Sindra ist die Kapitänin der Flotte der Maare. Sie ist sehr groß.

Content Notes:

Morddrohungen, Messer, Alkohol(verbot), indirektes Misgendern in der Vergangenheit.


Anreden

Sindra

Als Sindra die Tür zur Kajüte öffnete, brauchte ihr Gehirn mal wieder erstaunlich wenig Zeit, sich darauf einzustellen, dass sie sie unerwarteterweise nicht verlassen vorfand. Obwohl die Person, die am kleinen Tisch saß, es wie selbstverständlich tat, als gehörte sie eben dort hin. Sindra schloss, dass vermutlich spätestens seit dem Galnuss-Vorfall doch mindestens eine Person, diese, unbemerkt an Bord war, und jener Vorfall vermutlich nichts mit dem Rest der Crew zu tun hatte. Auf dem Tisch dampfte außerdem Tee und zwei der Porzellantassen standen bereit, die wohl bedeuteten, dass eine zweite Person – vielleicht Sindra – eingeladen war. Jene Porzellantassen, die sie nie benutzte und sich gelegentlich fragte, warum sie sie überhaupt hatte. Immerhin waren sie abgestaubt. Das Messer in der Hand der Person wirkte erstaunlich wenig ausladend, aber ausladend genug, dass Sindra sich überlegte und erste Anstalten machte, den Raum lieber wieder zu verlassen.

“Wenn du dich weiter zurückziehst, töte ich dich.”, informierte die Person sachlich.

Salvenit. Die Sprache hatte Sindra eine Weile nicht mehr gesprochen. Sindra hielt in der Bewegung inne. “Ich kommandiere die Flotte der Maare. Da das nicht so sehr ein Geheimnis ist und du schon einige Tage fast unbemerkt an Bord bist, gehe ich davon aus, dass du das weißt.”, sagte sie. “Ich bin aber auch ersetzbar. Vielleicht bin ich der Crew tot von mehr Nutzen als als Geisel. Oder vielleicht auch nur verletzt, abhängig davon, wie gut du auf die Distanz töten kannst.”

Eine unscheinbare Bewegung später steckte das Messer direkt neben Sindra in der Tür und die Hand der Assassinperson hielt bereits ein weiteres. Es war so schnell gegangen, dass Sindra sich nicht ganz sicher war, woher jenes aufgetaucht war. Aber es hatte einen Griff, der so aussah wie die Haken an der Knopfleiste der auf den Körper passgenau zugeschnittenen Kleidung. Die Knopf- oder viel mehr Ösenleiste wirkte auch, als gehöre da eine Öse mehr hin.

“Ist es mir erlaubt, in der Tür stehen zu bleiben?”, fragte Sindra.

“Sobald Crewmitglieder hinter dir auftauchen, werde ich mich selbst schützen. Das werden sie wahrscheinlich nicht überleben.”, verkündete die Assassinperson.

Sindra nickte langsam. Dann war es sicher besser, die Tür hinter sich zu schließen. Der Gedanke, möglicherweise als Geisel benutzt zu werden, ließ sie nicht ganz los.

Sie richtete ihren Blick auf das Messer in der Tür, als sie sie schloss. Es hatte keine solche Öse und war etwas größer. Und es hatte das Material der Tür beschädigt. Natürlich hatte es das, sonst würde es kaum dort stecken.

“Ich möchte dir eigentlich nichts Böses.”, sagte die Person. “Ich möchte mit dir reden. Am liebsten möchte ich der Crew beitreten, aber das kann ich wohl vergessen, weil ich die Morddrohungen als meine Lebensversicherung brauche.”

Sindra konnte nicht vermeiden, eine Spur zu schmunzeln. Von einer Assassinperson als Lebensgefahr wahrgenommen zu werden, war neu. “Würde es sich für dich als eine Bedrohung anfühlen, wenn ich das Messer aus der Tür entfernte und dir zurückbrächte?”, fragte sie.

Das Gesicht der Assasinperson machte einen skeptischen Eindruck. Es war hellbraun, wenig Rotanteil darin, mit sehr dunklen Augen, mit Schminke schwarz umrandet. Ein dunkelblaues Kopftuch verdeckte die Haare und band sie gleichzeitig fest zusammen.

