Ausmaße

CN: Übelkeit, Lebensbedrohung, Messer, Mord, Schmerzen, Body Horror, Blut, Ekel?, Sanism, Entführung, Damsel in Distress

Lilið war auch nach Stunden noch speiübel davon, wehrlos in einem Becher herumgeschüttelt worden zu sein. Ihr Gleichgewichtssinn hatte ohnehin in dieser Form ein paar Probleme mit dem Oben und Unten gehabt, aber alles war noch viel schlimmer geworden, als sich auch dauernd änderte, wo oben und unten jeweils tatsächlich war, teils in Parabelflügen oder so etwas, teils abrupt, weil ihr würfelförmiger Körper gegen eine Becherwand gestoßen oder auf dem Tisch aufgekommen war. Wahrscheinlich nicht so viel später, auch wenn es ihr wie Ewigkeiten vorgekommen war, war sie zusammen mit den anderen Würfen in einen kleinen Spielkoffer verräumt worden. Ehe er zugeklappt worden war, hatte sie noch in das riesige Gesicht einer Königin auf einer Spielkarte gesehen. Dann war es dunkel geworden.

Liliðs Körper schmerzte im Inneren, sowie an jeder Kante, jeder Ecke und jeder Fläche. Vor allem brannten ihre einundzwanzig Augen, weil sie für die Faltung ihre realen zwei in die entsprechenden Positionen hatte auseinanderfalten müssen. Es hatte an ein Wunder gegrenzt, dass sie mit ihnen hatte sehen können. Farbverschoben zwar, weil sie vermutlich jeweils die Sehzäpfchen und -stäbchen, oder wie die Dinger hießen, nicht so zusammengewürfelt hatte, dass ihr Hirn aus den Daten ausreichend herleiten hätte können, was für Informationen zu ergänzen wären. Aber gut genug, um einen überraschend guten Überblick zu gewinnen. Zusammengewürfelt. Lilið musste lachen, aber die Lunge, die in ihrer beengten Form nun gegen ihre gefalteten und teils spitzen Rippen flatterte, ließ sie sofort damit aufhören. Luft anhalten, um Schmerz zu verdrängen.

Lilið hatte versucht, zu zählen, um Zeit abzuschätzen. Aber in so etwas war sie nie gut gewesen. Ihre Möglichkeiten waren sehr beschränkt. Sie wusste, dass sie sich nun auf der Kagutte befand. Und sie ahnte, dass die Kagutte abgelegt hatte. Sie ahnte es aus den Kommandos, die sie zwischendurch gehört hatte, und aus der leichten Schaukelbewegung. Dann war sie eingeschlafen. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr das bei den Schmerzen gelungen war. Sie hatte ebenso wenig Ahnung, wie sie es gerade schaffte, ihren verkrampften Nacken aus ihrem Knäuel herauszufühlen.

Als sie wieder aufgewacht war, war ein Streifen Licht in den Koffer gefallen. Nicht so viel, dass sie irgendetwas darin hätte ausmachen können. Aber Licht bedeutete, dass dort, wo sie war, wahrscheinlich Leute in der Nähe waren. Sonst würde ja niemand Licht anmachen.

Ihre Gedanken klebten. Irgendwann, dieses Mal wirklich nach einer langen Zeit, verschwand das Licht wieder. Lilið konnte sich nicht erinnern, ob es plötzlich passiert oder verblichen war. Es war auch egal. Sie spürte, dass sie nicht mehr in der Lage war, diese Form zu halten. Es war still um sie herum, sofern sie das durch das Rauschen ihrer nach innen gefalteten Ohren beurteilen konnte. Also hieß es wohl: Jetzt oder Nie.

Sie versuchte, langsam atmend, die Entfaltung kontrolliert hinzubekommen. Aber es war alles von ihr zu perfekt durcheinander gesteckt, es war alles andere als einfach. Sie schaffte es lediglich, einen Finger zu befreien und drückte damit von unten gegen den Deckel. Nichts passierte. Sie hatte mit dem Finger nicht die Kraft, den Deckel des Koffers zu öffnen. Vermutlich hatte er auch Schnallen.

