte verhältnismäßig verlassen vor. Wahrscheinlich hatten die meisten, die nicht draußen zwischen den Wachen standen, gerade frei und Landgang. Aber an einem Tisch am Rand in der Messe saß Herr Hut und schrieb etwas in ein großes Buch. Lilið hoffte, einfach an ihm vorbeigehen zu können, ohne dass er sie entdeckte, aber natürlich blickte er auf.

“Wartet!”, rief er, als Lilið, Lajana hinterhergehend, versuchte, ihn zu ignorieren. “Oder…”

Weiter ließ Lilið ihn nicht kommen. Sie drehte sich hastig zu ihm um. “Oder was?” Zu Lajana sagte sie: “Geh ruhig schon weiter. Ich kümmere mich.” Binnen dieser wenigen Sekunden hatte sie entschieden, dass es wohl besser wäre, Herrn Hut zu beschäftigen. Er hatte in der Zentral-Sakrale auch Lajana schlimm behandelt. Und Lilið wiederum traute sich plötzlich zu, mit ihm zielführend umzugehen.

“Drohst du mir?”, fragte Herr Hut.

Lilið wartete, bis Lajana zustimmend genickt hatte und in den hinteren Teil der Kagutte weitergegangen war. Sie lehnte die Tür hinter Lajana an, drehte sich abermals zu Herrn Hut um und schritt langsam durch den Raum auf ihn zu. “Ich hatte gerade den albernen Eindruck, du würdest versuchen, mir zu drohen.” Sie setzte sich lässig auf die Bank ihm gegenüber an den Tisch. Es stimmte sie zufrieden, die versteckte Panik unter seiner Oberfläche wahrzunehmen.

“Zugegeben, ich habe dich einst gewaltig unterschätzt, Lilið von Lord Lurch.”, sagte Herr Hut. “Oder sollte ich sagen, die Blutige Mistress M?”

“Ich bin der Blutige Master M. Du kannst dir schenken, es als eine Enthüllung klingen zu lassen, mit der du mich am Haken hättest. Das hast du nicht.”, sagte sie.

Vielleicht sollte sie doch vorsichtiger provozieren. Oder war das gerade gut so? Eigentlich fühlte sie sich recht sicher, dass sie den Bluff, sehr mächtig zu sein, gut herüberbrachte, aber was, wenn er sie doch angriffe? Sie war eben, wie sie Lajana ja schon erklärt hatte, keineswegs gut darin, mit Magie zu kämpfen. Obwohl? Lilið legte die Unterarme auf den Tisch und stützte sich darauf, legte alles an Lässigkeit in ihre Haltung, was sie aufbringen konnte.

“Mag sein.” Herr Hut wich ein Stück an die Wand zurück und legte den Stift ab. Aus der angefangenen Bewegung heraus verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. Die Geste überzeugte Lilið nicht von seiner doch vorhandenen Selbstsicherheit. “Mir ist aber auch klar, dass nicht du die Zentral-Sakrale zerstört hast.”, sagte er süffisant. “Sonst hättest du es noch in meiner Anwesenheit getan. Du warst wehrlos zu dem Zeitpunkt. So schnell hast du nicht gelernt, mir etwas entgegenzusetzen. Du kannst mir drohen, so viel du willst. Ich habe keine Angst vor dir. Was kannst du mit Falten schon ausrichten? Jetzt plötzlich wie die Prinzessin aussehen, nützt dir gar nichts.”

Lilið spielte mit dem Gedanken, sich zu Maruschs Äußerem zu falten. Aber wahrscheinlich wusste Herr Hut gar nicht, wie sie aussah. Sie fühlte in den Tisch und lächelte. “Ich hoffe einfach für dich, dass es nicht zu einem Kräftemessen kommt.”, sagte sie. Sie realisierte erst jetzt, dass Herr Hut sie wahrscheinlich hatte provozieren wollen, etwas über sich preiszugeben, und war im Nachhinein froh, keine Magie ausgeübt zu haben.

“Oh, das hoffe ich auch.”, sagte Herr Hut. “Für dich allerdings.” Er versuchte weiterhin, besonders lässig auszusehen, und streckte auch noch die Beine aus.