“Mich stört die Unordnung.”, erklärte Sindra. “Sicherheit geht aber natürlich vor Ordnungsfaible. Wenn du dich damit nicht wohl fühlst…”

Die fremde Person unterbrach sie mit einer Geste. “Fass es nicht an der Schneide an.”, empfahl sie. “Ich bin nur verwundert, wie du mit einer Person umgehst, die dir das Leben nehmen könnte, und angedroht hat, das zu tun. Ich wurde informiert, dass du kaltblütig wärest, aber ich hatte mir eine andere Art von Kaltblütigkeit vorgestellt.”

“Eine unfreundlichere, nehme ich an?” Sindra seufzte, aber vor allem innerlich. “Das liegt daran, dass Leute Kaltblütigkeit mit reduzierter Expressionen durch Lautstärke, Tränen, schnelleres oder deutlicheres Sprechen verwechseln. Ich habe starke Emotionen, wie die meisten anderen auch.” Sindra wandte sich dem Messer zu und zupfte es aus dem Material. Um die Narbe würde sie sich später kümmern. Sie näherte sich dem Tisch und nahm der Assassinperson gegenüber auf dem bereitgestellten, anderen Stuhl Platz. Jene hielt ihr die freie Hand hin, damit Sindra ihr das Messer wiedergeben könnte. Aber Sindra hatte keine Eile, das zu tun. Sie betrachtete neugierig die Klinge und den Griff. “Ein schönes Messer.”, sagte sie. “Ich kann nicht leugnen, dass ich auch ein Faible für Messer habe, wenn sie nicht gerade in meiner Tür stecken. Ist die Klinge giftig?”

Die Assassinperson schüttelte den Kopf. “Nur viel schärfer, als die meisten es einschätzen würden.”

“Dann wird sie nicht so regelmäßig in Türen geschmissen, nehme ich an? Oder regelmäßig wieder geschliffen.” Sindra fuhr doch vorsichtig mit dem Daumen über die Schneide. Die Klinge fühlte sich schön an. Die fremde Person ihr gegenüber wirkte leicht nervös, also reichte Sindra ihr die Waffe zurück. Dieses Mal beobachtete sie genau, wie die Klinge mit der Öse wieder in der Schließleiste der Kleidung verschwand und die zurückgereichte Klinge wieder in der rechten Hand der Assassinperson landete.

Sindra wischte ihre Tasse mit ihrem Ärmel aus und hob die Teekanne an. “Darf ich?”, fragte sie.

Die fremde Person ihr gegenüber nickte. Sindra goss den Tee langsam in die beiden Tassen. Hielt dabei den Deckel sachte mit der anderen Hand fest. Nicht zuletzt, um das Manöver mit adäquater Eleganz zu untermalen. Sie mochte, wie dabei der Dampf aufstieg und der Geruch sich im Zimmer verbreitete. Aber entspannt saß sie nicht, wenn ihre Füße auf dem Boden waren. Also sortierte sie die Beine mit auf die Sitzfläche. Ein Knie zur Seite gekippt, das andere so, dass sie ihre Arme zum Greifen der Tasse darum herumführte. Sie hielt sich die Tasse unter ihre Nase und atmete langsam und mit geschlossenen Augen ein.

“Du lässt eine Person aus den Augen, die dich mit Messern bedroht?”, fragte die Asssassinperson.

“Ich habe ohnehin keine Chance.”, sagte Sindra trocken. “Oder doch?”

“Unwahrscheinlich.”, stimmte die Person zu. “Ich habe einfach noch nie eine Person bedroht, die sich völlig ohne Manieren gemütlich mir gegenüber hingesetzt hätte. Das ist kein Vorwurf. Nur eine Feststellung. Vielleicht sollten wir einfach mal zur Sache kommen.”

“Keine verkehrte Idee.” Sindra überlegte einen Moment, was sie wie priorisieren wollte, und genoss dabei die Tee-feuchte Luft auf ihrem Gesicht. “Ich würde gern kurz abklären, wie gefährlich die Lage akut ist, dich anschließend ein bisschen kennenlernen wollen, damit wir uns ein wenig einschätzen können, und schließlich die Gesamtlage mit dir und Smjer, dem Fize-Kapitän, besprechen. Klingt das aus deiner Sicht gut?”

“Habe ich da mitzureden?”, sagte die Person, nickte aber dabei schon zögernd, bis sie innehielt. “Oder hättest du nicht viel eher zu tun, wozu ich dich zwinge?”

“Zwingst du mich zu etwas anderem?”, erkundigte Sindra sich. “Abgesehen davon, allein mit dir hier zu bleiben, meine ich.”

