Die Königin der Nacht

CN: Schlafmangel, Ratte

Der Tag zog sich wie zäher Teig. Lilið hatte sich vielleicht noch nie so ungeduldig gefühlt. Frühstücken, Navigieren, dem Matrosen seine Fragen beantworten, mit dem er kontrollierte, dass sie ihre Aufgaben richtig tat. In einem umbemerkten Moment, in dem sie eigentlich an einem Fluchtplan hatte schmieden wollen, festellen, dass das ohne Schlaf keinen Sinn ergab und stattdessen eine knappe halbe Stunde unter dem Kartentisch schlafen, dann Mittagessen. Alles war zu grell und zu laut. Sogar Wind und Nieselregen, was sie sonst liebte, war heute ein unangenehmer Reiz. Atmen fühlte sich schwer an. Eine zweite halbe Stunde Schlaf bekam sie kurz vorm Abendessen und hätte Drude sie nicht daraus geweckt, hätte sie vielleicht das Essen verpasst. Vielleicht wäre das nicht so schlimm gewesen, aber auf der anderen Seite gab es heute sogar Nachtisch und die Süße darin trug dazu bei, dass sich anschließend Navigieren wieder normal anfühlte und nicht, als ob es eine anstrengende körperliche Belastung wäre, dies zu tun. Leider war sie dann zur Schlafenszeit, so aufgedreht, dass sie nicht einschlafen konnte. Sie wälzte sich, keine sinnvolle Position findend, und gab es nach kurzer Zeit einfach auf. Dann wohl die beiden Zeitfenster für ihre je drei Stunden Schlaf tauschen und in den ersten dreien die Prinzessin aufsuchen. Das war ohnehin das, was sie den ganzen Tag trotz Angst vor Komplikationen kaum hatte erwarten können. Wachwechsel zu jener Wache, die die Prinzessin am Vortag aus dem anderen Raum gelassen hatte, war gerade gewesen und dauerte jetzt sieben Stunden.

Lilið schlich sich vorsichtig zu der Treppe und achtete dabei darauf, von niemandem gesehen zu werden. Aber sie hätte sicher nicht bemerkt, wenn Drude sie beobachtet hätte. Hoffentlich hatte Drude mehr Erfolg mit dem Schlafen als sie.

Am Fuße der Treppe wählte sie dieses Mal als Form, in die sie sich faltete, doch eine Ratte aus. Eine Ratte, selbst wenn Lilið sich für Ratten untypisch bewegte, wäre unter den Dingen, die sich in so einem Flur bewegen würden, doch am unauffälligsten. Sie linste um die Ecke. Die Wache döste wieder. Jetzt schon, am Anfang ihrer Schicht. Oder sie tat nur so, aber Lilið rechnete damit, dass sie zumindest am Vortag wirklich gedöst hatte, sonst wäre Lilið bemerkt worden.

Sie krabbelte unbeholfen zu der Tür, die die Wache nicht bewacht hatte und auch heute nicht beachte. Sie blickte sich dabei immer wieder nach ihr um, erwartete halb, die Wache irgendwann doch nicht mehr dort sitzen oder alternativ deren Blick direkt auf sie gerichtet zu sehen. Aber nichts passierte.

Unter der Tür gab es eine schmale Ritze. Also war die Tür auch im geschlossenen Zustand kein Hindernis für Lilið. Sie hatte sich als Ratte bereits vorausschauend auf eine Art ziehharmonikaartig gefaltet, dass sie nun leicht erst den forderen Teil ihres Körpers flachfalten konnte, um ihn mit den Hinterbeinchen unter der Ritze hindurch zu schieben, und anschließend zu tauschen, was an ihrem Körper flach war, um den hinteren Teil nachzuziehen. Mit ihren Augen hatte sie, als der vordere Teil im Raum ankam, an die Decke sehen müssen, und als sie sie wieder umfaltete, bemerkte sie, dass die Prinzessin sie, anders als die Wache, durchaus direkt ansah. Und dass der Raum hell erleuchtet war, während durch die Ritze unter der Tür kein Licht gefallen war.

