Aus Staub machen

CN: Suizid als Thema, emotionale Erpressung, Misgendern, Reden über Mord, Reden über BDSM, vor Füße spucken - erwogen, Fantasy-Religion - mehrfach erwähnt.

Marusch und Lilið unterhielten sich. Das machte zwar viel Spaß, war aber bisher nicht unbedingt ergiebig. Marusch hatte sich in der Werft ebenfalls nach einem Stück Draht umgesehen. Ihrer war nicht so gut wie Liliðs, aber taugte trotzdem. Nun saß Lilið zwischen den Öwenen auf der Kaimauer im Wind mit Blick in den Hafen und Marusch spazierte in die Hafenstadt hinein. Das Signal wurde schwächer und stärker. Sie versuchten, herauszufinden, was es schwächte. Entfernung war ein Faktor, aber auch Häuserwände, manche mehr, manche weniger.

Sie vermuteten, dass das Igeldings sie nicht empfangen konnte, weil sie mit ihren Drähten nicht einmal über die Insel Oesteroge hinweg senden konnten. Aber vielleicht hatte das Igeldings auch einen viel empfindlicheren Empfang als sie beide über ihre Haut.

Marusch hatte aus Texten im Buch geschlossen, dass es im Prinzip möglich war, über die magnetischen Wellen sozusagen ähnliche Laute zu erzeugen wie durch Sprechen. Sie hörten, weil Schall sich durch Luft bewegte, und auch durch anderes Medium wie Mauern, aber schlechter als durch Luft. Schall hatte etwas mit Druckveränderungen zu tun, so viel hatten sie verstanden. Die magnetischen Schwingungen hatten entgegen etwas mit der Veränderung von Magnetfeldern und ähnlichem zu tun. Diese Schwingungen konnten sogar leeren Raum durchdringen, erklärte das Buch. Auf diese Weise konnten die Alligel im Weltraum über große Distanzen kommunizieren. Aber es gab Materialien, die auch diese Schwingungen abdämpften.

Marusch und Lilið hatten noch nicht herausgefunden, wie sie über diese Schwingungen Buchstaben unterscheidbar senden konnten. Sie konnten starke und schwache Schwingungen erzeugen. Es war ihnen auch möglich, schnellere und langsamere Schwingungen zu unterscheiden. Das war in sofern interessant, als dass es genau die Charakteristika waren, die bei den geschriebenen Buchstaben der Alligel deutlich hervorstachen, also auch umgekehrt waren, was für die Alligel an akustischer Sprache hervorstach: stärkere oder schwächere Schwingungen entsprachen lauteren oder leiseren Tönen, und langsamere oder schnellere Schwingungen höheren oder tieferen Tönen.

Sie hätten mit der Bandbreite an unterscheidbarem Signal durchaus ein Alphabet entwickeln können, oder alternativ eine Ansammlung hilfreicher Wörter, aber so weit waren sie noch nicht. Zum einen, weil sie einfach noch nicht sicher genug darin waren, das zu senden, was sie senden wollten, und zum anderen, weil sie eine andere Fragestellung priorisierten: Sie wollten herausfinden, was die Schwingung abdämpfte. Zu dem Zweck hatten sie nur wenige Zeichen vereinbart. Hauptsächlich sendeten sie ein möglichst konstantes Signal und untersuchten, welche Faktoren außer Distanz beeinflussten, wann es schwächer wurde.

Die Zentral-Sakrale hatte immerhin das Signal des Igeldings vollkommen abgeschirmt. Sie hofften, mit den Erkenntnissen vielleicht ein Brett oder so etwas finden oder basteln zu können, dass die Schwingung abschirmte. Sie hofften, damit dann die Richtung ermitteln zu können, aus der das Igeldings sendete. Sie hatten keine Ahnung, ob die Idee vielversprechend wäre, aber das Forschen machte ihnen Spaß und sie hatten nichts Besseres zu tun, bis der Mast ausgetauscht wäre. Und so saß Lilið auf der Kaimauer, Öwenen kreisten um sie herum, schrien in den Wind und spien Feuer, und fühlte unter der Haut das gleichmäßige gewohnte Signal des Igeldings, sowie das neue, unstete Signal von Marusch, dem sie fortwährend antwortete.

Es begann gerade, nicht mehr all ihre Konzentration zu kosten, als Allil an die Kaimauer trat. “Kann ich zu dir kommen?”

Lilið schluckte. Das sollte sie vielleicht weniger tun, wenn Allil näher wäre, überlegte sie.

“Du kannst ‘nein’ sagen. Das ist dein Recht!”, erinnerte Allil.

Lilið tat kurzentschlossen eine einladende Handbewegung. “Ich bin beschäftigt und werde den Draht priorisieren.”

