Ein Zurück mehr

CN: Geschlechtszuweisungen und Unfug dazu. Ableismus. Zärtlichkeiten, Erotik, Erregung und Masturbieren - erwähnt.

“Wo fange ich an?” Mit diesen Worten weckte Marusch Lilið aus dem Schlaf.

“Mist, ich sollte nicht einschlafen!”, fluchte sie. Sie glaubte, dass sie nicht lang geschlafen hatte. Ihr erster Blick galt dem Kompass, aber die Müdigkeit drohte sie direkt wieder einzuholen.

“Erwischt!”, meinte Marusch grinsend. “Ich werde dich jetzt wachhalten, wenn du nichts dagegen hast.”

“Ich bitte darum!” Lilið fühlte Maruschs warmen Körper an ihrem Rücken. Es war sehr gemütlich. Vielleicht sollte sie etwas daran ändern. Aber erst einmal wollte sie ausprobieren, ob Marusch mit dem Wachhalten erfolgreich sein würde.

“Ich denke, ich mache es spannend.”, beschloss Marusch. “Die Schrift war trickreich. Im Prinzip ist es eine Lautschrift. Eine Schrift, die versucht, das Akustische in einzeln unterscheidbare Einheiten einzuteilen, und diesen Buchstaben zuordnet. Das Ergebnis ist im weitesten Sinne ähnlich zum baeðischen Alphabet. Ein Unterschied ist, dass Buchstabengruppen, die bei uns einen einzelnen Laut erzeugen, ein eigenes Zeichen in der anderen Schrift haben.”

“Hm.”, machte Lilið. “Die Idee hattest du schon einmal, aber hatten wir nicht herausgefunden, dass es weniger Grundzeichen gab als im Alphabet? Im Baeðischen, meine ich. Müssten es mit deiner Behauptung nicht eher mehr sein?” Lilið erinnerte sich, dass das der Stand gewesen war, bevor sie das Buch kopiert hatte, aber dass die Variationen der knapp dreißig Grundzeichen nur fein waren, sie also eher mit Sonderregeln als mit neuen Buchstaben gerechnet hatten. “Oder machen die feinen Unterschiede, die erst mit meiner Kopie dazukamen, so viel aus, dass ein ganzer Satz neuer Buchstaben entsteht?”

“Die machen so viel aus.”, bestätigte Marusch Liliðs letzten Gedanken. “Tatsächlich ist in jedem Zeichen nicht nur jeweils ein Einzellaut abgebildet, der ungefähr einem baeðischen Buchstaben entspräche, sondern auch die Höhe und Lautstärke des gesprochenen Buchstaben. Also, wenn ich ein A leise spreche, dann ist das Zeichen dafür ein sehr anderes, als wenn ich ein A laut spreche.” Marusch sprach die besagten ‘A’s entsprechend laut und leise aus. “Und wenn ich wegen einer Betonung mit der Stimme nach oben gehe, dann bekommt das A in der betonten Silbe auch ein anderes Zeichen, als in einer unbetonten.”

“Das wiederum müsste doch ein Alphabet, das etwa dem baeðischen entspräche, mal vier nehmen.”, überlegte Lilið. “Mindestens. Oder mehr, wenn mehr als zwei Lautstärken und Tonhöhen abgebildet werden.”

“Es werden drei Lautstärken und drei mal drei Tonhöhen abgebildet.”, konkretisierte Marusch. “Das macht siebenundzwanzig verschiedene Grundzeichen. Erinnerst du dich an diese geschwungene Linie?” Marusch malte eine Welle auf Liliðs Rücken.

Lilið genoss die Berührung, was sich ungehörig anfühlte, weil sie nicht dazu gedacht war, genossen zu werden. “Ja.”

“Das ist das Grundzeichen für einen Ton in mittlerer Lautstärke etwa in Heelems Tonlage, nicht extra betont, aber auch nicht am Satzende.”, erklärte Marusch. “Es werden drei Tonlagen unterschieden und innerhalb jener relativ dazu drei Tonhöhen für Betonungen.”