Die Prinzessin war damit beschäftigt gewesen, ein Kleid zu besticken. Sie saß dazu auf dem Boden, die Beine angezogen und zur Seite gekippt, fast direkt unter der entzündeten Lampe. Das Kleid, das sie trug, war das gleiche von gestern, aber den Wollpullover nutzte sie nun als Sitzpolsterung. Das Kleid, das sie bestickte, war dunkelblau und sie stickte mit schwarzem, nicht sehr gut dafür geeignetem Garn Sterne darauf. Es erinnerte Lilið an ihr Kunstwerk für ihren Vater, das sie einmal gestickt hatte. Die Arbeit war ähnlich wenig ordentlich, was auf mangelnde Erfahrung hinwies, aber auch andere Gründe haben konnte.

Die Prinzessin hatte, seit Lilið im Raum war, noch keinen weiteren Stich gemacht, sondern hielt die Nadel in die Luft, sodass der Faden gespannt blieb, und blickte Lilið unverwandt an. Als lilið fertig war, ihre Faltung wieder zu sortieren und ruhig vor der Tür lungerte, grüßte die Prinzessin mit einem freundlichen “Hallo!”.

Lilið reagierte nicht sofort. Was sollte sie tun? Sie hätte sich für diesen Teil des Plans im Vorfeld Gedanken machen sollen. Erst einmal war sie froh, dass die Prinzessin nicht schrie, aber vielleicht würde sie es nachholen, sollte Lilið sich entfalten.

“Du hast dich ganz schön platt gemacht!”, kommentierte die Prinzessin. Sie ließ endlich die Nadel sinken. “Willst du herkommen?”

Lilið beschloss, erst einmal näher zu krabbeln, so scheu, dass an ihrem Krabbelstiel vielleicht nicht auffiele, dass sie gar keine Ratte war.

“Bist du eine Ratte?”, fragte die Prinzessin.

Konnte die Prinzessin Gedanken lesen oder sah sie ihr das doch an? Oder war es eine neutrale Frage? Eigentlich war es egal: Es war die Gelegenheit, den Kopf zu schütteln, damit sie sich weniger erschrecken würde, wenn Lilið sich entfaltete. Also tat sie es.

“Ich habe auch ein Igeldings, das kein Igel ist!”, teilte die Prinzessin mit und deutete auf etwas neben sich.

Dem Fingerzeig folgend sah Lilið etwas am Boden liegen, was sie nicht einordnen konnte. Es hatte viele feine Stacheln, dünner und glänzender als die von Igeln. Sie kamen Lilið auch länger und spitzer vor, aber sie konnte sich vorstellen, dass das vom Igel abhing. Zwischen den nadelartigen Stacheln waren Stacheln dünn wie Haare, oder es waren tatsächlich Haare, die aber aus irgendwelchen Gründen schnurgerade abstanden. Unten waren die Stacheln weggebogen oder eingedellt, sodass das ansonsten quasi kugelrunde Etwas auf dem Boden lag und nicht wegrollte. Es mochte so eingerollt sein, dass ein Kopf versteckt hätte sein können, aber Lilið vermutete, dass es gar keinen Kopf hatte. Dann lag es nahe, dass es nicht nur kein Igel sondern auch sonst kein Tier war.

Lilið hatte bei ihrer Betrachtung nicht mitbekommen, wie sie sich genähert hatte, aber als sie nun wieder aufblickte, war sie der Prinzessin schon beinahe zu nah für einen üblichen Abstand zwischen Menschen.

Die Prinzessin blickte einfach neugierig auf sie herab. “Vielleicht habe ich das Igeldings nicht.”, korrigierte sie sich. “Es gehört sich selbst. Aber es ist bei mir, verstehst du?”