Allil nickte, lächelte und schritt über den Kai zu ihr. Sie ließ sich in brauchbar angenehmem Abstand neben Lilið nieder. Das Wasser gluckste unter ihnen gegen die Kaimauer. “Ich war in der örtlichen Sakrale. Das ist oft ein guter Ort, um aktuelle Informationen über das Geschehen zu bekommen. Auch auf Baeðisch, mein Alevisch ist noch nur bruchstückhaft.”, berichtete Allil. “Und was ich dort erfahren habe, wollte ich noch mit euch teilen, bevor ihr abfahrt. Aber die Teeseufel ist gerade nicht da und du bist gerade die einzige Person, die ich aus eurer Crew gefunden habe. Außer Heelem, aber Heelem beaufsichtigt die Reparatur und ist nicht abkömmlich.”

“Drude und Lajana sind durchs Feld spazieren gegangen und Marusch ist irgendwo in der Hafenstadt unterwegs.”, informierte Lilið. Es war nicht so einfach, zu senden, während sie gleichzeitig sprach, aber sie bekam es hin. “Du hättest gern mit einem anderen Crewmitglied gesprochen, nehme ich an?”

“Mit Marusch am liebsten, natürlich.”, murmelte Allil. “Ich würde gern mit dir besser auskommen, aber wir hatten einen unverzeihlich miesen Start. Das verstehe ich.”

“Sagen wir, ich habe gewisse Schwierigkeiten, dir zu vertrauen, dass du mich nicht plötzlich aus mir nicht ersichtlichen Gründen aus dem Hinterhalt angreifst.”, hielt Lilið fest. Sie grinste dabei. “Dein Mordversuch kam eben schon recht unvermittelt für mich. Vielleicht ist das üblich bei Mordversuchen. Unvorhersehbarkeit erhöht Erfolgschancen. Aber ich könnte dir mehr vertrauen, wenn ich nicht voll bereit gewesen wäre, unseren Deal durchzuziehen.”

Allil seufzte. “Ich habe dich sehr falsch eingeschätzt. Was keine Rechtfertigung sein soll. Soll ich ein bisschen was über mich und meine Motive erzählen?”

Lilið nickte. Ein paar Sekunden vergaß sie, zu senden, aber ihr fiel es sofort ein, als Marusch darauffolgend im Senden sozusagen stutzte.

“Ich bin nach den meisten Ethiken kein sehr korrekter Mensch. Mir bedeuten Menschenleben wenig.”, leitete Allil ein.

Lilið nickte. Der erste Satz kam ihr von Marusch bekannt vor. Der zweite wirkte selbst für Marusch eher weniger typisch. Oder nicht?

“Ich bin gewohnt, dass mir mein Leben bedroht wird, einfach weil ich eine Frau bin oder weil ich den Leuten zu unskorsch bin oder weil ich nicht adelig bin oder auch meinetwegen, weil ich stehle. Ich messe deshalb vielleicht Leben weniger Wert bei. Weil ich nicht damit zurechtkommen könnte, dass mir etwas Wertvolles ständig bedroht wird, was der Fall wäre, wenn ich Leben einen großen Wert zuornden würde. Ergibt das Sinn für dich?” Allil kratzte sich am Kopf. “Also, ich möchte klarstellen, dass das keineswegs eine normale Reaktion auf das System ist. Ich kenne auch Leute, die haben ähnliches erlebt wie ich und sind da ganz anders. Nur bei mir persönlich kam es dazu.”

Lilið fühlte sich unter Druck gesetzt, zu sagen, dass es Sinn für sie ergäbe, was es aber nicht unbedingt tat. Sie hatte keine Einschätzung dazu. “Kann ich dir erst einmal zuhören und dann irgendwann später herausfinden, ob es für mich Sinn ergibt?”

“Klar!”, stimmte Allil zu. “Ich hatte das vor allem gefragt, weil ich wissen wollte, ob ich mehr dazu erklären muss oder soll. Hm.”

“Musst du nicht. Ich denke, ich habe deine Argumente verstanden.” Lilið verhaspelte sich fast, weil eine Sendelücke durch Marusch sie wieder ans Senden erinnerte. Dieses Mal blieb Maruschs Antwort jedoch aus. Entsprechend sendete sie das Zeichen dafür, dass sie nicht empfing, und rechnete damit, dass es nicht ankäme. Zumindest war es bisher symmetrisch gewesen: Entweder es ging in beide Richtungen oder in beide nicht.

“Natürlich heißt das nicht, dass ich einfach jede beliebige Person ermorden würde. Es ist weder ungefährlich, noch macht es Spaß.” Allil grinste, aber es wirkte nicht glücklich. “Vor allem möchte ich Menschen nichts antun, die mir etwas bedeuten. Marusch zum Beispiel. Aber wenn ich eine Person vor mir habe, die durch ihre Position in der Gesellschaft eher zu den Leuten gehört, die, sobald ihnen etwas an mir nicht passt, durch ihr bloßes Erscheinen bewirken können, dass ich hingerichtet werde, komme ich dem lieber zuvor.”

“Jemand wie ich, meinst du.” Lilið runzelte die Stirn. Das Signal war immer noch nicht wieder da.

“Ich meine, selbst wenn du vorhattest, dich an die Zusage zu halten, dass du vom Erdboden verschwindest: Wieviel Energie investierst du darein, dass du nicht ausversehen doch gefunden wirst?”, fragte Allil. “Wie sehr priorisierst du in einer Situation, die für dich vielleicht unangenehm werden könnte, dass ich geschützt bleibe?”