“Äh.”, sagte Lilið so sachlich, wie dieser Laut eben ausgesprochen werden konnte. “Also, die Grundzeichen beinhalten ausschließlich Information über Tonhöhe und Lautstärke? Also, für alle Informationen, die wir zum Lesen bräuchten, sind die Grundzeichen redundant?”

“Genau!” Marusch kicherte. “Ich halte für realistisch, dass ich nicht einmal von selbst auf die Idee gekommen wäre, wofür die Grundzeichen stehen könnten, wenn es nicht im Buch erklärt worden wäre. Es gibt darüber ein eigenes Kapitel. Darin wird auch analysiert, dass Menschen Stimmen Geschlechter zuordnen. Die tiefe Tonlage tritt meistens bei Männern auf, die mittlere bei Frauen und die hohe bei Kindern. Die, die das Buch geschrieben haben, haben allerdings kein Konzept von Geschlechtern. Sie finden seltsam, dass im Fall dass Stimmhöhe Geschlecht bestimme, also Geschlecht keine weitere Bedeutung hätte, als Höhen von Stimmen zu benennen, warum es dann Abweichungen gäbe. So etwas wie eine sehr hohe Männerstimme ergibt dann keinen Sinn. Wenn aber Geschlecht andersworüber bestimmt würde, wundern sie sich, warum Stimmen Geschlechter zugewiesen würden. Außerdem verstehen sie das Konzept von Kindern besser als das Konzept von Geschlecht, und finden seltsam, Stimmen Kindsein zuzuordnen. Besonders verwirrt waren sie davon in dem Zusammenhang, warum manche Menschen dann sehr hoch singen würden. Sie gehen nicht in die Tiefe, aber ich fand den Abriss recht amüsant. Denkst du ans Steuern?”

Lilið hatte nicht nur das Steuern fast vergessen, sondern auch das Atmen und holte beides nach. Immerhin war der Kurs einfach zu halten. Sie luvte minimal an, atmete tief durch und fragte: “Wer hat das Buch verfasst?”

“Darf ich vorher noch darauf eingehen, wie die Schrift nun funktioniert?”, fragte Marusch. “Es dauert nicht lange.” Lilið konnte hören, dass sie breit grinste.

“In Ordnung.” Lilið spürte eine alberne Ungeduld ins sich und fragte sich, ob sie sie genoss oder es sie quälte. Oder beides.

Marusch malte ihr abermals die Welle auf den Rücken, aber wurde zum Ende der Kurve hin langsamer. Sie malte ein fast unscheinbares Zittern in das Ende der Linie, das Lilið vor allem merkte, weil Marusch es durch mehr und weniger Druck betonte. “In dieser Modulation der Linie am Ende kann stecken, ob es sich um ein A, oder um eine Variante von A, nämlich ein O oder ein E handelt. U ist das gleiche wie O und I ist das gleiche wie E.”

Lilið hob skeptisch die Augenbrauen und überstreckte den Nacken so sehr, dass Marusch ihre Stirn sehen könnte.

Marusch kicherte und formte einen sanften Kuss auf den Runzlungen aus, der Liliðs Körper weicher werden ließ. “Mist.”

“Hm?”, erwiderte Lilið irritiert. “Ich hatte zum Ausdruck bringen wollen, dass da ganz schön viel Detail in der Schrift auf die Tonhöhen und so eingeht, aber Vokale dann wieder nicht so sehr unterschieden werden, wie sie könnten. Das ist so”, Lilið runzelte die Stirn abermals, “nicht hilfreich zum Lesen? Und nun verwirrst du mich mit ‘Mist’. Was ist los?”

“Ich werde gerade abgelenkt durch den Wunsch, dich zu küssen.” Maruschs Stimme war warm und amüsiert, und vielleicht fordernd. “Wenn du gesteuert hast und für eine solche Unterbrechung zu haben wärest.”

“Woah ey!” Lilið bemühte sich, nicht laut zu rufen, um die anderen nicht zu wecken. Sie setzte sich gerader hin, kontrollierte Segel und Kompass. Alles stimmte noch. “Du machst es wirklich extrem spannend. Na mach schon! Küss mich!”

