Die Beschaffenheit der Dinge

CN: Beißen, Verletzung, Erotik, sexuelle Anspielungen.

Bisher verlief die Reise so gut, dass Lilið es beinahe gruselte. Es fühlte sich nicht richtig an, so lange am Stück guten, passenden Wind zu haben und jeweils schon zwei bis drei Stunden früher als geplant die Inseln zu erreichen. Lilið schaute sich abends stets noch einmal die Karte an und brachte sie auf den neuesten Stand. Auch dabei war ihr bisher keine Ungenauigkeit unterlaufen.

Irgendwann würde zum Ausgleich irgendetwas gewaltig schief gehen, fürchtete Lilið. Aber darüber lohnte es nicht, sich heute noch Gedanken zu machen. Sie hatte sich in aller Ausführlichkeit die Route für morgen angesehen, rollte die Karte ein und verpackte sie wieder gründlich. Und dann hatte sie nichts weiter zu tun.

Es war der vierte Tag ihrer Reise. Am vorherigen Tag hatten sie immerhin heimlich einen Abstecher in ein Hafenstädtchen gemacht, aber diese Reiseinsel war wieder unbewohnt. Sie hatten bereits gegessen. Und Marusch beschäftigte sich, wie jeden Abend, mit dem Buch.

Anfangs hatte Lilið ihr dabei noch – erlaubter Weise – länger über die Schulter gesehen. Sie tat es auch jetzt immer Mal wieder. Marusch hatte einige Notitzzettel neben sich auf der Decke ausgebreitet und mit Steinen beschwert, damit der Wind sie nicht davonwehte. Sie zeichnete Zeichen aus dem Buch ab, versuchte, sie zu kategorisieren und dann zu zählen, wieviele jeweils in eine Kategorie fielen. Sie meinte, wenn es eine Substitutionsschrift wäre, wäre es einfach. Eine Substitutionsschrift war eine Kodierung, bei der einfach jeder Buchstabe einer Originalschrift durch ein anderes Zeichen ersetzt wurde. Aber sie hielt es für unwahrscheinlich, dass es einfach das wäre. Sonst wäre das Buch schon längst bei seinem Fund vor etwa 45 Jahren dekodiert worden. Trotzdem probierte Marusch es zunächst auf diese Weise, um sich mit den Zeichen und ihrer Anordnung vertraut zu machen. Eine Schwierigkeit bestand auch darin, dass sie allebeide nicht einmal einordnen konnten, ob es von links nach rechts oder andersrum, oder von oben nach unten oder andersrum geschrieben worden war.

Lilið reizte das Buch durchaus auch, aber sie verstand nicht halb so viel von Kodierung wie Marusch. Marusch erklärte ihr, wann immer Lilið wollte, was sie gerade tat oder was sie wusste. Sie meinte, es lenkte nicht ab. Im Gegenteil, sie würde manchmal sogar auf weitere Ideen kommen, wenn sie etwas erklärte, und das war auch gar nicht so selten der Fall. Dann verstummte sie mitten in einer Erklärung von einem Gedanken oder redete anders weiter als geplant. Sie unterbrach in solchen Momenten irritierender Weise die Ausführungen zu theoretischen Hintergründen und legte stattdessen übergangslos ihre eigenen Überlegungen zum vorliegenden Material dar.

So gern Marusch auch alles im Zweifel drei Mal und öfter erklärte, hatte Lilið doch bald das Gefühl, den Faden längst völlig verloren zu haben und interessanterweise auch die Geduld. Das war eigentlich schon am zweiten Abend eingetreten.

Gegen die Langeweile hatte sie versucht, sich besonders gründlich auszuruhen. Aber spätestens heute war sie viel zu wach und zu hibbelig dafür. Was sollte sie tun? Sandburgen bauen? Die Revolution planen? (Aber dazu wäre sie noch weniger in der Lage gewesen, als Marusch bei ihrem Vorgehen zu folgen.)

“Darf ich einen Zettel von dir haben?”, fragte sie Marusch schließlich.

“Brauchst du ihn zum Navigieren?”, frage Marusch, ohne aufzusehen.

“Nein.”, sagte Lilið. “Dafür habe ich ein Kursbuch. Ich überlege, ob ich ein bisschen basteln mag.”