“Nein.” Es war eine kurze Ansage, nach der die Person allerdings den Mund noch einen Moment halb geöffnet beließ, als wäre es damit doch nicht getan.

Sindra wartete den Moment ab, bevor sie sagte: “In dem Fall: Hältst du das Vorgehen für sinnvoll? Du weißt vermutlich Dinge, die ich nicht weiß. Daher halte ich für gut, wenn du mitredest.”

Die Person sah sie einige Momente nur mit leicht gekräuselten Augenbrauen an. “Ich weiß auch nicht viel. Aber ich schätze die Lage momentan für dich und die Crew nicht für gefährlich ein.” Ihr Blick zuckte für einen Augenblick auf das Messer in ihrer Hand, dass sie, vielleicht bloß scheinbar, Lügen strafte.

“Wieso hast du dir diesen Zeitpunkt für ein Gespräch ausgesucht?”, fragte Sindra. “Gab es einen Anlass?”

Die Person schüttelte den Kopf. “Keinen akuten. Ich habe mir einen Überblick über die Crew und die Vorgänge an Bord verschafft, um mir ein Bild meiner besten Chancen zu machen. Zusätzliche Zeit hätte für mich nicht mehr herausgeholt.”

Das fügte sich ins vage Bild, das sich in Sindra zu bilden angefangen hatte, seit sie die Kajüte betreten hatte. “Bist du die einzige Person an Bord, von der ich nichts wusste?”, fragte sie.

“Ja.”, antwortete ihr Gegenüber. “Sofern es nicht eine Person ist, die sich so gut verstecken kann, dass sie sich vor mir verbergen kann. Allerdings bin ich auch zum Aufspüren ausgebildet und es war in meinem Interesse, dass die Crew vor anderen Gefahren außer mir möglichst sicher ist. Über die nächsten Tage und Wochen kann ich nichts aussagen, aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass gerade akut eine Bedrohung außer mir im Raum steht.”

Sitzt, korrigierte Sindra instinktiv, aber verharrte nicht bei dieser albernen Genauigkeit. “Ich verstehe. Für mich wäre damit der erste Teil abgeschlossen.”, sagte sie. “Für ein Kennenlernen würde ich dir gern ein paar Fragen zu dir stellen: Wie heißt du? Wie möchtest du, dass ich dich anrede, und mit welchen Begriffen und Pronomen möchtest du, dass ich über dich rede?”

“Amira. Ich bin Amira.”, sagte Amira. “Ich”, Amira zögerte, “darf mir aussuchen, mit welchem Pronomen du über mich redest?”

“Auf jeden Fall!”, versicherte Sindra.

Amira hob die Tasse mit der anderen Hand, ohne die Drohgebärde mit dem Messer mit der einen zu vernachlässigen. Es war wahrscheinlich ein Manöver, um zu kaschieren, dass Amira sich Zeit zum Nachdenken nahm. “Ich habe mir ja viele Gedanken gemacht, wie dieses Gespräch verlaufen könnte. Diese Version war definitiv nicht unter den Möglichkeiten, auf die ich vorbereitet bin.”

“Lass dir Zeit, wenn du sie dir selbst zugestehen kannst.”, forderte Sindra Amira auf.

Amira nutzte Zeit zunächst noch, um ein weiteres Mal Verwirrung zum Ausdruck zu bringen. “Du redest mit einer Person, die dir gedroht hat, dich zu ermorden, und gibst ihr eine Wahl, mit welchen Pronomen du über sie mit anderen reden würdest, gesetzt den Fall, du überlebst?”

“Ich halte das für interessantere und wesentlichere Manieren als Sitzhaltung.”, kommentierte Sindra. “Ich gehe derzeit davon aus, dass ich wahrscheinlich überlebe.”

“Wahrscheinlich.”, stimmte Amira zu.

Sindra lächelte. “Es stellt dennoch eine Erleichterung dar, die Vermutung bestätigt zu bekommen.”, sagte sie. “Soll ich nach den Pronomen einfach später noch einmal fragen?”

“Ich dachte eben bis jetzt, ich müsse akzeptieren, dass Leute einfach eines nehmen.”, sagte Amira.