Marusch legte die Arme sanft um sie herum und wanderte dann mit den Fingerspitzen über ihren Körper zu ihrem Kinn. Sie waren angenehm kalt. “Ich bin auch froh, dass ich den Drang hierzu in der Zwischenzeit nicht irgendwo verloren habe.”, sagte sie. Sie küsste eine zarte Bahn an Liliðs Schläfe hinab, über ihre Wangen, an ihrem Mund vorbei auf ihren Hals, bis Lilið schnappatmete. Dann küsste sie Liliðs Lippen.

Lilið genoss es. Genoss jede heiße Berührung der Haut und des Atems. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und kammerte sich wieder an Marusch. Bis diese “Au” sagte.

Lilið ließ lockerer. “Es tut mir leid.”, flüsterte sie.

“Ich verstehe dich ja.” Marusch lächelte sie an. “Der Kurs?”

Lilið kontrollierte abermals den Kurs. Sie hatte bei der Aktion tatsächlich die Pinne bewegt. Sie waren immerhin nur für einen kurzen Moment ein paar Grad in die falsche Richtung gesegelt. Das machte nichts.

“Viele harte Konsonanten sind durch kleine Zusätze an den Zeichen gekennzeichnet, die wie ein ausrutschen der Linie am Ende wirken können.”, führte Marusch zu Ende aus.

“Hm.”, machte Lilið abermals. Wie war ihr Gehirn in der Lage, nun wieder in dieses Thema einzutauchen? “Es klingt mir danach, als wäre das Buch von Leuten geschrieben worden, die kein Baeðisch sprechen, die keinen Plan haben, was an Sprache für uns wichtig ist, und versucht haben, alles darin abzubilden, was sie in verschiedene Kategorien differenzieren konnten.”

“Du bist da was auf der Spur!” Marusch strich ihr über den Kopf.

“Ich möchte die Nacht mit dir verbringen.”, hauchte Lilið. Die sanfte Berührung fühlte sich so schön an. Sie hatte ein Verlangen nach mehr davon. Nach abwechselnder Leidenschaft und Sanftheit und nach Marusch.

“Dann habe ich gute Nachrichten für dich.”, raunte Marusch. “Wir verbringen gerade die Nacht miteinander.”

Lilið kicherte. “Weißt du, was ich eigentlich meine?”

“Ja.” Wie zur Bestätigung streichelte Marusch an ihrer Wange und ihrem Hals entlang, weiter über ihren Körper, bis ihre Hand auf Liliðs Bauch zum Liegen kam. “Möchtest du lieber nicht jetzt über das Buch reden?”

Lilið blickte auf den Kompass. “Doch. Und selbst wenn ich das fürs Kuscheln aufschieben wollte, ergäbe es keinen Sinn, weil ich steurern muss.”

“Soll ich weniger provozieren?”, fragte Marusch.

Dass war eine harte Entscheidung. Das Wort ‘provozieren’ löste eine Welle von Erregung in Lilið aus, die sie heute noch nicht gefühlt hatte. Wollte sie das überhaupt? Oder wollte sie eigentlich lieber leidenschaftlich kuscheln?

“Ich weiß es nicht.”, gab sie zu. “Aber ich bin schon wieder bei diesen Leuten, die die Sprache gelernt haben. Denn meine These ergibt vor allem Sinn, wenn sie die Sprache gar nicht verstanden haben, sondern nur per Diktat irgendetwas aufgeschrieben hätten.”

“Warum?”, fragte Marusch.

“Weil sie sonst, wenn sie die Sprache verstanden hätten, gewusst hätten, was für Information zum Verständnis nicht so relevant ist, und diese zumindest fast redundante Information dann nicht, oder wenigstens nicht so dominant abgebildet hätten. Die Hauptzeichen wären dann nicht an Tonhöhe und so etwas geknüpft. Oder?”, argumentierte Lilið.

“Es sei denn, Betonung ist gar nicht so irrelevant. Wir ergänzen sie beim Lesen nur. Weil wir das können. Aber unserer Kultur fremde Leute können das vielleicht nicht.”, widersprach Marusch. “Hinzu kommt, wenn diese Leute erst per Diktat mitgeschrieben haben, um dann vom Aufschrieb, der ja nicht so schnell vergeht wie Klang, angefangen haben, die Sprache zu lernen, dann hätten sie die Schrift vielleicht trotzdem beibehalten.”