“Viel.”, sagte Lilið ohne Gefühlsregung. “Immer noch übrigens.”

“Das weiß ich jetzt. Da habe ich dich eben sehr falsch eingeschätzt.”, sagte Allil. “Ich hätte dich eher für eine Person gehalten, die ihren Vorteil nutzt. Eine, die im Fall, dass zur Debatte steht, enterbt zu werden oder in schwierigere Lebensumstände zu geraten, schreit ‘eigene Sicherheit geht vor’ und mich mit gutem Gewissen ausliefert. Und vor allem habe ich dich nicht für eine Person gehalten, die beabsichtigt, das System zu ändern. Sondern eben eher für eine, die ins System zurückkehrt, sobald es anders zu unbequem wird.”

Lilið nickte, dann schüttelte sie den Kopf, dann erschreckte sie sich, als das Signal wieder einsetzte. Also sendete sie wieder zurück. Was war da zwischen Marusch und ihr gewesen? Was hatte das Signal so stark unterbrochen? Sie war sehr neugierig auf Maruschs Erzählungen. Aber das müsste warten. Sie sendete weiter und fand den Gesprächsfaden mit Allil wieder. “Ich habe immer gesehen, dass dein Leben an meiner Unsichtbarkeit hängt, und mir war wichtig, mit der Verantwortung gut umzugehen.”, versicherte Lilið. “Zu dem Zeitpunkt, als wir uns kennen gelernt hatten, war ich mir noch nicht im Klaren darüber, dass ich selbst dabei mitmischen möchte, das System zu ändern. Insofern hattest du da vielleicht recht. Aber ich wäre nicht leichtfertig mit deinem Leben umgegangen.”

“Nun ja.” Allil streckte die Beine aus und tauchte die Füße ins Wasser. Eine Öwene, die in der Nähe gebadet hatte, spie ihr erschreckt Feuer entgegen und flatterte davon. “Du hast vielleicht nicht beabsichtigt, der blutige Master M zu werden und dann irgendwann in der Identität auch noch als Lilið von Lord Lurch entarnt zu werden, aber das gefährdet eben mein Leben auch, weil wir zusammenhängen. Ich kann nicht wieder einfach Allil werden und hätte dann nichts mehr damit zu tun. Es existieren Nachweise, dass ich du bin.”

Lilið nickte. “Das tut mir leid.”

“Red keinen Quatsch, das ist nicht als Vorwurf gemeint.”, widersprach Allil. “Eigentlich verbündet mich das eher mit dir. Weil du nun auch in der Situation bist, dass dir Fehler, wie von der falschen Person Essen bekommen, das Leben kosten können. Wie mir eben.”

Lilið kicherte. “Du magst Leute abhängig davon, wie sehr sie in Lebensgefahr schweben?”

Allil schnaubte und schüttelte den Kopf. “Ich fühle mich solidarisch mit Leuten, die das in ähnlicher Weise tun wie ich. Das heißt nicht, dass ich sie mag.”, stellte sie klar. “Ich mag Leute, wenn sie sich Mühe geben, mich zu verstehen, glaube ich. Ich weiß es nicht genau.”

“Du magst Marusch.”, murmelte Lilið. “Und ja. Marusch versucht wirklich, dich zu verstehen.”

“Du vielleicht jetzt auch.”, mutmaßte Allil. Sie ließ den Kopf hängen und beobachtete die schwappenden und gluckernden Hafenwellen unter ihnen, in denen sie sich sehr verzerrt spiegelte.

“Vielleicht.”, stimmte Lilið zu. “Was, selbst wenn, bei mir übrigens nicht heißt, dass ich dich mag.”

“Ich weiß.” Allil erzeugte mit den Füßen Wellen, die ihre Spiegelbilder noch mehr verzerrten bis nicht einmal mehr erkennbar war, dass es welche waren. “Mir würde reichen, wenn du dich nicht mehr vor mir fürchtest.”

Maruschs Senden war über die letzten Minuten immer schwächer geworden und wurde nun wieder unterbrochen. Also sendete Lilið noch einmal das vereinbarte Zeichen für diesen Fall, das Marusch vermutlich nicht empfing.

“Jedenfalls weiß ich aus der Sakrale, dass das Bundesorakel und zwei der drei Monarchiefamilien, die noch im Rennen sind, Adel zusammensuchen, der Regierungsaufgaben übernehmen kann.” Allil setzte sich gerader hin, als wäre sie erst jetzt richtig angekommen, und strich ihren Rock glatt. Ein blass lavendelfarbener Rock, den Lilið noch nicht an ihr kannte. Ob sie ihn frisch gestohlen hatte? “Königsfamilie Stern wird vermutlich wegen verschiedener Vorfälle nicht weiter regieren, aber auch das wird erst auf dem Treffen endgültig beredet und ist noch nicht klar. Es steht in den Sternen, sozusagen.” Allil grinste kurz, aber hörte damit auch rasch wieder auf, als Lilið nicht darauf einging. “Ich habe nur Informationen über den Fall, dass die Sterne aus dem Rennen sind, und informiere dich über den Fall, ohne auf andere einzugehen. Ja?”