Marusch sah auf und ihr nachdenklich ins Gesicht. “Einen pro Tag.”, sagte sie. “Klingt das in Ordnung?”

“Es klingt, als ob du mich wie ein kleines Kind behandeln würdest.”, gab Lilið offen zu.

“Mist, das war nicht der Plan.” Marusch sah angenehm zerknittert darüber aus. “Ich brauche eben selbst vermutlich recht viel Papier. Und basteln ist oft sehr materiallastig. Korrigier mich gern, wenn ich da falsch liege.”

Lilið nickte. “Ich habe nach einem Zettel gefragt.”, erinnerte sie.

Marusch lächelte und nickte. “Da spricht nichts gegen.”

Lilið zupfte ein Blatt Papier aus dem beschwerten Stapel hervor. Marusch machte sich weitere sehr kleine, mit feiner Feder geschriebene Notizen auf einem Durcheinander an Zetteln daneben, die sie schon benutzt hatte.

Schon während Lilið das Papier berührte, war sie halb in ihrem Gedankenuniversum verschwunden, in dem nur Falten existierte. Sie fühlte die Beschaffenheit des Papiers, wieviel Grauwollenanteil darin war und wieviel Holzphaser. Sie nahm auch den Klebstoff darin wahr, der alles zusammenhielt. Sie fühlte die Orientierung der ultradünnen Spähne, und wo entlang sich das Papier gut falten ließe. Wenn sie ein Material wirklich verstand, dann Papier. Im Gegensatz zu anderen Materialien, die sie faltete, sprang es auch nicht in die originale Form zurück, wenn sie es nach dem Falten mental losließ.

Sie nahm den Bogen ganz in die Hand und strich mit geschlossenen Augen darüber, noch ohne etwas zu falten. Sie fühlte noch bewusster in das Papier hinein, mit ihren Gedanken Linien darin entlangfahrend, die sich in einer komplexen Faltung nicht so sehr wehren würden. Papier ließ sich nicht beliebig oft falten, zumindest nicht so richtig, aber die Grenze, wie oft es sich falten ließ, war an verschiedenen Stellen des Papiers verschieden.

Lilið überlegte sich eine Form, in die das Papier besonders gut springen könnte und öffnete die Augen wieder. “Möchtest du zusehen?”, fragte Lilið.

Marusch blickte auf. “Wieviel Zeit brauchst du?”, fragte sie.

“Ein paar Sekunden.”, sagte Lilið. Diese Person ließ sich wirklich nicht leicht ablenken.

Marusch lächelte. “Die habe ich immer.”, antwortete sie.

Lilið hatte ihre Faltkunst noch nie freiwillig anderen Leuten vorgeführt. Sie wusste, was sie konnte, weil sie es oft allein für sich gemacht hatte. Aber sie war ein bisschen aufgeregt, als sie nun entspannt einatmete und beim Ausatmen mit den Fingern einmal unter dem Papier entlangstrich, wobei es sich ihrem Willen nach in einen sehr detaillierten Awanendrachen verwandelte. Eine majestätische Drachenart, der sie sich nicht so gern näherte (zumindest, wenn sie nicht aus Papier waren), weil sie üble Verletzungen hinterlassen konnten, wenn sie sich gestört fühlten und zubissen.

Zu Liliðs Enttäuschung nickte Marusch bloß als hätte sie so etwas schon tausend Mal gesehen und senkte den Blick wieder auf das Buch. Es war durchaus eine Enttäuschung, die unangenehm stark an Liliðs Nerven zupfte. Sie versuchte, sich klar zu machen, dass Marusch ihr keine Aufmerksamkeit schuldete. Kein Lob, keine Anerkennung. Dafür, dass sie ein Stück Papier verschwendet hatte!

Für einen Augenblick hätte Lilið den Awanendrachen gern angezündet. Wenn sie denn Feuermagie beherrscht hätte. Papier anzünden war eigentlich keine so fortgeschrittene Feuermagie. Das hatte sie zu Schulzeiten mit Mühe und Not schon einmal hinbekommen. Aber sie hatte es nur für die Prüfung parat gehabt, in der sie es gebraucht hatte, und anschließend wieder vergessen.