“Was sind das für Leute?”, fragte Lilið noch einmal. “Das ist so interessant! Es fühlt sich an, wie von einem Weltraumvolk von einem anderen Planeten ausgeforscht zu werden. Ich mag die Vorstellung, sie ist großartig. Aber das ist es nicht, oder?”

Marusch schnaubte auf einmal und kicherte. “Also, doch, schon.”, sagte sie. “Nur das mit dem Planeten nicht.”

“Du willst mich doch auf den Arm nehmen!” Aber ein Teil von Lilið glaubte bereits an ein Weltraumvolk. Ihr fiel nur schwer, sich diese Idee zu erlauben, weil sie wusste, dass die meisten Menschen sie als Person weniger ernst nehmen würden, wenn sie erführen, dass sie es für möglich hielte.

“Ich möchte dich nicht auf, aber wenn du magst, gern in den Arm nehmen.”, korrigierte Marusch und legte auch den anderen Arm wieder um sie. “Nein, ich möchte dich nicht vereimern. Ich finde gerade sehr validierend, dass das auch deine erste naheliegende Schlussfolgerung war. Ich habe mich dabei auch gefühlt, als würde ich etwas sehr Unrealistisches vermuten.”

“Wenn das Weltraumvolk nicht von einem anderen Planeten kommt, woher kommt es denn dann?” Eigentlich fand Lilið die Frage gar nicht so wesentlich. Sie hatte gerade erfahren, dass es ein Volk da draußen im Weltraum gab, das auf ihrem Planeten ein Buch geschrieben hatte. Aber was sollte sie sonst fragen?

“Es ist ein nomadisches Volk.”, erklärte Marusch. “Es reist in unserem Sonnensystem und etwas darüber hinaus durchs All, ohne irgendeinen festen Wohnsitz oder so etwas.”

“Das steht in dem Buch?”, fragte Lilið.

“Ja! Und noch so einiges.”, bestätigte Marusch.

“Brauchen sie also keine Atmosphäre zum Leben?”, wollte Lilið wissen, noch ehe Marusch dazu käme, über das weitere zu reden.

“Sie brauchen keine. Im Gegenteil. Atmosphäre kann ihnen sogar Schwierigkeiten bereiten. Unsere Luft ist ganz okay für sie.” Marusch grinste. “Das Meer macht ihnen eher zu schaffen und vor allem unsere Risse zwischen den Seenplatten.”

“Ohje! Meer haben wir eine Menge!” Lilið wusste nicht, ob sie Mitleid haben sollte, aber sie konnte auch nicht vermeiden, begeistert zu grinsen.

Marusch machte ein zustimmendes Geräusch. “Manche von ihnen sind, als sie hier waren, im Meer gelandet. Wenn sie nicht zwischen den Seenplatten landen, brauchen sie einfach eine ganze Weile, um dem Meer zu entkommen. Sie rollen sich langsam über den Meeresgrund, bis sie das Ufer erreichen. Zwischen den Seenplatten bräuchten sie mehr Glück. Gegen die Strömungen kommen sie schwer an.”

“Rollen?”, fragte Lilið. Sie hatte unweigerlich sofort eine klare Vorstellung.

“Genau!” Marusch fügte nichts weiter hinzu.

“Sind sie zufällig so etwas wie kopflose Igel?” Zwischen Liliðs Aufregung und Begeisterung schob sich der Gedanke, wieder einmal den Kurs zu kontrollieren. Er passte noch.

“Genau!”, sagte Marusch abermals. “Es sind Igeldingse. Ich dachte mir, dass du mit einem Bekanntschaft gemacht haben könntest. Die meisten Igeldingse sind vor ungefähr zehn Jahren abgereist. Sie wollen in etwa zwanzig, sofern ich deren Zeitrechnung richtig verstanden und umgerechnet habe, zurückkehren, um die Zurückgebliebenen abzuholen und zu schauen, ob sich dann doch eine Gelegenheit bieten sollte, mit uns zu kommunizieren. Oder mit den Drachen. Sie haben sich beim letzten Besuch auf uns fokussiert, aber wir sind hier ja nicht das einzige Volk auf dem Planeten. Kommunikation mit Völkern hat für sie beim letzten Mal jedenfalls nicht so gut geklappt, schreiben sie. Sie hoffen, dass uns das Buch hilft, bis zu ihrem nächsten Besuch einen Kommunikationsweg mit ihnen zu finden, wenn wir wollen.”