Als sie versuchte, einen zweiten Finger herauszulösen, sprang ihr ganzer Arm aus der Faltung und gab dem Koffer einen Ruck, mit dem er woanders landete. Sie durchfuhr ein solcher Schmerz, dass sie ihm, ohne weiter darüber nachzudenken, nachgab, und sich ohne Rücksicht auf Lärm endlich zumindest obenrum ganz entfaltete. Sie sprengte den Koffer durch ihre neuen Ausmaße. Eine Schnalle flog durch den dunklen Raum und schepperte. Das musste doch jemand hören! Egal. Es war Lilið einfach nicht möglich, sich um irgendetwas anderes zu kümmern als um ihren flauen Magen, den entfalteten Brustkorb, in den sie nun endlich wieder Luft in üblichen Mengen ziehen konnte, und den pochenden, brennenden Schmerz in ihrer einen Schläfe und ihren Augenbällen. Sie schnaufte. Nur ihre Beine bildeten noch ein Knäuel. Sie hörte ihren Magen knurren. Das war eine äußerst miese Lage, in der sie hier steckte. Sie dachte an Marusch, aber eigentlich hatte sie dafür gerade keinen Raum in ihrem Kopf.

Der Raum lag immer noch dunkel und still vor ihr. Oder ihre Augen waren beschädigt. Ihr Magen knurrte abermals und das Geräusch verklang einsam in der Stille. Niemand sagte etwas. Vielleicht war sie wirklich allein. Also entfaltete sie mit einem Ruck auch noch ihre Beine und legte sich erschöpft auf den Rücken. Sie bemerkte, dass sie nicht nur Hunger sondern noch viel mehr Durst hatte. Und dass ihr Gesicht auslief, Tränen darüberflossen. Sie atmete und konzentrierte sich auf nichts anderes als das Heben und Senken ihres Brustkorbs und ihres Bauchs. Sie wollte eine Hand auf den Bauch legen, aber sie streifte auf dem Weg etwas, was sich bewegte. Und warm war.

Sie war hier doch nicht allein.

Lilið drehte sich vorsichtig auf die Seite. Vielleicht war es ein Schlafraum? Ihre Augen, durch die inzwischen schwache Blitze zuckten, – sie würden wohl lange brauchen, um sich zu erholen –, trafen ein anderes Augenpaar, aber kein menschliches. Es waren schwarze Augen, die in dem sehr schwachen Licht glänzten, das von irgendwoher in den Raum fiel. Sie betrachteten Lilið neugierig. Die Nase der Abe kam ihr näher und berührte die ihre, zuckte aber sofort wieder zurück. Eine Abe! Aben gehörten wie Auben zu den Postdrachen. Sie waren schwerer davon zu überzeugen, Bindungen mit Menschen einzugehen, als Auben, aber im Gegensatz zu Auben brachten sie Post nicht nur an ein immer gleiches Ziel. Aben waren sogar in der Lage, Menschen wiederzuerkennen und ihre Sprache zu verstehen, auch wenn sie es nicht immer taten oder zugaben. Weil sie sehr eigensinnig waren, wurden sie heutzutage kaum noch als Postdrachen benutzt. Irgendwie wollte Lilið eigentlich nicht so denken, das Wort ‘benutzen’ störte sie. Diese Abe war immerhin das erste Lebewesen, dem sie nach dieser Tortour begegnete und bisher freute sie sich über die Begegnung.

Aber was machte eine Abe in diesem dunklen Raum?