Sie merkte, wie ihr Tränen kamen und ärgerte sich sehr darüber. Warum wollte sie eine Leistung anerkannt bekommen? Von Marusch. Sie war zu Schulzeiten nicht darauf ausgewesen. Aber irgendein Teil in ihr hatte sich immer vorgestellt, wie sie ihre Faltkunst irgendwann einmal außerhalb des Schulkontexts einer Person vorstellen könnte, die darauf stolz wäre. Sie hatte sich auch irgendwie gut gefühlt, als Frau Wolle bei der Neueinschätzung ihres Skorems erkannt hatte, dass sie falten konnte, und dann auf Basis einer viel einfacheren Faltung als dieses Drachens entschieden hatte, dass sie eine Skorem von irgendwas hohem hatte. Lilið hatte die genaue Zahl vergessen und das riss sie schließlich aus ihrem Frust heraus, ließ sie lautlos kichern.

Es war eine schlechte Situation gewesen. Sie hatte nicht genießen können, dass eine Person stolz auf sie war, weil es darum gegangen war, ihr Freiheiten zu nehmen. Die Situation jetzt mit Marusch hatte sie für geeigneter gehalten.

Sie legte den Awanendrachen neben dem ansonsten unbenutzten Papierstapel ab, beschwerte einen Flügel mit einem Stein und bemerkte erst jetzt, dass Marusch sie beobachtete. Seit wann?

“Du bist traurig.”, stellte sie fest. “Oder frustriert.”

“Oder beides.”, ergänzte Lilið. “Aber das ist mein Gefühl.”

“Heißt das, dass du nicht darüber reden willst?”, fragte Marusch.

“Du möchtest doch viel lieber an deinem Buch arbeiten!” Lilið konnte nicht vermeiden, dass Aggression in ihre Stimme geriet. “Tut mir leid. Ich habe gerade wenig Selbstkontrolle. Das hast du nicht verdient. Du darfst natürlich am Buch arbeiten.”

“Was mich mehr stört, als dein Ton, ist, dass du beschließt, was ich angeblich will.”, sagte Marusch, ganz im Gegensatz zu Lilið, völlig sachlich und gelassen. “Wenn es dir nicht gut geht und du reden möchtest, – was du nicht musst, aber wenn –, dann ist mir das wichtiger. Und ich möchte, dass du das mir überlässt, was mir wichtiger ist.”

Lilið schluckte, versuchte durch diese alberne Handlung vielleicht Tränen runterzuschlucken, die aber aus ihren Augen traten und nicht aus ihrem Mund. Diese Vorstellung brachte sie unpassenderweise zeitgleich zum Grinsen, nur für einen Moment.

Marusch sah sie ein paar Augenblicke weiter an, aber wandte dann respektvoll den Blick ab, als Lilið sich mit dem Ärmel die Augen trocken tupfte. Maruschs Blick fiel dabei wieder auf den Awanendrachen. Sie bewegte die Hand in seine Richtung und fragte: “Darf ich?”

Lilið nickte. “Aber fühl dich nicht gezwungen, ihn zu bewundern oder so etwas.”, sagte sie.

“Ging es darum?”, fragte Marusch. Sie schob vorsichtig den Stein vom Flügel und hob das filigrange Geschöpf an, um es genau zu betrachten. “Dass du gern mehr Aufmerksamkeit von mir gehabt hättest?”

“Schon.”, antwortete Lilið ehrlich. “Aber du schuldest mir nichts. Du hast nichts falsch gemacht. Dass ich gern Anerkennung gehabt hätte, begründet sich in einer beschissenen Schulzeit, in der nichts von meinen Fähigkeiten gewürdigt wurde, weil sie nicht ins Muster passten, aber ich eigentlich schon wusste, dass sie gut sind! Dafür kannst du nichts. Damit hast du nichts zu tun.”

Marusch lächelte. “Sie sind gut!”, betonte sie. Dann zuckte sie mit den Schultern. “Ich interessiere mich nicht so sehr für Leistung, glaube ich. Ich habe dazu einen sehr anderen Bezug. Aber um das zu erklären, müsste ich dir mehr Hintergrund zu mir erzählen, den ich noch nicht teilen mag.”