“Willkommen in der Freiheit.”, sagte Sindra sanft. “Natürlich nicht völlige Freiheit. Eine Entscheidung, der Crew beizutreten, ist eine Entscheidung für immer. Aus Sicherheitsgründen. Versteht sich. Und es gilt in meiner Flotte striktes Alkoholverbot. Aus persönlichen Gründen. Ansonsten versuchen wir hier Zwänge und Richtlinien, die das Leben unnötig einschränken, und unter denen Personen sich nicht entfalten können, so gut es geht abzubauen. Das ist am Anfang häufig ungewohnt. Und es braucht lange.”

“Und sich mit Bezeichnungen wie ‘Frau’ und Pronomen abzufinden, ist ein solcher Zwang?”, fragte Amira.

“Genau.”, bestätigte Sindra mit einem zusätzlichen Nicken und ernstem Lächeln. Sie nippte einen Schluck Tee aus der Tasse. Er hatte etwas zu lange gezogen für ihren Geschmack.

“Alkohol gegen Pronomen.”, murmelte Amira.

“Was würdest du wählen?”, fragte Sindra.

Es war in diesem Moment, dass Amiras Körper zum ersten Mal nicht mehr vollkommen angespannt war. Es war keine angespannte Anspannung gewesen, keine nervöse, die etwas Böses erwartete, sondern lediglich Körperspannung und Bereitschaft, jederzeit jenes Messer zu werfen. Nun atmete Amira aus und es war dem Körper anzusehen. “Ich würde gern Crewmitglied werden.”, sagte sie. “Als Person, die gerade das Leben der Kapitänin bedroht hat, rechne ich mir eigentlich nur kleine Chancen aus. Ist Kapitänin richtig?”

“Ja, Kapitänin ist richtig. Und ja, Morddrohungen kommen nicht so gut im Lebenslauf bei einer Bewerbung, das ist auch richtig.”, stimmte Sindra zu. “Würdest du das Messer wegstecken?”

“Was würde es jetzt noch nützen?”, fragte Amira. “Ich habe dein Leben bereits bedroht, das lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Wer sagt mir, dass du mich nicht in dem Moment angreifst, in dem keine ausreichend starke Gefahr mehr von mir ausgeht?”

“Bisher habe ich die Drohung als eine Handlung aufgefasst, die dich absichert, während du mit mir ins Gespräch trittst. Das verstehe ich.”, sagte Sindra. “Ich weiß, dass deine Absichten nie – oder wenigstens schon länger nicht – waren, mich umzubringen. Dazu hast du in den vergangenen Tagen genügend Gelegenheiten verstreichen lassen.”, fuhr sie fort. “Ich verstehe auch, wenn du diese Sicherheit immer noch brauchst. Für dich als Privatperson, die vielleicht irgendwann wieder von hier verschwinden möchte. Weil unser Interesse sicher nicht ist, dass du uns verlässt und auf diese Weise wesentliche Informationen Preis geben kannst.” Sindra machte eine kurze Betonungspause. “Aber wenn du Crewmitglied werden möchtest, dann ist Vertrauen auf einer gewissen Ebene eine Grundvoraussetzung. Für den Antrag auf Mitgliedschaft verlange ich, dass du auf entsprechende Drohungen verzichtest.”

Sindra ließ Amira Zeit. Es war eine schwere Entscheidung, natürlich. Sindra fragte sich sogar, ob die Forderung unfair wäre. Ein seltsamer Konflikt, denn Amira konnte sie aktuell sehr wohl töten, und umgekehrt war das nicht der Fall. Aber sie verstand Amiras Angst, und dass es sich wie ein Ungleichgewicht anfühlen würde. Vielleicht auch eines war.

Amira atmete noch einmal tief aus, dieses Mal weniger entspannt. Amira legte das Messer behutsam zwischen sie auf den Tisch, nicht in die Mitte, sondern weiter auf Sindras Seite. “Ich liefere mich damit der ganzen Crew aus. Ich sehe, wie in der Bedrohungssituation hier mein Leben gegen deines steht. Aber ein Spielball einer größeren Gruppe zu werden, fühlt sich ganz anders an.”

“Als Crewmitglied wärest du ebenso in der Position, Spielball werden zu können, wie jedes andere Mitglied auch. Die Crew hat nicht mehr Macht gegen dich, als gegen jedes andere Mitglied.”, argumentierte Sindra. “Aber ich verstehe das Gefühl. Es geht hier darum, dass wir in der Gruppe zusammengewachsen sind und uns gegenseitig Rückhalt geben. Das hast du noch vor dir. Aber Drohung ist kein guter Start dafür, meinst du nicht?”