Als einer seiner Füße Liliðs ausgestrecktes, nacktes Bein sanft berüherte, wäre sie fast zurückgezuckt. Sie riss sich zusammen, sodass nicht einmal ihr Lächeln verging. Nur die Tischplatte faltete sie an der Kante, an der er saß, fast bedrohlich langsam nach, bis sie scharf wie eine Klinge war. Sie überlegte, ob sie ihm empfehlen sollte, den Fuß wieder wegzunehmen, aber entschied sich gegen noch mehr Provokation, hoffte, dass er den Wink auch so verstand.

Dann geschah alles sehr schnell. Lajana trat zurück in die Messe. Sie hielt das Igeldings nicht in der Hand, verriet Liliðs kurzer Blick in ihre Richtung. Aber sie wirkte zufrieden. Herr Hut allerdings nutzte den kurzen Moment der Ablenkung und tat eine Geste, die Lilið im Augenwinkel sah und die ihr von Heelems Magie bekannt vorkam. Sie zögerte keine Sekunde, sondern gab dem Tisch einen kräftigen Impuls in seine Richtung. Die Befestigung vom Tisch am Dielenboden hatte sie im Vorfeld schon gelöst. Sie selbst behielt ihre Verbindung zum Tisch bei, um bei der komplexen Faltung, die sie vorhatte, genau bei der Sache zu sein: An den Stellen, an denen die Klingenkante so dicht vor Herrn Huts Körper war, dass sie durch den Tisch die Nähe spüren konnte, bremste sie sie jeweils ab. Sie nutzte die kinetische Energie, um die Klinge in einen Bogen um ihn herum zu falten, sodass ihn die Kante weiterhin nicht berührte. Es schleuderte Herrn Hut gegen die Rückwand, das verschärfte Tischmaterial schlug zu seinen Seiten ins Holz dahinter ein und verband sich mit der Schiffswand. Herr Hut konnte sich nicht mehr bewegen. Die zuvor erhobenen Arme und sein Brustkorb waren dicht umgeben von der glänzenden, diamantharten und scharfen Holzkante, sodass er nur noch sehr flach zu atmen wagte.

Dünn war seine Stimme, als er maulte: “Wenn du mich nicht sofort befreist, schreie ich!”

Lilið trat näher und riss zwei der frisch beschriebenen Seiten aus seinem Buch, das zu Boden gefallen war. “Dagegen habe ich ein Mittel.”, sagte sie. Die eine Seite zerknüllte sie (nicht, wie die meisten Menschen das machen, sondern durch bloße Berührung) und stopfte sie in seinen Mund, als er wieder zu reden ansetzte. Seine Zähne waren bloß zu einem schmalen Spalt geöffnet, weil er hatte sprechen wollen, aber das stellte für Lilið kein Problem dar. Sie faltete das ganze Papier durch die Ritze hindurch und formte in seinem Mund ein stabiles Dodekaeder daraus. Das zweite Papier legte sie auf seinen Mund, faltete es um seine Lippen herum und am Rand selbiger mit einer Ziehharmonikafaltung um seinen Hinterkopf. “Alles nicht lebensgefährlich, wenn du still hältst.”, beruhigte sie.

Herr Hut gab ein wimmerndes Geräusch von sich.

“Genau, das hast du richtig verstanden.”, erwiderte Lilið. “Wir hatten einen Vertrag, was ungewollte sexualisierte Berührungen angeht. Ich zähle die Fußberührung dazu und sehe mich ab jetzt im Recht, dass ich deine Weichteile jederzeit mit meinem Ellenbogen Bekanntschaft machen lassen darf. Ich werde es heute aus persönlichen Gründen bei dieser Verteidugung belassen. Aber sei dir im Klaren, dass ich in Zukunft bei jeder Begegnung bereit sein werde, mich stets ohne Zögern und äußerst unglimpflich zur Wehr zu setzen.”

Herr Hut nickte sehr vorsichtig. Es fühlte sich für Lilið erstaunlich wenig genugtuend an. Sie blickte zu Lajana hinüber, die einfach nur dastand und Lilið machen ließ. “Fühlst du dich ausreichend wohl mit mir?”, fragte Lilið.

Lajana nickte. “Ich hasse ihn auch. Aber ich bin trotzdem froh, dass du das so machst und nicht schlimmer.”

“Puh. Das verstehe ich.”, sagte Lilið. “Hast du es gefunden? Oder müssen wir noch weitersuchen.”