Die Abe leckte ihr zärtlich durchs Gesicht. Ohne zu fragen, natürlich. Lilið mochte es trotzdem. Nun hatte sie also Drachspucke statt Tränen im Gesicht, was soll’s. Als die Abe genug geleckt hatte, tappste sie auf Liliðs Körper, stieß sich dort weich ab und flatterte in die Luft. Lilið drehte sich wieder auf den Rücken, um ihr mit dem Blick zu folgen, und beobachtete, wie sie mit einem Flammenstoß einen Docht einer Deckenleuchte entzündete. Diese brauchte einige Augenblicke zum Warmwerden, dann tauchte sie den kleinen Abstellraum in warmes, schummriges Licht. Die Abe flog einen Kreis um die schaukelnde Lampe und dann einen Bogen in eine Ecke der Kammer. Lilið tat das schaukelnde Licht in den Augen weh, aber trotzdem richtete sie sich halb auf, – ächzte ausversehen dabei leise vor Schmerz –, um zu sehen, wo die Abe nun hinflog. Lilið verkrampfte sich irgendetwas in Herzgegend, als sie sah, wie der kleine, schwarze Drache auf dem ausgestreckten Unterarm einer Person landete, und von dort auf deren Schulter kletterte. Sie erkannte die Person am Mantel wieder, sie war Drude genannt worden. Und im Gegensatz zur verspielten Abe waren ihre Gesichtszüge steinern.

Sie blickten sich eine Weile gegenseitig einfach an, ohne sich zu regen. Drude hatte sie also die ganze Zeit über beobachtet, schloss Lilið. Sie schluckte. Dieses Mal funktionierte es wenigstens, auch wenn sich alles rau und falsch anfühlte und weh tat.

Drude schritt mit der Abe auf der Schulter zu ihr hinüber und ließ sich zügig elegant in die Hocke neben ihr nieder. Der Mantel, viel leichter als der eines Nautikas, fächerte sich dabei schön wie die Flossen eines Fisches beim Bremsen. Die Abe sprang wieder von Drudes Schulter herab und hopste, die Flügel dafür nur ausgestreckt, um weiterzukommen, nicht um zu fliegen, über Liliðs Körper auf ihre andere Seite.

“Drude?”, erkundigte sich Lilið.

Drude nickte. “Die bin ich wohl.”, sagte sie, die Stimme so steinern und ausdruckslos wie ihr Gesicht. “Mach dir keine Mühe, zu schreien.”

Und ohne, dass Lilið es auch nur vorhergeahnt hatte, war Drudes Körper plötzlich über ihrem. Sie nahm auf Liliðs Becken Platz und presste die Knie seitlich mit einer Kraft gegen Liliðs Flanken, mit der Lilið nicht gerechnet hätte. Drude schob mit der einen Hand den Ärmel des anderen Arms nach oben, der sich vor Liliðs Augen in etwas Flossiges und zugleich Scharfkantiges verformte und sich in einer gezielten Bewegung an ihren Hals legte.

“Mach dir auch nicht die Mühe, zu lügen.”, fügte Drude hinzu. “Ich werde dich nun ein wenig ausfragen und dann entscheiden, ob ich dir helfe oder dich töte. Ich bin gut darin, mitzubekommen, wenn jemand Geschichten erfindet oder zu routiniert eine Geschichte runterbetet. Wenn ich es bei dir merke, bist du tot. Verstanden?”

Lilið wollte nicken, kam aber sofort darauf, dass das mit einer scharfkantigen Unterarmflosse an der Kehle keine gute Idee wäre. “Ja.”, flüsterte sie also.

Drudes freie Hand landete neben ihrem Kopf. Das beruhigte Lilið auf der einen Seite, weil Drude dadurch in einer abgestützteren Körperhaltung war, in der sie mit der scharfen Flosse weniger leicht ausrutschen könnte, aber auf der anderen Seite kam dadurch Drudes Gesicht ihrem sehr nahe. Drude roch herb. Ein Geruch, den Lilið weder positiv noch negativ empfand, aber sie fand, er passte zu Drude. Was waren das für alberne Gedanken?

“Bist du Nautika?”, fragte Drude.

“Ja.”, flüsterte Lilið.

Die Flosse drückte sich etwas mehr gegen ihren Hals und Lilið jappste. Hielt Drude das für eine Lüge? “Du bist also nicht Lilið von Lord Lurch?”, schlussfolgerte Drude falsch.

“Doch!” Liliðs Stimme war nur noch ein fiepsiges Wimmern. Nicht, weil sie Angst hatte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie Angst hatte. Sie glaubte schon, aber eigentlich bestand sie aus Schmerz und dem erleichternden Wissen, zumindest den Würfel überlebt zu haben. Sondern weil sie den Eindruck hatte, die Stimme passte nicht mehr in ihren durch diese Klingenflosse zusammengedrückten Hals. Ob sie schon blutete?