“Was wenn nicht?”, fragte Lilið.

Sie spürte, wie Maruschs Schultern in ihrem Rücken zuckten. “Nichts.”, meinte sie. “Sie schauen gelegentlich vorbei, versuchen, es uns leichter zu machen, aber wenn es nicht klappt oder wir nicht wollen, ziehen sie halt wieder ab.”

“Und was, wenn es klappt?”, fragte Lilið.

“Naja, dann reden sie mit uns.”, erwiderte Marusch. “Ich glaube, sie interessieren sich vorwiegend für die Art, wie wir kommunizieren. Und ein wenig dafür, warum wir Fortschritt wollen und was das genau sein soll. Aber an sich machen sie einen unvoreingenommenen Eindruck. Sie sind vor allem kontaktfreudig. Sie mögen Austausch. Darum geht es ihnen.”

“Das kommt mir sehr nachvollziehbar vor.”, überlegte Lilið. “Und harmlos. Jetzt tut es mir spätestens leid, dass sie mit Seenplattenritzen kämpfen mussten. Sind welche gestorben?”

“Ich weiß nicht, inwiefern sie ein Konzept von Sterben haben, oder ob jenes unserem Konzept von Sterben ähnelt. Aber es ist schon möglich.”, antwortete Marusch. “Es ist aber auch nicht unwahrscheinlich, denke ich, dass Lajanas Igeldings aus so einer Spalte kommt. Das ist aber eine waghalsige Kalkulation. Das lässt sich nicht klar aus dem Buch schließen.”

“Ich finde es immer noch so umwerfend!”, freute sich Lilið. “Dass du mir hier erzählst, dass wir in etwa zwanzig Jahren eine freundliche Invasion durch ein Weltraumvolk erleben. Und vielleicht können wir bis dahin mit ihnen reden!”

“Hast du konkrete Ideen zu diesem Miteinanderreden?”, fragte Marusch. “Ich meine, du hast das Igeldings gesehen. Es hat keine Augen und keinen Mund.”

“Also, sie können schon einmal Bücher schreiben. Und sie können uns verstehen.” Lilið erinnerte sich daran, dass Lajana das Igeldings Fragen gestellt hatte, und es nur mäßig gut geklappt hatte. “Vielleicht reden wir zu schnell. Und vielleicht ist es besser, wenn wir lernen, über diese Wellen zu reden, die dieses Igeldings fabriziert.”

“Fühlst du es auch?”, fragte Marusch.

“Ja. Bis hier!”, bestätigte Lilið. “Es hat was von dem Zupfen einer Kompassnadel. Aber anders als eine Kompassnadel, die mir eine Richtung zeigen würde, habe ich keine Ahnung, wo es sein könnte.”

Marusch gab ein zustimmendes Geräusch von sich. “Sie haben diese Stacheln mit recht viel Metall darin. Damit erzeugen sie tatsächlich wechselnde Magnetfelder.”, informierte sie.

Metall war ein Schlüsselwort. Lilið erinnerte sich daran, dass sie im Kontakt mit dem Igeldings mehrfach das Gefühl gehabt hatte, es wäre ihr bereits sehr vertraut gewesen. Vertraut, als hätte sie sich über einen längeren Zeitraum intensiv mit seiner Beschaffenheit auseinandergesetzt.

“Deshalb das Metall in den Buchseiten?”, fragte Lilið. “Weil sie Magnetfelder erzeugen können und damit Metal bewegen können oder so?”