“Ich habe es in meiner Tasche.”, sagte sie. “Aber an der Garderobe im Schatzraum ist dein Mantel des Nautikas. Willst du den wiederhaben?”

Lilið nickte. Ob für sich oder ob sie ihn irgendwann dem Nautika zurückschicken würde, dem der Mantel eigentlich gehörte, war gerade egal. Beides wäre besser, als wenn er hier bliebe. Obwohl: vielleicht war es ihr doch nicht einmal gerade egal. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie sich wenige Momente später, den Mantel über den Arm gelegt, vorstellte, dass der Stofffisch, der sich darin befunden hatte, einst wieder in die richtigen Hände gelangen konnte.


Der Himmel war grau, aber es regnete nicht, als sie Mazedoge hinter sich gelassen hatten und mit Wind von der Seite über das Meer segelten. Das war sehr angenehm, fand Lilið. Das Igeldings und auch das Buch, das sie damals gestohlen hatte, lagen neben ihnen auf der Bank. Lajana hatte das Buch beim Igeldings gefunden und einfach auch mitgenommen, weil Marusch es so gerne mochte.

“Wenn ich nicht Königin werde, ist es vielleicht nicht mehr so schlimm, dass ich gestohlen habe.”, murmelte sie.

Es klang traurig, fand Lilið. Und sie konnte es verstehen. Es fühlte sich so enttäuschend an. Alles in ihr war wund und aufgescheuert. Sie war zu verletzt, um wirklich einen Triumph zu fühlen. “Wir hatten einen epischen Abgang.”, sagte sie. “Fühlt sich das für irgendwen von euch befreiend oder so etwas an?”

Die Gesichter um sie herum schwankten zwischen grinsen und stirnrunzeln. Vielleicht ging es den anderen wie ihr.

“Ein wenig.”, sagte Marusch schließlich. “Eigentlich nicht. In mir ist alles dumpf. Aber ein kleiner Teil von mir ist nun leichter. Die Belastung fällt weg, bald zu ihr zurückzumüssen. Die Fronten sind geklärter. Ich freue mich, dass nun wohl vorbei ist, dass ich gebeten werde, doch zu regieren. Das Spiel ist endlich durchgespielt.”

“Ich glaube, ich habe am wenigsten abbekommen. Und wenn ich irgendwie da sein kann, bin ich das. Ich würde für euch die Welt abfackeln, auch wenn das eigentlich eher Maruschs Ding ist, aber mir wird schon was einfallen.”, versicherte Heelem. “Ich muss sagen, Lilið, du warst echt stimmungserhellend!”

“Auf den Tisch kacken.” Drude grinste kurz und zwinkerte Lajana zu, die bei der ausgesprochenen Erinnerung wieder kicherte. Dann wurde Drudes Gesicht wieder mimikfrei, noch mehr als sonst. “Das war schon kackendreist. Das hat mir gefallen.” Dey seufzte. “Ich fragte mich, ob ich irgendetwas hätte tun sollen. Ich war so still. Ich habe niemanden verteidigt. Ich bin nicht gut in so etwas. Ich wusste gar nicht, wo ansetzen, weil alles auf so unsinnige Weise verletzend war und auf so verstrickte Art voll an den eigentlichen Problemen vorbei, die für Regierung und Völker gerade wichtig wären. Ich habe einfach geschwiegen. Bin ich überhaupt gut für euch?”

“Was fragst du überhaupt!” Lilið sprang fast auf, hätte Drude umarmt, wenn dey das zuverlässig gemocht hätte. “Du warst so derbst oft da für mich. Da kann ich das auf den Tisch kacken auch selbst mal übernehmen. Würde ich auch für dich tun, natürlich.”

Lajana prustete wieder los und konnte kaum aufhören zu kichern. “Ich fand das so witzig!” Sie versuchte zu Atem zu kommen, was erst kaum funktionierte und dann war sie unvermittelt von einem Moment auf den anderen wieder ernst. “Es ist nicht Mamas Humor. Sie mag das nicht. Gar nicht. Sie fühlt sich durch so etwas sehr verletzt.”

Marusch bot ihr eine Umarmung an, aber Lajana lehnte ab. “Und das tut dir weh.”, sagte Marusch leise.

Lajana nickte. Ihre Augen wurden wieder feucht und das Weinen steckte Lilið an. Lajana sagte: “Ich hasse Lilið.”

