Content Notes:

Lebensmüde Gedanken, Leichenschändung, Erwähnung von Sex, missbräuchliche Eltern-Kind-Beziehung, Gaslighting und Gewalt erwähnt, Slutshaming, Ableismus, Machtmissbrauch, binäres Weltbild, GateKeeping im Zusammenhang mit Geschlecht, Erwähnung von Genitalien, wirbellose Tiere (erwähnt), Quallen (erwähnt). Das Kapitel ist viel, viel länger als das davor.


Eine Mär und Geisterschiffe

Kanta

Kanta würde die minzteraner Universitätsbibliothek vermissen. Die kühlen, vertrauten Räume hatten ihr Zuflucht geboten, als sie es gebraucht hatte. Hier hatte sie zu träumen gewagt, das erste Mal das Gefühl gehabt, ihr Leben hätte einen entfernten Sinn oder wäre es wert, gelebt zu werden. Und hier war all die aufgebaute Hoffnung wieder zerschlagen worden, lag in Trümmern. Und nun bot sie ihr Trost. Ihre Eltern hatten ihr zugestanden, sie ein letztes Mal zu betreten, um sich von diesem Leben verabschieden zu können. So drastisch hatte sie es nicht ausgedrückt, das hätten sie nicht verstanden. Aber Abschied an sich verstanden sie.

Professor Lange würde nicht hier sein. Es war Nacht. Er war nicht informiert, dass sie hier war. Wahrscheinlich schlief er. Oder wälzte sich wach im Bett herum und kam mit sich selbst nicht klar. In ihr stritt sich ein kleiner Teil gegen den größeren, nachgiebigeren, ob sie sich letzteres wünschen sollte. Immerhin war er auch Auslöser dafür, dass ihre Welt in Scherben lag. Aber er war genauso Auslöser dafür, dass sie etwas gehabt hatte. Er hatte sie unterrichtet. Er hatte sie Teilhaben lassen an seinen Forschungen und Studien, hatte ihr gezeigt, wie sie sich hier in der Bibliothek zurechtfinden konnte. Und er hatte mit ihr geschlafen, was auch schön gewesen war. Allerdings hatte nie zur Option gestanden, dass er sie heiraten würde, weil er bereits verheiratet war. Ein Umstand, der ihr im Besonderen nie gefallen hatte und den sie widerwillig geschluckt hatte, weil sie durch ihn das erste Mal überhaupt gefühlt hatte, und das hatte sie nicht einfach aufgeben können.

Sie hätte sich gern von ihm verabschiedet. Obwohl er sie verraten und entblößt hatte. Als ihre Cousine sie mit ihm in der Bibliothek entdeckt und ihn gefragt hatte, ob er der geheimnisvolle Mann wäre, mit dem sie verheiratet wäre – sie hatte ihre Familie belogen, dass sie verheiratet wäre, um Freiheiten haben zu können –, hatte er ihr wahrheitsgemäß gesagt, dass das nicht der Fall wäre. Darüber hinaus hatte er laut darüber nachgedacht, wie unwahrscheinlich das eigentlich war, dass sie verheiratet wäre, aber mit ihm noch nie über ihre Ehe gesprochen hätte. Seine Ausführungen hatten für sie nicht einmal logisch Sinn ergeben. Vielleicht hatte er sich aus etwas herauswinden wollen. Und als der Schwindel so aufflog: Ob es sich denn schickte, dass sie unverheiratet mit ihm jeden Tag in der Bibliothek studierte.

Es war eine Unverschämtheit. Vielleicht war ihm das mehr passiert, nicht aus einer bestimmten Strategie heraus, sondern weil er oft nicht ganz bei der Sache war. Trotzdem war es so eine Unverschämtheit, davon zu reden, was sich schickte, aus seiner ehebrechenden Position heraus.

Kanta wunderte sich, dass sie das am meisten verletzte. Dabei war es die Information über ihr Lügen und nicht seine verletzenden Überlegungen, die ihr Leben zerstört hatte.