“Noch nicht?”, fragte Lilið überrascht.

“Noch nicht.”, bestätigte Marusch mit einem sanften Lächeln, das sehr nach Innen gerichtet wirkte. “Ich habe mich bei dir gut aufgehoben gefühlt, als ich mich vor dir mental nackt ausgezogen habe. Ich kann mir vorstellen, dass ich dir doch irgendwann alles sagen will.”

Ein warmes Gefühl durchfloss Lilið, dass sie für all den Frust, den sie eben noch gefühlt hatte, entschädigte. “Marusch.”, sagte sie leise. “Du musst mir nichts erzählen. Aber dass du dich bei mir gut aufgehoben gefühlt hast, berührt mich sehr.” Warum hatte sie wieder den unpassenden Drang, Marusch in die Halsbeuge zu küssen und zart zu beißen? In den letzten Nächten hatte sie herausgefunden, wie sie es tun musste, damit sich Marusch in ein Bündel flehend fliepsenden Genuss verwandelte.

“Du möchtest mich küssen.”, las Marusch richtig von ihrem Gesicht oder ihrer Körperhaltung ab.

“Aber du möchtest lieber das Buch bearbeiten.”, hielt Lilið fest, weil das in den vergangenen Tagen vor Einbruch der Dunkelheit immer Maruschs Antwort gewesen war. Aber heute fügte sie hinzu: “Es tut mir leid, ich habe wieder quasi beschlossen, was du willst.”

“Lilið, du bräuchtest mich vermutlich nur einmal falsch berühren oder anatmen und mein Wille würde brechen, ich würde mich dir hingeben.”, verkündete Marusch.

Richtig, an den richtigen Stellen den Atem über ihre Haut streichen lassen, war auch ein gutes Mittel gewesen. Liliðs Atem stolperte bei den Worten. Manchmal waren Worte sogar noch erotischer, als was sie beschrieben. “Möchtest du?”, hauchte sie.

Marusch schien einen Moment hin- und hergerissen, dann schüttelte sie den Kopf. “Wenn du das brauchst, damit es dir wieder besser geht, ja. Sonst, wie immer, wenn es zu dunkel zum Schreiben ist. Bitte.”, sagte sie, vielleicht fast ein bisschen flehend. “Aber ich würde gern was zum Thema Falten loswerden, wenn du magst.”

Lilið nickte zögerlich. Irgendetwas an dieser Ankündigung fühlte sich so an, als würde es nicht einfach ein Lob für ihren Awanendrachen sein.

“Der Awanendrache ist schön.” Maruschs Stimme klang dabei zu sachlich, zu unemotional, als berührte es Marusch gar nicht. “Er ist nicht sehr individuell. Du hast das Papier verstanden, und das daraus gefaltet, was es so an klassischen, wenn auch komplexen Formen gibt, die genau da hineinpasst, vermute ich?”

Lilið nickte. Sie hatte sich mal ein Grundlagenbastelbuch für Papier geliehen, aus dem sie alle Formen auswendig gelernt hatte. Es war Marusch also sozusagen nicht besonders genug. Sie hatte es doch gewusst, dass die Sache einen Haken hatte.

“Mich hätte vermutlich mehr berührt, wenn du etwas gefaltet hättest, was eine persönlichere Note hat, mehr du bist, sogar dann, wenn es schlecht gefaltet wäre.”, fuhr Marusch fort. “Aber das ist Geschmacksache. Das ist halt, wie ich Kunst wahrnehme. Sie muss für mich nicht irgendwelche Qualitätsmerkmale aufweisen, die von irgendwelchen alten Magiestudierten festgelegt worden sind, sondern ich mag das Persönliche darin.”

Lilið senkte den Blick. “Das klingt eigentlich nach viel schöneren Bewertungskriterien. Es klingt so, als könnten in einer Welt, in der Leute so bewerten wie du, auch Menschen schöne Reaktionen erhalten, die überhaupt nicht falten können. Oder andere Arten von Magie nicht beherrschen.”, schloss Lilið sofort. “Und zwar Reaktionen, die nicht automatisch weniger wert ist.” Sie überlegte einen Moment. “Aber die andere Bewertung brauchen wir vielleicht schon noch, um Menschen zu finden, die Arbeit sinnvoll verrichten zu können. Sie könnte nur unemotionaler sein.”