Lilið schluckte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Und auch nicht mit dem Schmerz, den es in ihr auslöste. Meinte Lajana das so? Für einen kurzen Moment spielte es keine Rolle für Liliðs Gefühle.

Lajana blickte sie an, bis Lilið es schaffte, den Kopf zu heben und Lajanas Blick zu erwidern. “Es tut mir leid, das wollte ich nicht.”, sagte Lajana. “Sie macht das. Mama macht, dass ich Hass auf dich fühle. Ich kann da nichts gegen machen. Und ich weiß, dass es nicht stimmt. Ich habe dich nämlich auch ganz schön lieb. Ich hasse, dass ich den Hass fühle. Wie mache ich den weg?”

“Ich kenne das.” Marusch blickte in die Ferne, irgendwo in ein Gewölk, das sehr angenehm für die Augen war. Sie atmete tief ein und aus. “Ich glaube, bei mir hat Trotz geholfen. Und ich habe mir klar gemacht, dass ich nicht um jeden Preis will, dass Muddern sich wohl fühlt.”

“Dir ist doch egal, ob sie sich wohl fühlt oder nicht.”, sagte Lajana.

Marusch schüttelte den Kopf. “Meistens ja. Aber das war nicht immer so. Früher wollte ich es um jeden Preis. Wenn ihr eine Person in meinem Leben nicht gepasst hat, dann war sie darüber sehr wütend und hat es nicht ausgehalten, es mir nicht immer wieder aufzubinden. Sie hat mir vermittelt, dass es ein Charakterfehler an mir wäre, nicht zu verstehen, wie schlimm die Person jeweils wäre. Ich hatte die Wahl dazwischen, die Person zu hassen und aus meinem Leben zu entfernen, oder in ihren Augen irgendwo falsch abgebogen zu sein. Letzteres bedeutete, dass ich Schuld daran war, dass es ihr nicht gut ging, und dass sie mich stets an mein menschliches Versagen erinnerte. Ich habe mich oft für ersteres entschieden. Bis Heelem unsere Familie verlassen hat und mir die Bindung zu wertvoll vorkam, um sie über Bord zu werfen. Da hatte ich das ganz stark. Hassgefühle ihm gegenüber, die nicht richtig waren und die ich immer wieder bekämpfen musste.”

“Ich wusste, dass ich dich in eine Zwickmühle gesteckt habe, was mir immer noch leid tut, aber was eben sein musste, aber mir war bis jetzt nicht klar, wie extrem das für dich war.”, murmelte Heelem. “Und ich bin sehr froh, dass du gekämpft hast. Ich liebe dich. Willst du auf den Arm?”

Marusch nickte. Heelem platzierte sich so um, dass er wieder mit dem Bein steuerte, was bei dem Wind versprach, nur mäßig gut zu funktionieren (aber sie wussten ohnehin noch immer nicht, was das Ziel war). Marusch kuschelte sich auf seine Brust. Heelem küsste sie auf die Nasenspitze.

“Das fühlt sich angenehm vertraut und wunderschön schwul an.” Maruschs Stimme war ein Gemisch aus traurig und behaglich.

“Bist du mein schwules Mädchen?”, fragte Heelem.

Marusch nickte. “So ungefähr.”

“Mama hat mich aber nicht gezwungen, dich zu hassen.”, meinte Lajana zu Heelem. “Gezwungen eh nicht, aber diese Sache gemacht.”

“Emotionalen Druck aufgebaut.”, konkretisierte Marusch. “Sie hat dir nicht so sehr reingedrückt, dass es falsch wäre, Heelem zu mögen. Ich weiß bis heute nicht, warum sie das bei dir nicht gemacht hat aber bei mir. Vielleicht, weil ihr Heelems und meine Beziehung zu innig war.”

Lajana lächelte. “Ich will jetzt mit Lilið so eine Beziehung. Und mit Drude!”, sagte sie. “Aber ich weiß nicht, ob Mama Drude hasst.”

“Bestimmt.” Drude wirkte halb abwesend, den Blick in die Ferne gerichtet. Eine Weile schwieg dey, dann fügte dey leise hinzu: “Spätestens, wenn sie mich näher kennen lernt. Immerhin habe ich Lilið lieb.”

“Es ist schön, dass wir uns kreuzweise alle so lieb haben.”, sagte Marusch.