“Ja so etwa!”, stimmte Marusch zu. “Ich weiß die Details nicht. Jedenfalls kommunizieren sie untereinander über magnetische Wellen. Sie haben sich schwer getan, das im Buch zu erklären, weil es für das Konzept, das grundlegend für ihre ganze Existenz ist, noch keine Worte in unserer Sprache gibt. Sie nutzen dafür Worte wie Strom und Fluss, weil die Konzepte von Fließen sich wohl einigermaßen übertragen lassen, aber es bewegt sich dabei kein Wasser, sondern etwas anderes. Sie nennen es mal Blitzen, weil Blitze wohl auch was mit ihrer Energie zu tun haben, und mal Bitzeln, weil Menschen diesen Wortlaut benutzen, wenn sie mit so etwas in Klein in Berührung kommen. Und sie schreiben dann von Bitzelverschiebung und Bitzelungleichgewicht. Den Teil habe ich noch nicht verstanden und würde ihn gern bei Gelegenheit mit dir durchgehen.”

“Mit mir?”, fragte Lilið grinsend. “Weil ich gerade da bin, weil ich dich nicht für verrückt erkläre, oder weil du glaubst, ich wäre hilfreich, wenn es darum geht, Physik zu begreifen, für die wir noch nicht einmal Worte haben?”

“Alles zusammen?” Marusch umarmte sie fester. “Und weil du meine Begeisterung teilst.”

“Das stimmt!” Lilið warf einen erneuten Blick auf den Kompass und anschließend auf den Horizont, dort, wo das erste Morgenlicht die Nacht verdrängte. “Bis zur Reiseinsel sollte es nicht mehr weit sein. Ich merke, dass ich wirklich müde werde. Vielleicht kann ich das Gespräch nicht mehr lange weiterführen. Aber ich bin doch so neugierig. Wie ernähren sie sich?”

“Sie nehmen eigentlich recht direkt Sonnenenergie und kosmische Schwingungen auf.”, antwortete Marusch. “Das macht die Sache mit dem Meer noch problematischer. Da unten kommt wenig Licht an.”

Im Bauch der Kagutte auch nicht, ergänzte Lilið in Gedanken. Sie erinnerte sich daran, dass ihr das Igeldings am Ende energieloser vorgekommen war. Passend zum Thema gähnte sie. “Wie reisen sie? Sie können ja schlecht durch die Luft rollen. Also, wie kommen sie wieder weg?”

“Sie haben eine Möglichkeit, sich über so etwas wie Organe, die sich in ihrem Körper sehr schnell oder weniger schnell drehen, schwerer oder leichter zu machen.”, erklärte Marusch, wirkte dabei aber unsicher. “Wenn sie sehr leicht sind, dann können sie von der Atmosphäre weggetragen werden und ihre Schwebrichtung tatsächlich durch ihre Härchen beeinflussen. Wenn sie sich dann im richtigen Moment schwerer und leichter machen, können sie irgendwie Fliehkräfte und Gravitationsfelder anderer Planeten oder der Sonne nutzen, um ihre Bahnen zu lenken. So ganz habe ich auch das nicht verstanden. Jedenfalls bewegen sie sich um Planeten und zwischen ihnen ähnlich wie Monde und Kometen entlang.”

Lilið stellte fest, dass es sie genauer interessierte, aber sie zu müde war, darüber nachzudenken. Sie würde davon träumen, oder morgen nachfragen. “Wie sind sie bloß auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben? Während Bücher visuell sind, und sie darein etwas Akustisches übertragen haben, und sie selbst beide Sinne nicht haben. Obwohl, akustisch ging irgendwie. Oder?”

“Sie wissen, dass Menschen haptisch Dinge erfassen können. Das können sie im Prinzip auch, aber sie können haptische und magnetische Reize nicht gut auseinanderhalten.”, erklärte Marusch. “Sie haben gehofft, dass das Buch für Menschen fühlbar ist, oder dass das, was sie in die Seiten einbringen, visuell erkennbar wäre. Aber sie haben eben kein Konzept von Visuellem.”

“Das ergibt Sinn.”, überlegte Lilið. “Dann ist wirklich stark, dass sie auf die Idee gekommen sind, ein Buch zu schreiben. Immerhin sind Bücher tatsächlich etwas, was Menschen häufig genauer untersuchen.”