Amira zupfte wieder das Messer von vorhin aus der Kleidung, um es auch auf dem Tisch abzulegen.

“Das kannst du stecken lassen.”, sagte Sindra.

Amira hielt in der Bewegung inne und blickte Sindra skeptisch an. “Ich könnte dich immer noch umbringen.”, hielt sie fest. “In einem Wimpernschlag.”

Sindra nickte. “Wenn ich dich nicht gefangen nehme – und das habe ich nicht vor –, wirst du dazu in nächster Zeit sehr viel Gelegenheit haben.”, sagte sie. “Es geht mir nicht darum, dass du wehrlos bist. Sondern um die kommunizierte Drohung dabei.”

Amira schob das Messer wieder in die Kleidung zurück. Das Messer, das zwischen ihnen lag, ließ Amira liegen, sah es einige Momente unschlüssig an, bis Amira wohl beschloss, dass es ruhig genau da liegen könnte. Stattdessen kramte Amira tiefer in der Kleidung nach einem Umschlag aus Spaltleder oder ähnlichem Material. “Ich hatte von meinem durch Morddrohungen negativ eingefärbten Lebenslauf geplant mit einer Information abzulenken, die ich gegen eine Crewmitgliedschaft einzutauschen gedachte.”, sagte Amira. “Es erscheint mir nun taktisch sinnvoller, eher mit Ehrlichkeit zu punkten und sie unabhängig von Bedingungen zu überreichen. Ich kann leider nicht anders als taktisch denken.”

Sindra nahm den Umschlag entgegen. “Ehrlichkeit, und vielleicht viel mehr Direktheit und Unverblümtheit wird hier sehr wertgeschätzt. Wie taktisch Leute jeweils ehrlich sind, ist eine philosophische Frage, über die – würde ich meinen – die meisten nicht ausreichend reflektiert haben, um sich ihr Lieblingsurteil zu erlauben, dass Ehrlichkeit aus taktischen Gründen etwas Verwerflicheres wäre als aus anderen.”

“Ich kann mir nicht leisten, mich aus anderen als taktischen Gründen für Ehrlichkeit zu entscheiden.”, sagte Amira. Es klang scharf, vielleicht verletzt.

Sindra blickte sie ein paar Momente überlegend an, während ihre Finger über den Umschlag strichen. Spaltleder. Weiches Spaltleder. “Es ist ein Privileg, möchtest du damit sagen?”

Amira nickte.

Sindra wiederholte die zustimmende Geste. “Vielleicht hast du recht.”, fügte sie hinzu. “Ich wünschte, ich könnte dir Sicherheit geben.”

“Ich habe mich noch nie so sicher gefühlt wie jetzt.”, sagte Amira, plötzlich viel weicher und leiser.

“Oh, das ist interessant.”, hielt Sindra fest. Ihr Blick war auf den Umschlag gewandert, über den ihre Finger streiften. “Und schade.”, fügte sie hinzu. “Und nicht ungewöhnlich für Personen, deren Ansinnen ist, bei den Maaren anzuheuern.”

“Das heißt nicht, dass ich mich sicher fühle.”, stellte Amira klar, nun wieder in bestimmterem Tonfall.

“Ich weiß.”, antwortete Sindra schlicht.

Sindra wickelte die dünne Lederschnur vom Knopf, der den Umschlag zusammenhielt und öffnete ihn. Ihr Körper zeigte nicht häufig starke Gefühlsreaktionen, aber nun hatte sie eine: Einen kurzen Schweißausbruch. Im Umschlag lag ein leichtes, dünnes Papier, auf das mit einem einfachen Kohlestift ein Brief geschrieben war. Kazdulan. Die Sprache, die die Flotte für Schriftverkehr benutzte, um, falls Briefe abgefangen würden, am ehesten für mit einem der Zwergenvölker alliiert gehalten zu werden. Es war von keinem der Landvölker zu erwarten, dass sie sie je unterstützen würden, aber wenn von einem, dann am ehesten vom süd-ost-maerdhischen Zarenreich der Zwerge, unter Zarin Katjenka.

Sie nutzten solches Papier eigentlich nicht, was nicht hieß, dass sie kein solches irgendwo an Bord haben könnten, und auch eher andere Schreibutensilien, aber es war Rashs Handschrift. Und Rash würde niemals Briefe von Bord schmuggeln. Oder doch? Doch nicht Rash! Der Text war viel weniger ausführlich und ausgefeilt geschrieben, als Rash das für gewöhnlich tat, die Sätze waren eher möglichst kurz und wortarm gehalten und die Groß- und Kleinschreibung war durcheinander. Letzteres sah aber eher wie Absicht aus.