Die Flosse ließ sich Zeit damit, aber löste sich dann doch wieder ein wenig von ihr. “Das will ich meinen. Ich fühle nichts mehr an Magie von deiner Seite im Raum.”, meinte Drude. “Und wenn der Hut dich als Lilið erkannt hat, dann musst du also Lilið von Lord Lurch sein.”

Das war keine Frage mehr, aber trotzdem bestätigte Lilið mit einem zustimmenden Geräusch.

“Der Hut hat sehr viel geredet. Sein Stil sozusagen. Er meinte, du wärest totensicher auf Frankeroge.”, fuhr Drude fort. “Wieso bist du da nicht?”

Lilið beeilte sich, eine Antwort zu finden. Das war keine so leichte Frage, weil dieses ‘Wieso’ sich auf verschiedene Weisen beantworten ließ. “Ich wollte da nie hin.”, gab sie zu verstehen. “Ich habe mit einer Person getauscht, die sich als mich ausgibt.”

Drude lachte tonlos. Ihr Flossenarm drückte dabei einige Male leicht gegen Liliðs Hals, aber nicht so sehr wie vorhin. “Der Hut.”, sagte sie. “Ihm ist sehr zuzutrauen, auf so etwas reinzufallen. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass deine Doppelgängerperson sich bewusst unskorsch anstellt, wenn er zum Prüfen vorbeikommt, und er auch darauf reinfällt. Jedenfalls erzählt er, dass sie nicht gerade mit Leistung bestäche. Er ist so ein Ekel.”

Lilið gab abermals ein zustimmendes Geräusch von sich. “Hast du mich deshalb nicht verraten?”, fragte sie.

“Siehst du?”, sagte Drude. “Du stellst nicht einmal in Frage, dass ich dich von Anfang an gespürt habe. Das ist dir einfach klar. Er würde es immer abstreiten. Zum Glück ist er nicht an Bord.”

Erleichterung durchströmte Lilið. “Puh, das ist gut.”, sagte sie. Aber eine Antwort war das eigentlich nicht gewesen.

“Das hilft dir wahrscheinlich wenig.”, informierte Drude.

“Warum?”, fragte Lilið. “Ich könnte mein Gesicht falten und das tun, was ich ursprünglich wollte: Euer Nautika werden.” Sie merkte, dass sie redete, ohne viel nachgedacht zu haben, und dass das angesichts ihrer Lage eigentlich keine gute Idee war. Weder war das, was sie gesagt hatte, schlüssig, noch war es Information, die sie hätte weitergeben wollen, wenn sie nicht unbedingt gemusst hätte.

“Du wolltest hier also Nautika werden.”, wiederholte Drude. “Was prinzipiell gut ist, denn wir haben keins mehr. Aber wie willst du bitte dein Erscheinen an Bord erklären?”

Lilið schluckte. “Keins mehr? Ihr hattet eins?”, fragte sie. Ja, sie hatten eins anheuern wollen, fiel ihr ein. Sie dachte an Marusch. Endlich dachte sie an Marusch.

Drude verzog das erste Mal den Blick zu einem Grinsen, kein glückliches. “Es hat fertig gebracht, uns so schlecht zu navigieren, dass wir es über Bord geworfen haben, als Nederoge am zweiten Abend wieder in Sicht kam. Nun versuchen wir es ohne. Du kannst dir denken, dass das nicht unbedingt so gut klappt.”

Endlich fühlte Lilið Angst. “Über Bord geworfen?”, fragte sie. War es Marusch gewesen? “Nah genug vor Ufer, dass es theoretisch an Land hätte gelangen können?”

Drude schüttelte den Kopf. “Im Prinzip vielleicht schon, aber ich habe bei meiner Erzählung an Ausführlichkeit gespart. Deinem Magen zuliebe.”, sagte sie. “Wir haben es vorher Kiel geholt, das hat es schon kaum überlebt. Es wird Fischfutter geworden sein.” Bei den Worten verformten Drudes Mund und Kiefer sich für einen kurzen Moment, es zeigten sich spitze Zähnchen, aber verwandelten sich sofort wieder zurück.