“Ja, das ahnten sie.” Nun gähnte auch Marusch. “Ein paar von ihnen haben den Weg in eine Bibliothek gefunden. Sie konnten mit den Büchern nicht viel anfangen, weil die Tinte für sie nicht erkennbar war. Aber sie haben dort viele Menschen reden gehört. Und als sie wussten, wie Bücher eigentlich funktionieren sollen, haben sie sich in einer Buchbinderei ein Buch mitgenommen, das leer war und Notizbuch hieß.”

“Woher wussten sie, dass es leer war?”, fragte Lilið skeptisch. Sie atmete erleichtert auf, als sie an der helleren Linie, die der Horizont inzwischen rundum bildete, die Insel entdeckte. Nicht mehr lange wach bleiben müssen. “Weißt du, wie man dieses Schiff ankert?”

Marusch kicherte. “Ja weiß ich.”, sagte sie und wechselte sprunghaft das Thema wieder zu dem Weltallvolk zurück: “Sie wussten es tatsächlich nicht sicher. Sie haben es aus Gesprächen geschlossen. Aber sie hören menschliche Stimmen, indem sie die Luftschwingungen von Schall in ihren Härchen wahrnehmen. Die sind eigentlich nicht so sehr fürs Hören geeignet. Sie schwingen zum Beispiel auch viel mehr, wenn etwas lauter ist. Und Tonhöhen machen den größten Unterschied. Kommt dir das bekannt vor?”

Lilið nickte. “Das klingt nach nicht sehr kompatiblen Sinnen für eine Kommunikation.”

“Stimmt. Aber du fühlst die Schwingungen ja auch. Wir müssen sie also nur noch erzeugen können. Dann müsste das schon gehen.”, mutmaßte Marusch.

Lilið erinnerte sich daran, dass sie es einmal probiert hatte. Sie versuchte, sich zu entspannen und die Schwingung mit ihrem Körper zu erzeugen, aber es klappte überhaupt nicht. Sie wollte es erst auf die Müdigkeit schieben, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie die Schwingung nicht aus ihrem Körper heraus erzeugt hatte, sondern in dem Igeldings selbst. Sie hatte, erinnerte sie sich plötzlich, auch irgendwann einmal eine Kompassnadel verwirrt, indem sie sie berührt hatte. “Ich bräuchte einen guten Draht.”

Marusch kicherte. “So einer sollte zu beschaffen sein.” Sie atmete tief ein. Dabei drückte sich ihr Bauch gegen Liliðs Rücken. “Lässt du mich aufstehen? Damit ich den Anker klarmachen kann?”

Lilið war überrascht darüber, dass Marusch das jetzt schon wollte, aber ließ sie aufstehen. Ihr wurde ziemlich schnell klar, dass sie die Geschwindigkeit der Rennyacht doch unterschätzt hatte. Obwohl nur mäßiger Wind war, näherten sie sich der Insel rasch. Sie ankerten nicht allzu dicht vor Ufer, aber so, dass der Anker sie garantiert auf der mit der Insel verbundenen Platte halten würde. Marusch und sie holten noch die Segel ein, – auch darin hatte Marusch mehr Routine –, und zogen sich zu den anderen ins Unterdeck zurück. Eine der Heckkojen war noch frei. Es war eine gepolsterte Fläche auf erhöhtem Stauraum. Die Koje war kaum einen Meter hoch, sodass sie mit den Füßen zuerst hineinkriechen mussten. Immerhin gab es auch hier eine Tür, die ihnen tiefste Dunkelheit und etwas Privatsphäre gab. Aber so sehr Lilið vorhin noch gewollt hatte, sie hatte keine Energie mehr für viele Zärtlichkeiten. Sie war müde genug, dass sie an Marusch geschmiegt, fast direkt einschlief.


Als sie halbwegs ausgeschlafen wieder an Deck stiegen, waren alle anderen schon versammelt und frühstückten.

“Gut, dass ihr da seid!”, meinte Heelem. “Ich dachte, ich warte auf euch, bis ich frage, ob wir eigentlich bei dem Plan bleiben wollen, zurück nach Angelsoge zu fahren.”

Es folgte Schweigen. Marusch und Lilið setzten sich erst einmal dazu. Lilið trank zügig ein Glas Wasser. Ihr Hals fühlte sich sehr trocken an.