“Was bedeutet eigentlich antiautoritär?”, fragte Lajana.

Marusch kicherte. “Du bist immer für einen überraschenden Themenwechsel zu haben!”

“Ich habe mir das Wort endlich gemerkt! Und es ist mir gerade wieder eingefallen, dass ich das fragen wollte.”, erwiderte Lajana. Sie klang ein bisschen stolz.

“Hm, lass mich nachdenken, wie ich das erkläre. Weißt du, was eine Autorität ist?”, fragte Marusch.

Lajana runzelte die Stirn. “Ich bin mir nicht sicher.”, sagte sie. “Eine Person, die bestimmen darf?”

Marusch nickte und legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. “So ungefähr, denke ich.”

“Und du bist dagegen, dass eine Person über andere bestimmen darf?”, fragte Lajana.

“Nicht immer.” Marusch machte ein nachdenkliches Geräusch. “Ich finde nicht, dass eine Person aus Gründen über andere bestimmen dürfen sollte, die mehr auf Zufall basieren. Also zum Beispiel sollte aus meiner Sicht eine Person nicht einfach Macht über eine andere bekommen, weil sie älter ist, oder weil sie einen Titel hat, oder weil sie zufällig adelig ist, oder weil sie stärker oder skorscher ist oder sonst etwas in der Richtung. Hm.”

“Zählt dazu, Königin sein, weil ich Kind einer Königin bin?”, fragte Lajana.

Marusch nickte. “Ja. Wenn du Königin wärest, bekämst du von mir nicht automatisch deswegen Respekt. Im Gegenteil. Sobald du deine Machtposition zum Nachteil deiner Untergebenen und zu deinem Vorteil nutzt, kacke ich dir spätestens auf den Tisch.”

Lajana kicherte schon wieder. Es fiel ihr sichtlich nicht so leicht, ihre Gedanken zu sortieren. “Aber wäre für dich in Ordnung, wenn überhaupt wer Königin ist?”, fragte sie. “Denn du würdest ja nie Königin werden. Und auch die Garde nicht anführen. Und zwar, weil du antiautoritär bist, oder? Glaubst du, du würdest die Macht dann ausnutzen?”

Die Frage stimmte Marusch so nachdenklich, dass sie sich aus Heelems Umarmung löste und sich gerade hinsetzte. “Du hast schon recht. Eigentlich bin ich gegen Monarchie im Allgemeinen.”, sagte sie. “Der Trick ist: Wenn wir keine Monarchie hätten, was hätten wir dann? Ich glaube, dass unsere derzeitige Gesellschaft nicht damit umgehen könnte, keine Person in einer koordinierenden Rolle zu haben und sich einfach selbst zu organisieren. Und für so eine koordinierende Rolle würde ich eine Gruppe von Personen suchen, die verschiedene Lebensrealitäten kennen. Personen, die wissen und selbst erlebt haben, was in unserer Gesellschaft besonders weh tut. Damit wir wirklich gegen unterdrückende verinnerlichte Gedanken und existierende Machtgefälle vorgehen können, glaube ich, müssen Menschen die Vertretung für uns bilden, die die Ungerechtigkeit am eigenen Leib erfahren haben. Und der Rest der Bevölkerung ist dazu da, ihnen zu ermöglichen, die Rolle auszuüben. Das ist vielleicht nicht völlig zu Ende gedacht, aber so in etwa stelle ich mir vor, was wir tun müssen, um Machtgefälle wirklich aufzubrechen.” Marusch holte langsam tief Luft und ließ sie sanft lächelnd entweichen. “Das Ding ist, zufälliger Weise bist du eine in eine Königsfamilie geborene Person, die ich als Volksvertretung wählen würde. Mit voller Überzeugung. Nicht, weil du da hineingeboren wurdest, hätte ich dich als Königin gewollt, sondern weil ich dich in jedem System, das ich für einen guten Ersatz für die Monarchie halten würde, in eine führende Rolle wählen würde. Du bist die einzige Königin, die ich je respektiert hätte.”

“Änsehaut.”, nuschelte Lilið.

Heelem nickte. Er hatte nun auch Tränen in den Augen.

“Aber dich selbst hättest du nicht als Königin respektiert?”, fragte Lajana. “Obwohl du diese Geschlechtersache kennst, die dir weh tut, die ich nicht kenne?”