“Ich möchte mich in einen Menschen entfalten, ist das in Ordnung?”, fragte Lilið, statt darauf einzugehen. Es war vielleicht das erste Mal, dass sie ihre Stimme in einer gefalteten Form benutzte. Sie klang weniger voll als sonst, sondern eher eingequetscht. Zumal ihr Mund irgendwo im Bauch der Ratte saß, weil ihre Nase sich perfekt zu Schnauze und Mund der Ratte hatte falten lassen. Aber ihr war der Gedanke gekommen, dass es trotzdem möglich sein sollte, also war es sinnvoll, die Prinzessin vorzuwarnen.

Die Prinzessin hob die Augenbrauen und schob sie etwas zusammen, nickte aber.

Lilið versuchte, es besonders sachte zu tun. Sie fühlte sich merkwürdig dabei. Vielleicht wie als würde sie sich ausziehen, dabei hatte sie sogar den Mantel des Nautikas mitgefaltet. Sie schaffte es, sich so zu entfalten, dass sie der Prinzessin am Ende auf dem Boden gegenübersaß, daß Haupt gesenkt in einer angedeuteten Verbeugung. “Du bist die Kronprinzessin, nicht wahr?”, fragte sie.

“Die Königin.”, korrigierte jene Person. “Aber Lajana reicht. Ich heiße Lajana. Und du?”

“Lilið.”, antwortete Lilið. Ob das so eine gute Idee war? Dass die Prinzessin sie beim richtigen Namen kannte? Oder die Königin? Oder konnte sie tatsächlich von ihr als Lajana denken? Keine Person, die mit den Familien der Monarchie nicht sehr vertraut wäre, durfte deren Vornamen benutzten. Das ging soweit, dass Lilið vom Namen Lajana noch nie mitbekommen hatte. “Köningin?”

“Ich verstehe von Recht nichts, aber meine Freundin schon und die hat gesagt, dass nach der gescheiterten Krönung ich dran gewesen wäre.”, erklärte Lajana. “Vor zwei Jahren sollten mich also Leute krönen, und weil die es nicht gemacht haben, haben meine Freundin und ich das im Kleinen gemacht.”

Lilið nickte. Es war bekannt, dass die Kronprinzessin per Gesetz schon längst hätte gekrönt werden müssen. “Aber das Volk akzeptiert diese Krönung natürlich nicht.”, sagte Lilið. “Es weiß da vielleicht nicht einmal etwas von. Es tut mir leid, wenn ich dich deswegen falsch angeredet habe.”

Lajana kicherte. “Natürlich weiß es nichts davon.”, sagte sie und sprach dann ernst weiter: “Glaubst du, dass mir das alles nicht bewusst wäre? Ich weiß, dass mich niemand ernst nimmt. Zumindest nicht, bis irgendetwas passiert. Eine offizielle Krönung zum Beispiel, oder dass sich die Welt verändert. Ich verstehe bestimmt vieles nicht, aber ich verstehe, dass ich im Moment nur verborgen Königin sein kann.”

“Ich verstehe.”, sagte Lilið und lächelte. “Ich würde dich sehr gern als meine Königin anerkennen. Ich würde dir gern helfen.”

“Würdest du mich trainieren?”, fragte Lajana.

Lilið hob zum ersten Mal den Kopf und blickte ihr verwirrt ins Gesicht. “In Magie?”, fragte sie, weil es das erste war, was ihr in den Sinn kam, aber fügte direkt hinzu: “Oder in was?”

Lajana schüttelte den Kopf. “Die Wache, die du draußen gesehen hast, meinte, mir solle es gut gehen. Dass ich zwar Gefangene wäre, aber trotzdem solle ich möglichst alles haben, was ich brauche. Deshalb lässt sie mich in ihrer Schicht immer in diesen Raum.”, erklärte sie. “Mein Zellenraum ist sehr klein, der reicht vielleicht gerade so für Liegestütze, meint die Wache. Aber hier könnte ich mich ein bisschen bewegen. Das wäre gesund für meinen Körper. Aber im Kreis gehen ist so langweilig! Ich würde mir da eine Anleitung wünschen, die das interessanter macht, aber ich will dich auch nicht herumkommandieren, nur weil du mich als Königin anerkennst.”