“Du hast eine Fischform, in die du wechseln kannst?”, erkundigte sich Lilið.

“Äußerst aufmerksam von dir.”, antwortete Drude in einem unverkennbar sarkastischen Tonfall.

“Entschuldige.” Ja, das war einigermaßen offensichtlich, dachte Lilið.

Sie kannte einige Menschen, die eine feste andere tierischere Form hatten, in die sie leicht wechseln konnten. Zum Beispiel Elmar von ihrem Hof, dessen andere Form Schwingen hatte. Häufig waren diese Formen gar nicht klar an einem bestimmten Tier orientiert. Lilið kannte kein Fischwesen, aber hatte davon gehört, dass diese in ihrer Fischform meistens sehr viel flossigere Arme und Beine hatten und einen stromlinienförmigeren Körper. Von Kopfveränderungen hatte sie bisher nichts gehört.

“Deine Gehirnwindungen waren über eine volle Nacht und einen weiteren Tag hinweg in eine Würfelform gefaltet.”, erinnerte Drude sie. “Ich glaube, ich sollte Verständnis dafür haben, wenn sich deine Gedanken erst einmal wieder an ihren Platz und die Richtung, in die sie fließen sollen, gewöhnen müssen.”

Lilið wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Sie fand, egal warum sie nicht so klar denken könnte, sollte Drude dafür Verständnis aufbringen, aber sie wollte keinen Streit mit einer Person anfangen, die mit einer scharfen Klingenflosse an ihrem Hals dicht über sie gebeugt war. Also ging sie auf eine Frage von zuvor ein. “Du hast recht, dass ich eine gute Begründung bräuchte, warum ich hier einfach aufgetaucht bin, wenn ich mich als Nautika ausgeben möchte. Ich müsste erklären können, wie mir das geglückt ist und was das soll.”, leitete sie ein. “Wenn du zum Schluss kommen solltest, dass du mich nicht töten willst, würdest du mir vielleicht helfen?”

“Indem ich meine Crew belüge?”, fragte Drude. “Niemals. Das maximale, was du aus mir rausbekommen kannst, wenn ich dich am Leben lasse,”, Drude betonte das ‘wenn’ ausschweifend, “ist, dass ich dich vielleicht nicht verrate, wenn du dich versteckt hältst, und ich dir Nahrung und Trinken zuschmuggeln würde. Sobald du aber gesehen würdest, wäre mir lieb, wenn wir den Deal schließen, ich habe dich nie gesehen und du mich nicht. Ist das klar?”

Lilið bestätigte. “Ich akzeptiere natürlich.”

“Wenn du dich nicht dran hältst, na ja, du weißt schon.” Drude drückte abermals ihre Flosse für einen Moment gegen Liliðs Hals.

Lilið war es schon so gewohnt, dass sie nicht einmal mehr jappste, aber sie fühlte trotzdem was es bedeutete. “Was ist dein Interesse an mir, wenn du mich nicht tötest?”, fragte sie mutig.

“Ich stelle hier die Fragen!”, stellte Drude klar. Ihr Gesicht und ihre Stimme waren nun wieder steinern.

“Dann stell sie!”, bat Lilið.

“Eilig hast du es also.”, sagte Drude. “Nun gut. Warum wolltest du bei uns Nautika werden?”

Sofort bereute Lilið, um Fragen gebeten zu haben. Sie schluckte und dachte nach, wie sie darauf antworten sollte.

Langsam drückte Drude die Kante weiter gegen ihren Hals, bis es brannte und Lilið sich dieses Mal sicher war, das dornige, kleine Vorsprünge der Flossenkante in ihre Haut stachen. “Ich werde dir dieses Mal keine Ideen vorlegen, die ich schon habe, die du nur zu bestätigen bräuchtest.”, sagte sie. “Und lass nicht zu viel Zeit vergehen!”

Lilið presste ein “Verstanden!” hervor und jappste doch wieder, als Drude ihrem Hals wieder Raum gab. “Ja, ich bin hier von feindlicher Seite, schätze ich.”, sagte sie. Sie hatte keine Wahl, vermutete sie. “Ich weiß, dass hier die Kronprinzessin an Bord ist und ich möchte nicht, dass sie Spielball der Mächte wird, wie das gerade passiert.”