“Das ist ein komplexes Thema. Das würde mich gerade auch zu viel ablenken, aber wenn du möchtest, können wir darüber ein anderes Mal nachdenken.”, sagte Marusch. “Ich wollte gern noch auf etwas anderes hinaus: Was ich von dir schon an Fähigkeiten erlebt habe, was Falten angeht, ist nämlich viel beachtlicher als dieses Drachentier. Wenn du Anerkennung für Leistung haben möchtest, dann mag ich dir sagen, dass du mich gefaltet hast. Das war mächtige, angewandte Magie.”

Lilið konnte nicht anders, als zu lächeln, obwohl sie sich doch gerade vorgenommen hatte, diese Form von Bewertung eher sachlich zu verstehen, während sie die individuelle Bewertung, die Marusch erklärt hatte, als die wichtigere wahrnehmen wollte, als die, die sie mit Emotionen verknüpfen wollte.

“Du musstest dafür die Luft anhalten?”, fragte Marusch.

Lilið nickte. “Nicht ganz, aber fast.”, sagte sie. “Ich kann in gefalteten Formen nicht so gut atmen, weil ja die Lunge nicht mehr an Ort und Stelle ist.”

“Das ergibt keinen Sinn.”, sagte Marusch.

Weiter sagte sie nichts, aber der Ton ließ wenig Freiraum für Unsicherheit oder Widerspruch. “Aha.”, sagte Lilið im selben Tonfall.

“Wie klein ist das kleinste, in das du dich schon einmal gefaltet hast?”, fragte Marusch.

“Willst du mir jetzt Falten erklären?”, fragte Lilið. Die Kiebigkeit hatte sich wieder zurück in ihre Stimme verirrt.

Marusch senkte den Blick zurück zum Buch. “Ich habe keine tiefgreifende Ahnung von Falten aber ein brauchbares Verständnis der Dinge generell.”, sagte sie. “Es tut mir leid, ich möchte dich nicht belehren. Du hast miese Erfahrungen in dem Zusammenhang gemacht. Das war unsensibel, das so anzufangen.”

Lilið sah ihr eine Weile dabei zu, wie sie Zeichen begutachtete, mit Tabellen verglich, in einer Tabelle einen Strich ausradierte und einen in eine andere Spalte hinzufügte. Das Papier war schon rau vom Radieren. Ein Zettel flattertete besonders, weil der Wind eine Angriffsfläche gefunden hatte und nun daran zerrte, aber der Stein hielt ihn kompromisslos fest.

In Lilið stritt ihr Ärger darüber, ihr eigenes Fachgebiet erklärt zu bekommen, gegen die Hoffnung, Marusch könnte ihr brauchbares Wissen in die Hand geben. Letzteres gewann.

“Erklär.”, sagte sie. Ein Teil von ihr vermutete, dass Marusch nun sagen würde, dass Lilið darauf auch warten müsse, bis es dunkel wäre. Dann wäre sie richtig sauer gewesen.

Aber Marusch legte alles beiseite und richtete ihre volle Aufmerksamkeit Lilið zu. “Ich wünschte Heelem wäre hier.”, sagte sie. “Er kann besser vermitteln als ich. Ich versuche mich, und wenn ich mich irgendwie mies verhalte, hau mich.”

Lilið erinnerte sich an die Stelle im Brief, an der Marusch ‘räch dich gern an mir, wenn nicht’ geschrieben hatte, um einen Satz mit R anzufangen, und schmunzelte. “Du forderst mich des Öfteren zu Gewalt gegen dich auf.”, stellte sie fest. “Das fängt an, verlockend zu werden. Aber schauen wir mal. Vielleicht finden wir ja auch so zusammen.”

Marusch grinste. “Jedenfalls wenn du Blutgefäße und alles nicht mitfalten würdest, würdest du flach wie ein Tuch keine zwei Sekunden überleben.”, erklärte Marusch. “Wenn du dich faltest, funktioniert dein Atemsystem und Blutkreislauf nur anders als zuvor. Deshalb fällt es dir schwer, dabei zu atmen. Du müsstest aber den Atem der Faltung entsprechend anders leiten können.”