Marusch nickte. “Es wäre was anderes, wenn ich nicht im Stande wäre oder wenigstens mehr zögern würde, für meine Liebsten zu morden und zu zerstören. Aber eigentlich reicht mir die Fähigkeit, so etwas zu tun, allein schon aus, um zu sagen, mir sollte niemals eine Regierung in die Hände gelegt werden.”

“Hm.”, machte Lajana. “Aber da kannst du doch auch nichts für.”

“Das stimmt.”, sagte Marusch lächend. “Es führt trotzdem dazu, dass ich eine höhere Machtposition in der Gesellschaft habe als du. Ich habe es leichter als du. Ich bekäme viel leichter Regierungsaufgaben zugeordnet als du. Und wenn ich sie angenommen hätte, hätte ich zwar vielleicht Entscheidungen für Menschen wie dich fällen können. Vielleicht wäre das am Ende besser gewesen, weil es etwas bewirkt hätte. Aber ich hielt mehr von Radikalität. Ich sah stattdessen als logische Konsequenz, als mir Macht zugeordnet wurde, den Platz für dich zu räumen. Ich frage mich oft, ob diese Radikalität falsch war und ich als Königin mehr hätte bewirken können, aber ich glaube nicht. Wo hätte ich dann die Grenze gezogen? Ich wäre nicht nur mir unglaubhaft vorgekommen, es hätte sich auch nicht viel geändert, glaube ich.”

“Du bist zu schnell, aber ich bin auch müde.”, sagte Lajana. “Du wolltest ja auch einfach nicht regieren. Du meinst nur immer, ich kann das besser als du. Aber du kannst so komplex reden und ich nicht. Du hast in der Sitzung mit Mama etwas verstanden und ich nicht. Ich kann das doch eigentlich alles gar nicht. Warum denkst du, dass ich es besser kann als du?”

“In dem Moment, in dem du und nicht jemand für dich die Entscheidungen fällst, musst du verstehen.”, antwortete Marusch. “Also müssen alle Beteiligten sich so erklären, dass du sie verstehst. Sie müssen dann auf einmal mit dir reden. Und am Ende hilft das nicht nur dir, sondern der ganzen Bevölkerung, weil dann auf einmal alle Informationen in einfacherer Sprache verfügbar sind und alle Entscheidungen, die du fällst, transparenter.”

“Das einzige Problem, das ich sehe, ist, dass Lajana auch manipuliert werden könnte.”, murmelte Drude. “Ich habe eure Mutter nun aus der Nähe kennen gelernt. Ich traue ihr zu, dass sie mich dazu bringen kann, ausversehen etwas für gut zu halten, was ihr einfach in den Kram passt. Sie würde ihre Meinung in so passende Worte kleiden, dass ich sie reflexartig glaube.”

Marusch nickte. “Das Problem habe ich auch immer gesehen.”, sagte sie. “Ich hätte mir gewünscht, dass ich da gegenhalten kann. Und Heelem. Wir sind dagegen auch nicht immun, aber Heelem hat mir so viel über ihre Tricks erklärt, dass ich mir zutraue, einiges abzufangen.” Marusch grinste plötzlich zuversichtlich. “Und ich kenne Lajana. Sie will alles genau verstehen, bevor sie etwas entscheidet und ist vorsichtig damit. Die Angst vor Manipulation bleibt durchaus trotzdem.” Sie seufzte. “Ich habe es dennoch für die beste Option gehalten, die wir haben. Selbst wenn Muddern uns irgendwo noch im Griff gehabt hätte, es gibt Dinge, da ist Lajana kompromisslos. Es wäre in jedem Fall besser als vorher geworden, denke ich. Es wäre es wert gewesen, es zu versuchen.”

“Kann ich mit dir kuscheln?”, fragte Lajana Drude.

Drude nickte und öffnete die Arme. Nun war nur noch Lilið nicht bekuschelt, denn Marusch hatte sich wieder an Heelem gelehnt. Die Abe hatte bei ihrem Ablegemanöver einen Spazierflug begonnen und war noch nicht wieder zum Kuscheln oder so etwas zurück. Aber das war vielleicht gerade nicht schlimm. Lilið wickelte sich in den Mantel des Nautikas. Es war auch schön, den anderen beim Kuscheln zuzusehen, während die Dunkelheit des Abends auf sie herabsank.