Lilið nickte verwirrt. Sie beschloss erst einmal zuzuhören und sich erst später Fragen auszudenken.

“Es sollen mächtige Adelige Vasallschaften annehmen, und die Kriterien dafür gehen nicht nur um skorsch sein. Auch, aber nicht nur.”, berichtete Allil. “Königin Dornrose, bei der es gut möglich ist, dass ihr das alte Königreich Sper und Inseln darüber hinaus bis einschließlich Nederoge zugesprochen werden, möchte mehr Frauen in die Politik einbinden, selbst wenn sie nicht so skorsch sind. Aber auch nicht unskorsch, sonst würden die Orakel da nicht mitziehen. Und natürlich denkt sie bei Frauen nicht an Marusch, aber durchaus an dich. Grah!”

Lilið überrasche Allils Wut ein wenig. Ihr war nicht einmal bewusst gewesen, wieviel Allil über sie in dem Punkte wusste. Sie erinnerte sich aber auch nicht, ob sie damals ein Gespräch dazu gehabt hatten. “Damit, dass ich geschlechtlich irgendwie benachteiligt bin, hat sie wohl schon recht, aber ich bin eben keine Frau.”

“Ja, ich weiß. Und es nervt. Also, dass wir drölfzig Jahre gewartet haben, bis sich Leute damit auseinandersetzen, etwas gegen geschlechtliches Ungleichgewicht, oder wie das heißt, zu tun, aber dann überlegen sie bei der Gelegenheit nicht, wie sie den Kram zu Ende denken.” Allil sprach immer schneller und unterbrach den Redefluss nur mit einem Wutgeräusch. “Es muss so beschissen sein, eigentlich mitbetroffen zu sein, und dann bei den Problemlösungsansätzen nicht mitbedacht zu werden, obwohl das Problem dich und Marusch vielleicht noch härter trifft. Immerhin ist im Königreich Dornrose schon etwas bekannter, dass es Leute wie euch gibt, aber Königin Dornrose meint, sie wolle ein Problem nach dem anderen lösen. Sie realisiert dabei nicht, dass es dassselbe Problem ist und dass sich das nicht zerteilen lässt.” Allil rang die Hände und schüttelte sich. “Ich schweife ab, ich wollte da gar nicht so ins Detail gehen.”

“Betrifft dich das auch irgendwie?”, fragte Lilið.

Allil schüttelte den Kopf. “Ich habe mich nur mit Marusch unterhalten. Übrigens auch über dich.”, sagte sie. Sie atmete ein und seufzend aus, um sich zu beruhigen. “Zurück zum Thema: Ich habe mich nicht nur unter den Sakrals-Dienenden umgehört, was wegen meines gebrochenen Alevisch ohnehin nicht ganz leicht war, ich bin auch in ein Büro eingebrochen und habe Briefe gelesen. Lesen in der Sprache fällt mir leichter. Und Listen habe ich gefunden, dazu komme ich später. Außerdem habe ich die Sakraleten belauscht, die eine dolmetschende Person dabei hatten, weil eine Sakralet aus Angelsoge angereist ist. Ich hoffe, du nimmst mir mein kriminelles Vorgehen dabei nicht allzu krumm.”

Lilið schüttelte den Kopf. “Ich habe zum einen gerade gar keine Energie, dir so etwas krumm zu nehmen, und zum anderen habe ich auch ein Ding gedreht, dass Gespräche in Sakralen belauschen mit einschloss.” Und auch da, fiel Lilið ein, war Alevisch eine Barriere für sie gewesen. In dem Zusammenhang wurde ihr bewusst, dass es spannend werden würde, welche Sprachen sie in Zukunft sprechen würden. Eigentlich wurde die Sprache durch die amtierende Regierung vorgeschrieben. Aber im Königreich Dornrose wurde Gymlisch gesprochen, wenn Lilið sich richtig erinnerte, eine Sprache, die sie nicht einmal im Schulunterricht gehabt hatte. Sie hatte neben Alevisch noch Helisch im Unterricht gehabt, weil das zugehörige Königreich mit ihrem politisch mehr zu tun gehabt hatte.

Allil grinste (das Grinsen bezog sich wohl noch auf Liliðs Bericht über ihr betrügerisches Vorgehen in einer Sakrale), holte tief Luft und berichtete: “Königin Taktika ist noch sehr jung, aber bekommt wahrscheinlich Angelsoge und den Rest des alten Königreichs Stern zugeteilt. Ihr Königreich ist ohnehin schon sehr groß. Daher fällt ihr Nederoge wahrscheinlich nicht auch noch zu. Angelsoge und Umgebung wird herausfordernd genug für sie werden. Sie lässt sich strategisch von ihrem Vater und einigen treuen Schutzbefohlenen mit Ahnung von Politik beraten, wer in Machtpositionen das geringste Konfliktpotenzial verursachen würde.” Allil blickte sich um und rückte näher an Lilið heran. Leiser fuhr sie fort: “Es gibt also diese geheimen Listen, auf denen die Namen der Leute stehen, die wohl für Vasallschaften gefragt und entsprechend auch zur großen Versammlung eingeladen werden, wenn sie abkömmlich sind. Für Angelsoge, also von Königin Taktika ausgewählt, ist Heelem auf Platz zwei. Für Nederoge hat dich Königin Dornrose auf Platz eins mit einem großen Fragezeichen notiert.”