Lilið blickte sich im Raum um. Er war auch nicht gerade groß, immerhin befanden sie sich an Bord einer Kagutte, die durch ihre Ausmaße beschränkte, wie groß hier Räume sein könnten. Aber er war groß genug, dass Lilið vielleicht nicht allzu schwindelig werden würde, würde sie hier im Kreis rennen. Zumindest, wenn sie gelegentlich die Richtung wechselte. Die engen Kurven würden es trotzdem anstrengend machen.

Den Dingen nach zu urteilen, die es hier gab, war der Raum wahrscheinlich eigentlich als Fracht- oder Abstellraum gedacht. Es gab vor allem Regale und Gurte, um Sachen zu befestigen, ein paar nicht gebrauchte Hängematten und Bodenmatten vermutlich für den Fall, dass die Kagutte mit größerer Besetzung führe, Eimer, Besen, ein paar Spiele, irgendwelche Holzbretter, Haken und Ösen, leere Säcke, Werkzeug und Handarbeitskram. Lilið hätte so einen Raum eher dreckig erwartet, aber vermutete, dass sich Lajana in ihren ersten Nächten hier daran gesetzt hatte, alles zu putzen. Oder war das eine Tätigkeit, die eine Königin niemals ausführen würde? “Hast du hier sauber gemacht?”, fragte Lilið.

Lajana nickte. “Ich habe am zweiten Tag den Dreck wieder im Raum verteilt und noch einmal geputzt, um etwas zu tun zu haben, aber ich fand sticken dann weniger langweilig.”, erklärte sie. “In der zweiten Nacht, meine ich, nicht am zweiten Tag. Und nähen ist zwar nett, das mache ich gern. Aber ich kann es nicht gut. Und es ist keine Bewegung. Keine gesunde. Verstehst du?”

“Ja, ich verstehe.”, antwortete Lilið. “Ich kann hier jede Nacht für zwei Stunden sein. Mehr Zeit habe ich leider nicht. Ich könnte mit dir zusammen in den zwei Stunden im Raum im Kreis gehen und wir unterhalten uns dabei. Und vielleicht kann ich mir noch etwas Besseres, Aktiveres ausdenken. Klingt das gut?”

“Ja!” Lajana legte ihr Nähzeug beiseite und sprang auf.

Lilið hätte beinahe geseufzt. Sie hatte gerade eigentlich weniger Lust auf Bewegung, weil sie so müde war, aber das würde schon noch kommen. Sie stand schwerfällig auf, möglichst trotzdem ohne sich die Erschöpfung anmerken zu lassen, und bot dann, auch wenn es sich standesmäßig vielleicht überhaupt nicht gehörte, der Prinzessin den Arm an. Diese hakte sich ohne Zögern mit einem Lächeln ein und sie begannen ihre Runden.

“Ich sollte vielleicht nicht so vertrauensselig sein.”, sagte Lajana. “Du warst eine Ratte. Das fand ich sympathisch. Und bisher wirkst du nett. Aber trotzdem.”

Lilið nickte. “Stimmt schon.” Sie wusste nicht, ob es die Müdigkeit war, oder ein extremes Berührungsbedürfnis, das sie im Moment hatte, aber sie mochte die kühlen Hände auf ihrem Handgelenk und hätte am liebsten den Ärmel weiter hochgeschoben. Da ihr ohnehin zu warm war, sollte sie beim nächsten Besuch vielleicht ihren Mantel ablegen, bevor sie spazierten. “Ich finde diese Situation auch sehr kompliziert.”, gab sie zu. “Ich bin eigentlich nur gerade so von Adel und kenne daher zwar höfischen Umgang, aber auch nicht so sehr, dass ich mich darin sicher fühlen würde. Erst recht nicht mit einer Königin. Ich hätte in meinem Leben nicht damit gerechnet, mit einer Königin persönlich zu reden oder gar den Vornamen angeboten zu bekommen. Und nun bin ich hier auf einer Kagutte, wo du gefangen bist und ich dir helfen möchte. Was also auch nicht gerade ein besonders höfischer Ort ist, um eine Königin kennenzulernen. Und ich kenne mich so wenig aus. Das überfordert mich gerade alles.”