“Du möchtest sie befreien.”, schloss Drude. Sie wirkte plötzlich nachdenklich.

“Ja.”, antwortete Lilið. Sie hätte damit gerechnet, nun wieder mehr von der Flosse zu spüren zu bekommen. Sie hatte sich überlegt, sich in dem Moment sehr flach zu falten. Oder, wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht klappen sollte, ihre freien Arme zu benutzen, um zu kämpfen. Aber stattdessen drückte der Flossenarm noch weniger zu.

“Mich sollte das eigentlich nicht überraschen. Aber das tut es.”, sagte Drude. “Das erste Nautika hat von der Kronprinzessin nichts gewusst. Es hat herausgefunden, dass wir illegal unterwegs sind, was nicht so schwer herauszufinden ist, und wollte uns deshalb verpfeifen. Ich hatte noch die Idee, ihm die Sache mit der Prinzessin zu erklären, und hätte dann damit gerechnet, dass er vielleicht verstehen würde, was unsere Absichten sind, und sich umentscheiden würde. Dann hätten wir noch ein Nautika gehabt, hätten ihm eine zweite Chance geben können. Aber du fängst gleich damit an, dass unser Vorhaben dir nicht passt. Es geht dir nicht um Illegalität. Das ist dir egal.”

Sie hatte verloren, dachte Lilið. Sie antwortete nicht. Die Erleichterung, die sie kurz gefühlt hatte, weil die Beschreibung des anderen Nautikas nicht auf Marusch passte, drang nicht einmal ansatzweise tiefer zu ihr durch. Zumal Marusch auch eine Rolle hätte spielen können, zu der das gehörte.

“Illegalität ist dir egal, oder?”, bohrte Drude nach und drückte noch einmal ihren Arm an Liliðs Kehle. Fast sanft.

“Ja.”, flüsterte Lilið matt. “Ich bin selbst derbst kriminell. Das ist mir herzlich egal.”

Drude nahm den Arm von ihrem Hals und richtete sich auf. Liliðs Oberkörper war frei. Sie runzelte irritiert die Stirn, aber wurde dann davon abgelenkt, dass die kleine Abe auf ihre Brust sprang und über ihren Hals leckte. Drude fädelte ihre Hand, die nun wieder eine menschliche war, unter den Körper der Abe. “Lilið, lass das.”, raunte sie. “Ich glaube, Abenspucke in Halswunden ist nicht sehr hygienisch.” Drude nahm den Drachen in den Arm, der sich das gern gefallen ließ, und blickte in Liliðs verwirrtes Gesicht. “Die Abe heißt auch Lilið.”, informierte sie. “Vielleicht sollte ich sie Lil abkürzen, solange du an Bord bist.”

“Du tötest mich nicht?”, fragte Lilið.

Drude schüttelte den Kopf. “Dir sollte klar sein, dass du dich nicht einfach als Nautika offenbaren kannst. Und selbst wenn du es schaffen solltest, dass du dann ein verlässliches, sehr gutes Nautika sein musst und nicht tricksen darfst, weil du, sobald der Verdacht aufkommt, dass du nicht dahin navigierst, wo wir hinwollen, kielgeholt wirst oder Schlimmeres. Du würdest sehr gründlich überwacht werden.”, erklärte Drude. “Ich möchte gern herausfinden, wie du auf die Idee kommst, dass, die Prinzessin zu retten, sinnvoll wäre. Und das als Person, die darauf pfeift, ob Handeln Gesetzen folgt oder nicht. Außerdem als Person, die nicht so wirkt, als würde sie von Monarchie viel halten. Also, das wäre untypisch, wenn du von Monarchie viel hältst, aber sehr gesetztesuntreu bist. Und ich fühle mich mit dir in Sachen Sexismus verbunden. Ich hasse, wie der Hut über dich geredet hat. Fazit: Ich sehe dich ausgeliefert genug, dass du keine Gefahr für mich darstellst, während ich meine Neugierde stillen kann, wieso ein Mensch wie du, hm, ist.”