“Gute Frage.”, meinte Marusch. “Lajana, ich denke, es hängt vor allem an dir. Ich folge dir erst einmal überall hin, das weißt du.”

“Hm.”, machte Lajana bloß.

Lilið trank ein zweites Glas Wasser. “Haben wir einen beschränkten Wasservorrat?”, fiel ihr ein, zu fragen.

“Mit Marusch an Bord?”, fragte Heelem skeptisch.

“Das hatte ich verheimlicht.”, warf Marusch ein. “Ich kann Salz aus Wasser entziehen. Deshalb hatte auf den Inseln immer ich nach Wasser gesucht.”

Nicht zum Masturbieren also, dachte Lilið. “Warum hast du das verheimlicht?” Lilið betonte den Artikel und runzelte skeptisch die Stirn. “Wolltest du, dass ich nicht weiß, was du kannst?”

Marusch nickte. “Salz aus Wasser zu ziehen, ist schon ziemlich fortgeschrittene Magie.”, sagte sie. “Ich werde, wenn Leute herausfinden, wie gut meine Magiekenntnisse sind, oft nicht mehr wie ein Mensch behandelt. Als dürfe ich dann kein Interesse an Normalsterblichen haben oder so ein Unfug. Daher habe ich mir angewöhnt, Fähigkeiten zu verschweigen.”

Lilið nickte. “Ich hätte nicht versprechen können, dass ich keine Grundwut auf dich deswegen entwickelt hätte.”, überlegte sie. “Allzu skorsche Menschen haben so viel unverdienten Respekt in der Gesellschaft.”

Marusch nickte. “Den habe ich. Absolut.”, bestätigte sie. “Ich habe noch keinen guten Umgang damit gefunden.”

“Ich wollte eigentlich zurück nach Angelsoge.”, unterbrach Lajana ihren Exkurs.

“Dann segeln wir zurück nach Angelsoge.”, versicherte Heelem.

“Du wolltest eigentlich ein ‘aber’ anfügen, oder?”, fragte Marusch.

Lilið vermutete, dass sie ihre Schwester einfach gut genug kannte, um das richtig zu lesen.

Lajana nickte. “Ich habe mich nicht getraut, danach zu fragen. Weil es uns alle noch einmal in Gefahr bringen würde. Und eigentlich will ich das nicht riskieren.”, sagte sie. “Aber wenn ihr dazu bereit wäret, würde ich gern noch einmal zurück. Die haben mein Igeldings noch. Vielleicht ist es irgendwo in den Überresten der Sakrale. Vielleicht ist es noch auf der Kagutte.”

“Es ist nicht in der Zentral-Sakrale. Oder es ist in einem der aufgebrochenen Räume und da auch erst nach der Zerstörung hingebracht worden. Die Sakrale schirmt die Schwinungen ab, die das Igeldings aussendet.”, hielt Lilið fest. “Ich halte die Kagutte für wahrscheinlicher.”

“Nimmst du es bis hier hin wahr?”, fragte Drude.

“Ja! Du auch?” Lilið grinste.

Drude schüttelte den Kopf.

Heelem zuckte mit den Schultern. “Ich jedenfalls wäre dabei.”

“Auf jeden Fall!”, stimmte Lilið zu. Schneller, als sie sich das genau überlegen konnte. Es war egal. Es ging um eine außerirdische Person und es war der Auftrag der Königin. Was sollte sie aufhalten?

“Ich glaube, wir sind ein ziemlich mächtiges Team.”, sagte Drude. “Und die Wachen der Kagutte gibt es zu einem großen Teil nicht mehr. Wir sollten trotzdem nicht einfach drauf los, sondern einen guten Plan entwickeln. Wie immer.”

“Um einen Plan wäre ich auch dankbar.”, stimmte Marusch zu. “Ich fände es schön, wenn es nicht so endet wie unsere letzte Mission. Aber ich wäre auch sehr dafür, das Igeldings wieder bei uns zu haben.”

War nun ein guter Zeitpunkt, den Rest der Crew über den bevorstehenden Besuch von Außerirdischen in Kenntniss zu setzen? “Alligel.”, flüsterte Lilið grinsend.

Marusch zwinkerte ihr zu. Und dann taten sie es einfach.