Lajana drückte ihre Hand kurz fester. Es war eine überraschend persönliche Geste. “Das kann ich verstehen.”, sagte sie. “Wir können gern alles Höfische sein lassen. Es hat sich für mich sowieso immer wie ein Spiel angefühlt, bei dem ich andere herumkommandieren kann. Ich will aber nicht herumkommandieren. Ich will regieren. Findest du, dass herumkommandieren und regieren das Gleiche ist?”

Lilið schüttelte den Kopf. “Nein.”, sagte sie, und dachte dann erst verspätet genauer über die Frage nach. “Gute Frage, eigentlich. Was genau ist regieren? Ich kann mir vorstellen, dass manche Leute regieren, indem sie herumkommandieren, aber ich glaube, es gibt auch Formen, zu regieren, die ganz ohne Herumkommandieren auskommen.” Sie dachte einen kurzen Moment an diese Insel, auf der sie gewesen war. Schleseroge. Hatte es dort eine Regierung gegeben?

“Ich denke, so etwas möchte ich.”, sagte Lajana. “Ich möchte, dass sich alle wohlfühlen können. Und sie selbst sein können. Aber ich glaube, irgendwer muss das organisieren und alles. Und aufpassen, dass niemand andere daran hindert, sich wohlzufühlen. Da hängt bestimmt eine Menge Arbeit dran, die trotzdem regiert werden muss. Das müsste ich als Königin dann tun. Und ich weiß nicht, ob ich das kann, aber das möchte ich eigentlich.”

“Das klingt wunderschön!” Lilið meinte das wirklich. An sich hatte sie mit Drude zuvor schon ein Gespräch in der Richtung gehabt, was sie sich aus der Regierung durch Lajana erhoffen würde. Aber dass Lajana sie mit ein paar kurzen Sätzen davon überzeugen könnte, dass sie doch die richtige Person dafür sein mochte, hätte Lilið nicht gedacht. Nach all dem, was sie über die Prinzessin gehört hatte. Oder nach der einleitenden Vorstellung durch sie, dass sie sich schon als Königin sah, bevor sie es näher erklärt hatte.

“Ich weiß nicht, ob ich das kann.”, widerholte Lajana. Sie klang dabei traurig, fand Lilið.

Dieses Mal versuchte Lilið tröstend ihre Hand gegen Lajanas zu drücken, was von unten weniger gut ging. “Es ist eine sehr schwere Aufgabe.”, sagte sie. “Unterstützt dich jemand? Der Kronprinz vielleicht? Ich habe mitbekommen, dass er eher nicht erpicht auf das Regieren ist, aber ich habe auch keine Ahnung, wie euer Verhältnis ist, und ob er überhaupt Fähigkeiten hätte, die er teilen könnte, die dir helfen.” Lilið hätte sich vielleicht noch mehr bei dem Versuch verheddert, weniger zu spekulieren, indem sie mit zu vielen Worten entschärfte, was sie bereits gesagt hatte, aber Lajana neben ihr fing immer mehr zu zucken an, während sie weitersprach. Und als sie einen Blick auf Lajana warf, wirkte diese eher verstört oder sogar unglücklich. Also brach Lilið ab.

“Können wir es lassen, über den Kronprinzen zu reden? Er existiert für mich nicht.”, sagte sie.

Lilið schluckte. Das fühlte sich nach harten Worten und harten Gefühlen an. “Natürlich.”, sagte sie. “Im Zweifel bist du Königin und kannst das bestimmen.”

“Ich will nicht kommandieren. Und bestimmen ist nun wirklich das Gleiche wie kommandieren. Können wir auch dabei bleiben, dass ich Lajana bin?”, bat sie.

“Es tut mir leid.”, antwortete Lilið. “Ja, klar können wir das. Mich stresst die Situation ein wenig. Du hast Recht und ich hätte dir nicht sagen sollen, dass du bestimmen kannst.”