“Woher weißt du das?”, fragte Lilið, skeptisch und eine Spur wütend. Sie hatte seit kleinauf gefaltet. “Kannst du auch falten?”

“Ich habe viele Bücher gelesen.”, erklärte Marusch. Sie machte eine bedeutungsschwere Geste auf das Buch, das sie versuchte, zu dekodieren. “Es gibt ganze Kapitel, die erklären, dass, – verzeih mir, ich zitiere nur –, bei körpermodifizierender Magie die falsche Atemübersetzung ein typischer Anfangsfehler wäre.”

Lilið hätte fast wütend geschrien, biss aber die Zähne zusammen. Dann ließ sie es doch zu, dass ein wütender, aber vergleichbar leiser Laut über ihre Lippen kam. “Ich mache das schon Jahre! Jahrzehnte fast!” Sie war eigentlich noch keine zwei Jahrzehnte alt, und sie hatte wahrscheinlich nicht zu ihrer Geburt angefangen. “Nicht ganz fast.”

Marusch versuchte, ein Lächeln zu verbergen. “Du bist grandios gut!”, betonte sie leise, aber überzeugt. “Ich kenne keine Person, die nach zwei Treffen mit einer anderen jene schon auf Buchdicke falten kann. Außer dir.”

Lilið grinste und schlug die Augen nieder. “Natürlich tun Komplimente gut.”, seufzte sie. “Ich werde das nicht los.”

“Dir fehlen Grundlagen für eine Magieart, die nicht in der Schule unterrichtet wird.”, fuhr Marusch fort, ohne auf Lilið einzugehen. “Du hast ein beachtliches Verständnis der Dinge. Ich traue dir zu, zu lernen, wie du Stein auf Dauer falten kannst.”

“Du meinst, so, dass er nicht mehr in seine alte Form zurückspringt, wenn ich die Faltung nicht mehr halte?”, fragte Lilið.

“Ich bin mir absolut sicher!”, bestätigte Marusch. “Und zwar, wenn du das richtige Wissen hast, vermutlich recht zügig.”

Lilið runzelte die Stirn. “Hätte ich so etwas auf dem Internat für skorsche Damen gelernt?”, fragte sie skeptisch. Sie wollte ein ‘nein’ hören und wurde nicht enttäuscht.

“Ich denke nicht.” Marusch strich sich die Haare hinters Ohr. (Ins Ohr beißen hatte bei ihr keine beeindruckende Wirkung, aber Lilið hatte gelernt, dass sie es bei sich sehr mochte.) “Das Internat ist für Nachbildung da, um einen Hochschulabschluss erringen zu können. Damit können die Damen und die vermeintlichen Damen dann studieren, und vielleicht, irgendwann im zweiten Semester der passend gewählten Fachrichtung erst würden sie das lernen können, was du brauchst. Nicht, weil es so schwierig wäre, wobei, das ist personenabhängig. Ich glaube, für dich wäre es nicht schwierig. Sondern weil es eine andere Herangehensweise an die Sache zeigt, die wunderschön ist, aber eben nicht der Denkstruktur der meisten Menschen entspricht und daher nicht schon früh unterrichtet wird.”

“Hast du Magie studiert?”, fragte Lilið irritiert.

“Aus Büchern. Ich kenne die Theorie.”, antwortete Marusch. “Ich liebe das Verständnis sehr. Der Moment, in dem sich mir alles erschließt und ich die Welt immer ein Stückchen besser verstehe.”

Lilið dachte an das schöne Gefühl, wenn sie ein Papier in seiner Zusammensetzung voll durchdrungen hatte. Oder ihren Körper. “Du bist zu beschäftigt mit deinem Buch, um mir etwas beizubringen, oder?”, fragte sie.

“Ich glaube, selbst ohne mich am Buch zu verbeißen habe ich heute höchstens den Nerv, mit dir über einen bestimmten Teil der Grundlagen zu reden, der mir gerade sehr präsent ist.”, antwortete Marusch. “Aber ich kann dir gern beim Segeln alles erklären, was ich weiß.”