“Was?”, fragte Lilið entgeistert. “Ich bin eine gesuchte Verbrechensperson! Verstehe ich das richtig? Ich soll trotzdem eine Insel quasi regieren?”

“Deshalb das Fragezeichen.”, erklärte Allil. “Königin Dornrose hat sich deine Geschichte berichten lassen, und kommt zu dem Schluss, dass dir vielleicht Unrecht getan wurde. Sie würde gern mit dir reden, um herauszufinden, wer du bist und ob du das Erbe deines Vaters antreten kannst.”

“Ist meinem Vater etwas passiert?”, fragte Lilið.

Allil blickte sie einige Momente mit einem Gesichtsausdruck an, in den Lilið vielleicht den Versuch las, Sorge für sie zu empfinden und zu signalisieren. Wenn das die Absicht war, scheiterte er an beidem. Der Versuch machte ihr allerdings durchaus Angst. War er gestorben? Interessanterweise fürchtete Lilið sich als erstes davor, nicht zu trauern.

“Ihm wird Machtmissbrauch vorgeworfen.”, sagte Allil. “Ich weiß kaum Details. Er soll manche Menschen, die ihm sympathisch waren, sehr bevorteilt haben, hingegen Menschen, die ihm egal waren, erpresst, damit sie Entscheidungen zu seinen Gunsten fällen. Es gibt Verhandlungen gegen ihn. Eigentlich schon lange, aber sie wurden nun wieder aufgenommen. Königin Stern hatte bis jetzt versucht, es unter den Tisch zu kehren, weil sie ihn wiederum mag. Königin Dornrose hat andere Prioritäten. Wie gesagt: Frauen. Wenn das alte Dornröschen leicht an eine Möglichkeit kommt, einen Mann zu entmachten und eine vermeintliche Frau zu ermächtigen, tut sie es.”

“Ah.”, sagte Lilið. Sie hatte von den Verhandlungen vor mehreren Jahren am Rande mitbekommen. Ihr Vater hatte sie als reine Formsachen abgetan. Lilið hatte das nie hinterfragt, weil er es immer so selbstverständlich und beiläufig wie etwas Normales dargestellt hatte, was eben zu dem Status eines Lords dazugehörte. Üble Nachrede gab es immer. Letzteres stimmte wahrscheinlich trotzdem. Nun wusste Lilið nicht, was sie denken sollte. Ihr fehlte Einblick, vor allem unvoreingenommener Einblick.

“Für Mazedoge samt Inselkomplexen kommt Drude in Frage. Dey steht auf der Liste auch auf Platz eins, und zwar nicht, weil dey für furchtbar geeignet gehalten wird, sondern weil alle besseren Anwärtenden tot sind.”, beendete Allil die Aufzählung.

“Was heißt hier eigentlich Vasallschaften?”, fragte Lilið. “Dass die Inseln am Ende im Prinzip zu Königreich Dornrose und Königreich Taktika gehören und die entsprechenden Königinnen das letzte Wort hätten, aber wir, weil die beiden Königinnen zu weit weg sind, die eigentliche Regierungsarbeit machen und im Wesentlichen, wenn wir nicht offensichtlichen Unfug bauen, Entscheidungsfreiheit haben?”

“Ich denke, genau das, ja.”, bestätigte Allil. “Also, abgesehen vom Titel bekämst du zum Beispiel fast die Rolle einer Königin. Oder, wenn du es dann durchgesetzt bekämst, dass Leute dich so nennen, einer Königsperson oder wie du auch immer bezeichnet werden wolltest.”

“Einer Vasallsperson dann. Hm.”, machte Lilið. Sie runzelte die Stirn und lauschte für einen nachdenklichen Moment unaufmerksam dem Öwenengekreisch, die am Ende der Kaimauer ein Spektakel veranstalteten. “Was wenn ich nicht will?”

Allil zuckte mit den Schultern. “Du wirst nicht gezwungen.”, erwiderte sie. “Aber ich würde dich gern auf dem Posten sehen wollen. Du würdest was verändern, was Dinge für mich besser macht. Und für andere.”

“Hm.”, machte Lilið noch einmal. Ein großer Haufen Gefühle und Gedanken zum Für und Wider überflutete sie. Sie brauchte nicht lange, um eins der Gefühle herauszugreifen: Pflichtgefühl. Sie hätte vielleicht die Möglichkeit dazu, in eine Position zu gelangen, die sie ermächtigte, Dinge besser zu machen. Müsste sie die nicht ergreifen?

Aber wenn sie Vasallperson werden würde, hieße das auch, dass Lajana nicht Königin werden würde. Lilið erwischte sich dabei, dass sie eigentlich auch nicht geglaubt hatte, dass es dazu kommen könnte, so sehr sie es sich wünschte. Sie würde sich trotzdem, wenn ihr Wort schon vorübergehend Gewicht haben sollte, auf jeden Fall dafür einsetzen.