Der Text beinhaltete zunächst eine Beschreibung ihrer Person, ihrer Stärken und Schwächen, ihrer Geschmäcker und ähnliches. Eine Liste der Sprachen, die sie sprach. Salvenit, die Sprache, in der Amira und sie immer noch kommunizierten, war nicht mit aufgelistet. Hatte Amira es auf gut Glück probiert? Gab es mehr Briefe?

“Steht auf Frauen.”, las Sindra vor. “Da hat die Person, die das schrieb, aber nicht gut aufgepasst. Beziehungsweise, nun ja, ich stehe auch auf Frauen, so ist das nicht. Aber eben nicht mehr, als auf Personen mit beliebigen anderen Geschlechtern.”

“Mirash.”, lenkte Amira das Thema für einen kurzen Moment wieder auf Sindras Gedanken von vorhin, die sie nicht ausgesprochen hatte.

Dieses Mal fühlte sie körperlich nichts. Sie vermutete, dass ihr auch der Schweißausbruch zuvor nicht anzusehen gewesen war. Wie fast immer. Mirash war Rashs ganzer Namen, aber Rash wurde eigentlich immer abgekürzt.

“Und ja. Das war meine Eintrittskarte.”, sagte Amira. “Sie suchten wegen der Zeilen eine Frau für den Auftragsmord.”

“Das ist Information, die bei mir einige Fragen aufwirft.” Sindra schmunzelte und blickte wieder auf in Amiras Gesicht.

“Du darfst sie alle stellen.”, lud Amira ein.

“Bist du eine Frau?”, fragte Sindra, aber fügte dann doch hinzu: “Es ist eine sehr persönliche Frage, deren Antwort mich nichts angeht. Aber vielleicht möchtest du sie gern für dich haben.”

“Ich habe mich noch nie wohl gefühlt, wenn ich als ‘Frau’ bezeichnet wurde, oder mich selbst so bezeichnen musste.”, gab Amira zu. “Aber das Pronomen ‘er’ fühlt sich sehr falsch an in meinem Kopf.”

Sindra hielt ihr Lächeln nicht zurück. “Dann werde ich dich niemals ‘Frau’ nennen.”, sagte sie. “Pronomen gibt es viele, und falls sie nicht reichen, darfst du dir auch welche ausdenken.”

“Mir ist das zu stressig. Ich bleibe bei ‘sie’.”, beschloss Amira. “Erst einmal.” Sie griff nach der Tasse Tee, mit beiden Händen, vielleicht, um sich daran festzuhalten. Was Unfug war, von einem physikalischen Standpunkt aus betrachtet, aber von einem psychologischen aus sehr wohl Sinn ergab. “Wieso fühle ich so eine starke Emotion, nur, weil du mich nicht ‘Frau’ nennen wirst? Das ist doch lächerlich!”

Sindra schüttelte den Kopf und verknotete die Beine neu. Als sie realisierte, was sie tat, musste sie beinahe lachen. “Wie ich schon sagte, sind das aus meiner Sicht interessantere und wesentlichere Manieren als Sitzhaltungen.”, sagte sie. Sie wartete das Ausbreiten des schmalen Lächelns auf Amiras Gesicht ab, bevor sie hinzufügte: “Und sehr wohl etwas, was viele Leute ohne zu zögern über Alkoholkonsum wählen.”

“Aber warum ist es so stark?”, fragte Amira. “Es sind Worte!”

Sindra schüttelte noch einmal den Kopf. “Es ist Respekt. Und Raum. Und Freiheit.”

“Und warum ist das deine erste Frage?”, fragte Amira “Und nicht etwa, wer dich umbringen möchte.”

“Das ist in der Tat eine Frage, die ich stellen möchte. Ich bezweifle nicht, dass wir darüber gleich und in den nächsten Tagen reden werden. Daher habe ich sie nicht als erste Frage gewählt. Ich wollte auch, dass Smjer dabei ist, aber vielleicht ziehe ich nun ein paar Fragen doch vor.” Sindra schloss die Augen wieder und trank sehr langsam einen weiteren Schluck vom Tee. “Zu lang gezogen. Definitiv.”, sagte sie.

Amira lachte auf.