“Du bist immer noch unterwürfig.”, stellte Lajana fest.

Lilið wurde einen Moment schwummrig im Kopf. Vielleicht weil das Wort ‘unterwürfig’ etwas in ihr auslöste, sie an Drude erinnerte. Obwohl von Lajana ja gerade nicht so ein Wunsch ausging, sondern einzig der Gedanke, mit einer Königin zusammen zu flanieren, diese merkwürdige Stimmung in ihr auslöste. Sie konnte nicht leugnen, dass Lajana recht hatte, aber sie konnte sich auch nicht entschuldigen, weil sie sich nicht zutraute, eine Entschuldigung ohne jene Unterwürfigkeit hervorzubringen. Sie würde wohl gedanklich üben müssen, sich mit ihr als gleichwertig zu sehen. “Wollen wir die Richtung wechseln und etwas schneller gehen?”, fragte Lilið.

Lajana gab ein zartes, zustimmendes Geräusch von sich und wechselte die Richtung. Sie fügte sich rasch in das neue Tempo und es wirkte, als würde es sie glücklich machen. Lilið steckte ihr Lächeln an, auch wenn sie sich immer noch unsicher fühlte. Sie lief nun auf der Innenseite und blickte in die Mitte des Raums, wo das Igeldings der Prinzessin lag, – und sie erschreckte sich. Hatte es nicht eben noch einen halben Schritt näher an der Tür gelegen? Hatte es sich bewegt, als sie nicht hingesehen hatte? Nun lag es sehr ruhig da.

“Es waren noch Fragen offen.”, griff Lajana das Gespräch wieder auf und lenkte Lilið von ihrer Beobachtung ab. “Zum Beispiel, ob mich jemand unterstützt. Und da gibt es schon ein paar. Soll ich aufzählen?”

“Gern!”, bat Lilið. Sie haderte innerlich mit ihrer Zustimmung, weil sie sich Gedanken darüber machte, dass Lajana einfach so sensible Inhalte weitererzählte, und ob Lilið vielleicht besser selbst Grenzen ziehen sollte. Aber vielleicht war es auch eine Ausnahmesituation. Vielleicht tat Lajana es eben bei einer Person, die als Ratte bei ihr aufkreuzte und sich freundlich verhielt. Oder bei einem Igeldings, das Lilið ab nun im Auge behielt.

“Im Moment ist da die Wache. Die, die draußen sitzt.”, sagte Lajana. “Sie lässt mich in diesen Raum und macht mit Magie, dass nach draußen kein Ton und kein Licht dringt, damit ich Privatsphäre habe.”

Oh, dachte Lilið. Darum also unterhielten sie sich in Normallautstärke und nichts passierte. Sie hatte es unterbewusst wahrgenommen, dass sie das taten und dass ihr Gespräch eigentlich draußen hätte hörbar sein sollen, aber Lajana hatte es so selbstverständlich getan und es war nicht direkt etwas passiert, dass Lilið den Gedanken erst einmal verdrängt hatte. “Mir hätte das klar sein sollen.”, murmelte Lilið.

“Ich führe gern Selbstgespräche, daher macht die das vor allem, glaube ich.”, sagte Lajana. “Sie sagt zwar, das wäre, damit ich Privatsphäre habe, aber sie hat das erst gemacht, als ich ausversehen mit mir selber geredet habe oder mit dem Igeldings, und ich glaube, das ist, damit anderen Wachen, wenn sie mal runterkommen, nicht auffällt, dass sie mich aus dem falschen Zimmer hören.”

Lilið nickte und lächelte. “Das kann ich mir vorstellen.”, sagte sie. Es erfüllte sie mit einem Gefühl von wenigstens etwas mehr Sicherheit, dass Lajana in der Lage war, so etwas zu durchschauen. Vielleicht basierte ihr Vertrauen Lilið gegenüber also doch auf etwas Sinnvollem. Liliðs löste den Blick einen Moment vom Igeldings, nicht nur, weil ihr dabei doch leicht schwindelig wurde, sondern auch, um ihm eine Möglichkeit zu geben, sich unbemerkt zu bewegen, falls es sich nur dann bewegen würde, wenn sie nicht hinsähe.