“Ich würde verstehen, wenn du nicht wolltest.”, unterbrach Allil ihre Gedanken. “Es gibt sicher viele Gründe, aber einen möchte ich noch einmal explizit nennen, weil ich mich damit auskenne: Als Blutiger Master M wirst du immer besonders gefährdet sein, selbst wenn du entlastet wirst. Das, was dir angehängt wurde, kann zu jederzeit, wenn du gerade nervst, wieder ausgebuddelt werden. Es ist besonders für dich ein riskanter Posten. Das Antreten selbst allein schon. Deine Chancen, ernst genommen und entlastet zu werden, sind am besten, wenn du zur Versammlung des Bundesorakels und der Monarchie gehst. Und du weißt selbst, wie gefährlich das für dich wäre.”

Lilið nickte und blickte nachdenklich aufs Meer hinaus. Sie realisierte, dass sie schon seit einer Weile zu senden aufgehört hatte. Das war ungünstig. Marusch musste denken, dass sie sie nicht empfing. Aber jetzt würde es ihr Experiment vermutlich nur noch mehr durcheinander bringen, wenn sie mit dem Senden wieder anfinge.

“Das war, was ich erzählen wollte, bevor ich mich aus dem Staub mache.”, schloss Allil.

“Danke!”, sagte Lilið. Und sie meinte es.


Von den Königsfamilien Dornrose und Taktika hatte Lilið bis jetzt nur am Rande gehört. Die Monarchien waren einfach zu weit weg. Nederoge gehörte zu dem Rand des Königreichs Stern, das an Königreich Sper angrenzte. Sie bräuchte selbst mit den schnelleren Reisefragetten zu fast jeder Zeit im Jahr jeweils Wochen, um in einem der anderen Königreiche anzukommen. Zum Spätsommer und zum Ende des Winters gab es jeweilss ein paar Wochen, zu denen der größte Teil des Inselkomplexes von Königreich Taktika erreichbarer war. Spätsommer hatten sie gerade. Vielleicht traf sich das für die besagte Versammlung.

Jetzt sollten also die Königreiche Stern und Sper, die sie kannte, mangels Nachwuchs bei König Sper und wegen anderer Probleme bei der Königsfamilie Stern von den Königreichen außen herum geschluckt werden. Das war ein interessantes Gefühl. Es versprach sehr viel Veränderung. Aber versprach es gute Veränderung? Wieviel davon hätten sie wirklich in der Hand?

Lilið spazierte durch die Stadt auf der Suche nach Marusch, während sie drüber nachdachte. Es war eine verhältnismäßig uninteressante Stadt. Sie war klein und unscheinbar. Eigentlich wäre Lilið am liebsten einfach auf die Yacht mit den anderen zurückgegangen. Und es war ein seltsames Gefühl, dass das gerade nicht ging. Es war doch noch gar nicht so lange so, dass sie dort zusammen wohnten, aber es fühlte sich bereits nach Zuhause an.

Marusch sendete hin und wieder etwas. Aber Lilið hatte nach wievor Schwierigkeiten damit, eine Richtung auszumachen. Und ihr Kopf war zu voll, um sich über Strategien Gedanken zu machen.

Sie fand Marusch schließlich in einem öffentlichen Garten in der Nähe der kleinen Sakrale. Sie saß auf einer Steinbank im Schatten einiger Bäume, aus denen sich träge Drachenschwänze herabringelten, und blickte auf, als sie Lilið kommen sah. Etwas lag in ihrem Ausdruck, das Lilið besorgte. Sie setzte sich dazu. “Ist etwas passiert?”

Marusch hob die Brauen. “Mir nicht.”

“Sondern?”, fragte Lilið.

“Du hast irgendwann aufgehört, zurückzusenden.”, sagte Marusch. “Das wäre ja nicht so schlimm gewesen. Vielleicht ist dir etwas dazwischen gekommen. Wer weiß? Jedenfalls habe ich dich dann im Hafen gesucht, wo du nicht mehr warst. Ich habe dich und niemanden gefunden. Das hat mir Sorgen gemacht.”

“Oh.” So weit hatte Lilið nicht gedacht. “Es tut mir leid.”

“Egal.”, meinte Marusch. “Du wirkst durch den Wind. Wenn Kommunikation gerade nicht klappt und du irgendwie weg sein musst, ist das immer in Ordnung. Mit den Sorgen werde ich schon fertig. Die sind nur gerade so arg, weil um uns herum so viel passiert und du gesucht wirst. Und weil in unserem Umfeld eine Entführung eben schon mal vorkommt und so weiter. Aber gleichzeitig verstehe ich um so mehr, wenn du dann Mal Rückzug brauchst. Auch nicht abgesprochenen.”

“Halt warte!”, unterbrach Lilið Maruschs Redefluss. “Du hast mich nicht gefunden, weil ich dich gesucht habe. Was keinen Sinn ergibt, weil du wusstest, wo ich war und natürlich kommen würdest, wenn ich nicht sende, während ich nicht wusste, wo du warst. Aber ich habe verpeilt, sinnvoll zu denken.”