“Wo segeln wir eigentlich hin?”, fragte Heelem.

Niemand antwortete. Liliðs Geist spielte ihr schon den halben Tag immer wieder ein Ziel vor, für dass sich ein Teil von ihr längst entschieden hatte, während der andere Teil deshalb nicht mehr klar über andere Optionen nachdenken konnte. Sie seufzte und gab nach. “Nach Schleseroge?”

Heelem lächelte. “Ich habe von der Reiseinsel gehört.”, meinte er nachdenklich. “Es soll ein kleiner, eigenständiger Staat darauf gegründet worden sein, der irgendwie, hm, ja, sehr antiautoritär existiert, erzählt man sich. Wir könnten danach suchen und herausfinden, ob dieser Staat wirklich existiert, oder ob das bloß ein hoffnungsvolles, modernes Märchen ist.”

“Ich war dort.”, sagte Lilið knapp. Nun, knapp reichte den anderen natürlich nicht, und auf entsprechend fragende Blicke hin, lieferte sie ihren verschwommenen Bericht nach.

“Ich finde das gut.”, sagte Drude. “Das klingt, nach einem Ort, an dem wir zumindest heilen können. Und lernen, wie wir über diese Igelwellen kommunizieren. Und dann, in einem halben Jahr oder so, wenn wir weit herumgekommen sind, können wir uns ausdenken, ob wir da bleiben oder mit den neuen Erkenntnissen und der neuen Kraft eine Revolution anzetteln.”

Heelem kicherte. “So etwas in der Richtung habe ich mir tatsächlich vorgestellt, als ich mich mit dem Angebot verabschiedet habe, das auf den Tisch kacken beim nächsten Besuch nachzuholen.”

Lilið grinste, weil die anderen das mit dem auf den Tisch kacken einfach alle übernommen hatten. “Und irgendwann wenn wir alt sind, sollte der Fall eintreten, dass wir den Mist überleben, erwartet uns eine freundliche Invasion Außerirdischer. Darauf freue ich mich!”

“Ich finde, es ist ein angenehm absurdes Gefühl, dass wir bei einer Revolution von Außerirdischen unterbrochen werden könnten und diese zwei sehr unterschiedlichen Dinge dann einfach gleichzeitig dran sein müssen.”, sagte Marusch. “Das hört sich so angenehm albern an.”

“Ich möchte außerdem auch noch ein bisschen leben.”, fügte Lajana hinzu. Es klang traurig und warm zugleich. “Nicht nur geduldet sein, sondern mich ganz und richtig fühlen. Mit euch.”


Schlimmen Autoritätspersonen gegenüber unmissverständlich Missachtung zu zeigen, ist ein ermächtigender Zug. Einer, der durchaus befreiend ist, weil er ermöglicht, sich von der akuten Situation abzugrenzen. Aber solange die Probleme an sich da bleiben, solange Leute in den Räumen, wo wir auch sein wollen, die Regeln vorgeben, die uns nicht respektieren, wird es sich nie nach leben anfühlen.


Lilið glitt verrichteter Dinge am Himmel entlang über das weite Meer. (Es geht hier also um die Abe.) Die Teeseufel mit Drude und den anderen darauf war bereits fast am Horizont. Lilið hatte noch einiges an Flug vor sich und war eigentlich schon müde. Aber auch sehr zufrieden mit sich selbst: Lilið hatte sich nicht getraut, auf deren Tisch zu kacken. Zwischen so vielen hochkarätigen Magie-Futzis war das doch recht riskant, wenn Drude nicht dabei war. Lilið hatte stattdessen in deren Schuhe geschissen. Drachendreck empfanden diese Leute vermutlich auch weniger schlimm, als hätte das andere Lilið sich darin erleichtert. Aber es war ein Anfang. Lilið, die Abe, hatte eine Revolution begonnen. Oder so.

Die Abe freute sich darauf, sich später selbstgefällig in Drudes Schoß zu schmiegen. Das Schöne: Drude wäre stolz auf Lilið, immer, einfach so. Drude würde nicht wissen, was Lilið so zufrieden machte, aber es war auch nicht wichtig. Es reichte, wenn Lilið sich selbst deswegen sehr gefiel. Den anderen gefiel Lilið auch so, einfach weil.