“Im Moment unterstützt sie mich nicht, weil sie ja nicht hier ist, aber über die meiste Zeit meines Lebens hinweg unterstützt mich Marusch.”, fuhr Lajana fort.

Lilið stolperte fast, weil sie abrupt langsamer wurde, Lajana aber nicht. Lilið unterdrückte den Impuls, sich nach höfischer Manier übergründlich zu entschuldigen. “Marusch?”

“Meine Freundin.”, erklärte Lajana. “Wir sind zusammen groß geworden und sie war immer für mich da.”

“Ich kenne Marusch.”, informierte Lilið. “Vielleicht hätte mir klar sein sollen, dass ihr miteinander persönlich zu tun habt. Den Verdacht hatte ich schon ein oder zwei Mal.”

“Hat Marusch dich geschickt?”, fragte Lajana, löste dann aber plötzlich ihre Hand aus Liliðs und hielt sich mit beiden den Mund zu. Nur für einen Moment, dann gab sie ihn wieder frei, aber behielt die Hände in seiner Nähe. “Wenn ja, erzähl mir möglichst nicht viel davon ja? Ich kann zwar eigentlich schweigen, aber manchmal verrate ich doch in den falschen Momenten das Falsche und könnte dadurch einen Plan vereiteln. Sagt sie.”

Nun waren sie doch stehen geblieben. Lilið betrachtete Lajanas Gesicht, während sie abwägte. Außerdem durchwellte sie ein Gefühl von Zuneigung. Weil sie Marusch so sehr mochte, und nun eine Person traf, durch die sie eine Verbindung zu ihr fühlte. Ob Marusch noch lebte? “Ich informiere dich also erst über Dinge, sobald du etwas wissen musst.”, versicherte sie. “Ist das in deinem Sinne?”

Lajana nickte zögerlich. “Ich bin neugierig, aber ich glaube, das wäre das beste.”, sagte sie. “Vielleicht können wir uns aber trotzdem über Marusch unterhalten. Wenn das geht, ohne dass du zu viel erzählst. Woher kennst du sie? Geht es ihr gut?”

Dieses Mal war es ein eiskaltes Gefühl, das durch Liliðs Brustkorb schwappte wie eine kalte Welle. Sollte sie Lajana von ihren Sorgen über deren Freundin erzählen? “Ich weiß nicht, wie es ihr geht.”, sagte Lilið wahrheitsgemäß. Sie fühlte das Resonieren ihrer eigenen Stimme in sich, weil sie so sanft dabei wurde. “Und ich würde mich gern mit dir über Marusch unterhalten. Und dich weiter kennen lernen. Aber meine Zeit ist rum. Ich kann erst morgen Nacht wiederkommen.”

Lajana lächelte, legte die Hände aneinander, die immer noch in der Nähe ihres Mundes verharrt hatten, und beugte Kopf und Körper sachte. Das fühlte sich surreal an: Eine Königin, die sich vor Lilið verbeugte! “Danke, dass du da warst.”, sagte Lajana. “Ich freue mich auf ein Widersehen.”

Lilið wiederholte die Geste einfach. “Ich mich auch.” Dann schritt sie Richtung Tür, wo sie sich wieder zur Ratte faltete. Das tat sie, das Gesicht der Prinzessin zugewandt, die sie dabei neugierig beobachtete. Kurz bevor Lilið sich umdrehte, um unter der Tür hindurchzukriechen, sah sie es: Das Igeldings richtete sich auf, indem es die unteren Stacheln durchstreckte, und rollte das Stück zurück, dorthin, wo es am Anfang gelegen hatte. Morgen müsste Lilið unbedingt mehr darüber herausfinden. Hatte es was mit Magie zu tun? Musste es eigentlich, aber es wäre sehr ungewöhnliche.