Marusch grinste auf einmal und öffnete die Arme, damit Lilið sich gegen sie lehnen könnte. Das tat Lilið auch. Nun roch sie nicht nur die harzigen Bäume und die vielen verschiedenen Blüten in diesem Garten, sondern auch Marusch. Ganz nah. “Allil hat mich gefunden und mit mir Informationen über die Zukunft der Politik geteilt.”, fasste Lilið zusammen. “Aber eigentlich möchte ich das nachher auch den anderen erzählen und gerade mit dir Zeit teilen, die mehr für uns ist.”

“Gern.” Maruschs Stimme klang ganz sanft, aber vielleicht auch ängstlich. “Was stellst du dir darunter vor?”

“Mehrere Möglichkeiten.”, antwortete Lilið. “Wir können über Drähte reden. Darüber, was du herausgefunden hast. Wir können uns irgendein Gebüsch suchen und zärtlich werden. Oder”, Lilið zögerte etwas, suchte nach Worten. “Oder du kannst mir erzählen, was dich belastet. Wenn du das brauchst.”

Marusch küsste ihr ins Haar. “Da ist tatsächlich eine Sache, die ich teilen möchte, weil sie in mir bohrt. Aber sie ist vielleicht schon sehr belastend.”

“Dafür bin ich gern da.”, versicherte Lilið.

Marusch begann nicht sofort mit dem Reden. Lilið fühlte ihren Brustkorb gegen ihre Seite und ihren Unterarm atmen. Marusch fühlte sich so weich und verletzlich an. Lilið fädelte ihre Arme durch Lücken, die erst dafür geschaffen werden mussten, um Marusch zurückzuumarmen.

“Ich habe es damals sehr befreiend und schön empfunden, mit dir über Suizid reden zu können.”, sagte Marusch schließlich. “Das kann ich nicht, wenn Lajana dabei ist. Sie bekommt sicher mit, dass ich nicht stabil bin, aber ich möchte nicht, dass sie weiß, wie weit das reicht. Kann ich dich darum bitten, dass du darüber nicht mit ihr redest?”

Lilið nickte. “Das hätte ich auch so nicht gemacht.”, sagte sie. “Das ist ein Teil von dir, von dem ich denke, dass nur du entscheiden solltest, wer ihn sehen darf.”

“Danke.” Marusch flüsterte es in ihr Haar. “Danke, dass ich diesen Raum bei dir haben darf, wo das bleibt und sein darf. Und sag bitte, wenn es für dich zu viel wird. Und wenn du mit einer Person darüber reden musst, dann ist das in Ordnung. Nur bitte nicht mit Lajana.”

“Ich muss mit niemandem darüber reden.”, versicherte Lilið. “Im Moment zumindest nicht.”

Marusch schloss die Arme für einen Moment fester um sie. Das war schön. “Und dann, ein anderes Thema: Wie war die Situation für dich, als ich mich Drude unterworfen habe?”

Lilið kicherte. “Ich fand dich niedlich dabei.”, sagte sie. “Darf ich dich niedlich finden? Ich kann mir vorstellen, dass das vielleicht, hm, objektivizierend ist? Oder abwertend?”

“Nein, ist es nicht.” Marusch schüttelte den Kopf. Ihr Haar kitzelte dabei Liliðs Stirn. “In manchen Kontexten und von manchen Menschen finde ich das unangenehm, niedlich empfunden zu werden. Aber du darfst mich immer niedlich finden.” Marusch küsste sie aufs Ohr. Und grinste, als Lilið die Luft einsog. “Nach meinem Zeitgefühl haben wir die Teeseufel in einer halben Stunde wieder.”, sagte Marusch. “Ich denke, wir wollen dann auch direkt aufbrechen. Daher sollten wir uns, wenn wir uns ein Gebüsch suchen, nicht zu lange darin aufhalten. Möchtest du trotzdem?”

Lilið nickte.


Aber sie fanden keins. Keins, dass sie als geeignet genug empfanden. Im Nachhinein hätten sie vielleicht den Schatten einer verwinkelten Mauer gewählt, aber da hatten sie noch gehofft, eine noch bessere Möglichkeit zu finden. Der Spaziegang durch die Nachmittagssonne mit den vielen Überlegungen über das Wenn und Wie war trotzdem schön gewesen. Auch die vielen kleinen, neckenden Küsschen zwischendurch und das Gespräch über die Schwingungen, das sich ihnen immer wieder als Thema aufgedrängt hatte: Marusch hatte herausfinden können, dass auch die Sakrale in dieser Hafenstadt die Schwingungen besser abdämpfte als alle anderen Gebäude. Sie hatte heimlich einen Stein aus dem Keller der Sakrale stibitzt, in einem unterirdischen Gewölbe, in dem umgebaut wurde, und schleppte ihn nun im Rucksack mit sich herum. Dort im kühlen, feuchten Keller war der Empfang für Liliðs Gesende zum Beispiel ganz weg gewesen. Die Schwingungen des Igeldings war noch geschwächt durchgedrungen.


Als sie die Teeseufel erreichten, waren Drude und Lajana schon da und bereiteten ein Abendessen vor. Heelem traf kurz nach ihnen ein. Er hatte sich noch in der Zentrale der Nautikae verabschiedet und sich für die Unterstützung bedankt. Er brachte eine weitere kleine Kiste Vorräte mit, die die Nautikae hatten entbehren können.

Beim Essen berichtete Lilið alles, was Allil ihr erzählt hatte. Es wühlte sie alle auf verschiedene Weisen auf.

“Nun ergibt mehr Sinn, dass Muddern Lilið vorher sehen will.”, überlegte Marusch.

Drude nickte. “Willst du zum Vorabtreffen mit Königin Stern?” Dey richtete sich an Lilið. “Ich würde mitkommen, wenn du möchtest, und versuchen, auf dich aufzupassen. Ich bin unabhängiger von ihr als Marusch und traue mich vielleicht, eher und weniger extrem einzuschreiten. Mit dem aktuellen Stand der Dinge darf ich vermutlich mit dazukommen.”

Lilið nickte. “Ich habe auch Angst, aber ich denke, ich möchte mit.”, sagte sie. “Und wenn es ist, um die Gelegenheit zu nutzen, einigen Monarchie-Leuten vor die Füße zu spucken.” Sie räusperte sich. “Das mache ich natürlich nicht. Aber es war auch ein erheiternder Gedanke, als ich in der Zentral-Sakrale festgehalten worden bin.”

Marusch kicherte. “Da hättest du mir vor die Füße spucken können.”, sagte sie. “Und ich hätte es verstanden. Fühl dich frei.”

Lilið schüttelte den Kopf.

“Falls das nicht ohnehin klar ist, ich begleite Marusch und Lajana, und auch euch zwei, wenn ihr wollt, natürlich auch überall hin.”, versprach Heelem.

Einen Moment aßen sie schweigend. Lilið mochte die Stimmung. Den Zusammenhalt.

“Wenn du mit dabei bist, Lilið, dann traut sich Muddern vielleicht wenigstens die Suiziddrohungen nicht.”, murmelte Marusch.

Lilið hob entgeisternd die Brauen. “Sie sagt so etwas wie, wenn ihr das nicht macht, bringe ich mich um?”

Marusch schüttelte den Kopf. “Perfider.”, sagte sie. “Immer dann, wenn ihr nicht in den Kram passt, wer Lajana und ich eigentlich sind, redet sie fast wie zufällig darüber, wie sehr ihr das Leben zuwider ist. Dass sie nicht leben will oder ihr Leben keinen Spaß mache. Darüber, dass sie eh nichts kann und dass sie sich oder wir sie einfach umbringen sollen. So lange, bis sie jemand tröstet und einen Rückzieher macht.”

“Autsch!” Dieses Mal fühlte Lilið rapide eine Wut in sich aufsteigen, für die sie keine Worte kannte.

“Aber ihr macht Leben wirklich keinen Spaß.”, warf Lajana ein. “Sie sagt auch sonst, dass sie des Lebens so müde ist, weil alles so anstrengend ist.”

“Schon.”, erwiderte Marusch. Sie seufzte. “Aber wenn sie nicht leben mag, weil ich nicht Königin und schon gar nicht König sein will, dann ist das ihr Problem und nicht meins.”

Lilið fragte sich, ob Marusch deshalb nicht mit Lajana darüber reden konnte, Suizidgedanken zu haben. Weil sie um keinen Preis diesen Mechanismus bei ihr auslösen wollte, den ihre Mutter bei ihnen auslöste. Vielleicht war für sie beide das Thema immer mit Erpressungsgefühlen verbunden.

Sie versuchte, sehr allgemeine Worte zu wählen, die keinen Bezug zu Maruschs Gedanken hätten, als sie sagte: “Es sind zwei sehr verschiedene Dinge, nicht mehr Leben zu wollen und diese Gedanken mit einer Person zu teilen, die gerade Kraft dafür hat und einverstanden damit ist, das mitzutragen, oder unaufgefordert über die eigene Lebensmüdigkeit immer dann zu reden, wenn andere Leute nicht das tun oder nicht das sind, was man will.”

Lajana nickte. “Ich glaube, das stimmt.”, sagte sie.

Marusch nickte ebenfalls aber sagte nichts dazu. Sie blickte mit fast entspanntem Gesichtsausdruck nachdenklich in die Ferne.

“Habt ihr etwas über die Richtung herausfinden können, in der das Igeldings von uns liegt?”, wechselte Heelem das Thema.

Marusch schüttelte den Kopf. “Vielleicht sind wir nah dran. Ich habe einen Stein der hiesigen Sakrale geklaut. Damit lässt sich vielleicht was machen.”

“Du hast ein Ding dafür, Sakralen auseinanderzunehmen, oder?”, fragte Drude.

Marusch grinste.

Nach dem Essen, als die Sonne im Meer versank, brachen sie auf. Die Teeseufel fühlte sich nach der Reparatur anders an, aber nicht schlechter. Alles zerbrach und wurde neu geschaffen. Zerstörung und Neuanfang.