Ihre Eltern waren gewalttätig. Sie schlugen sie nicht, nicht mehr zumindest, und in ihrer Kindheit war physische Züchtigung in ihrem Elternhaus verglichen mit anderen weniger vorgekommen. Daher hatte sie lange nicht verstanden, warum sie sich so davor fürchtete, warum es so eine Folter für sie war, daheim zu sein. Beziehungsweise bei ihren Eltern. ‘Daheim’ war kein passendes Wort dafür. Daheim war sie hier. Die Gewalt hatte vor allem in einer Art der Kommunikation bestanden, die sie davon überzeugt hatte, dass sie keine Lebensberechtigung hätte, dass sie minderwertig wäre, nichts könnte und widerlich wäre, ohne dass diese Ausdrücke je gefallen wären. Es war eher so, dass sie die wenigste psychische Gewalt erlebte, wenn sie es einsah und selbst aussprach.

Um dem sich daraus ergebenden, permanenten Minderwertigkeitsgefühl etwas entgegen zu setzen, hatte sie immer gründlich gelernt und sich am Ende im Lernen verkrochen. Das war ihr Anlass gewesen, die Bibliothek zu betreten. Und hier hatte sie bei Professor Lange das erste Mal gelernt, wie es war, ein Elb zu sein, eine Person, die als liebenswert wahrgenommen werden konnte. Und als schlau. Er hatte den Austausch mit ihr geliebt, erst, weil sie zuhörte wie ein Schwamm, dann, weil ihn faszinierte, wie schnell sie lernte, und schließlich, weil sie die richtigen Fragen stellen konnte, die ihn weiterbrachten. Er war Sprachwissenschaftler. Kanta liebte Sprachen. Sprachmuster, Rhetorik, Ursprünge, Sprachen, die aus anderen Elementen bestanden, nonverbale Sprachen, die Klänge, die Gedichtsformen, alles daran. Sie hatte gerade angefangen, sich für das wenige, was über die Sprache der Nixen bekannt war, zu faszinieren, als es passiert war. Das Aufdecken ihres zweiten, ihres eigentlichen Lebens, das ihr nun wieder nicht nur verboten, sondern auch verwehrt war.

Sie wusste nicht genau, was nun anstand. Sie würde wohl tatsächlich mit irgendwem verheiratet werden. Es hatte irgendwann auffliegen müssen, das war ihr klar. Es grenzte fast an ein Wunder, dass sie ihr Lügennetzwerk so lange hatte aufrecht erhalten können. Natürlich hatten ihre Eltern ihren Ehemann kennen lernen wollen. Den sie angeblich auf einer Studienfahrt geheiratet hatte. Aus technischen Gründen, weil irgendein Teil der Exkursion nur verheirateten Frauen gestattet gewesen wäre, hatte sie es ebenso angeblich unterwegs tun müssen und nicht erst, als sie wieder daheim wäre. Von der Geschichte war lediglich wahr, dass sie auf der Studienfahrt gewesen war. Dabei hatte sie sich überlegt, dass es vielleicht ihre beste und letzte Möglichkeit wäre, die Geschichte über einen Ehemann in die Welt zu setzen, um dann längerfristig mehr Freiheiten zu haben. Sie hatte dafür unzählige Ausreden und Geschichten gebraucht, warum ihre Eltern wieder und wieder keine Möglichkeit bekamen, ihn zu treffen. Und der Ehering war weder einfach zu beschaffen gewesen, noch hatte sie Geld dafür gehabt, eigentlich. Sie kramte ihn aus der kleinen Tasche, die sie dafür in ihren Rock eingenäht hatte. In jeden ihrer Röcke. Ein Ehering für eine Ehe mit sich selber. Und sie wollte sich eigentlich nicht von sich selbst scheiden lassen.

Sie gedachte, wegzulaufen. Sie wusste noch nicht genau wie, aber sie hatte eine Idee, wohin. Die Geisterflotte.

“Ich habe damit gerechnet, dass ich dich hier finde.”, hallte eine leise Stimme durch die verlassene Bibliothek.

Nicht Professor Lange, aber eine Stimme, die sie gerade umso lieber hören wollte. “Ich habe mit dir überhaupt nicht gerechnet!”, rief sie ebenso leise zurück. Sie steckte den Ring zurück in die Tasche.

Arwin schloss die Türen zur Bibliothek hinter sich, während sie ihm entgegenkam. Sie wäre am liebsten gelaufen, hätte ihn in die Arme genommen, an sich gedrückt und geweint. Stattdessen eilte sie so schnell, dass es gerade noch kein Laufschritt war, nahm seine Hand und drückte sie zärtlich gegen ihr schneller klopfendes Herz. Es war kein verliebtes Herzklopfen. “Seid ihr überfallen worden?”, fragte sie. Sie verkniff sich, gleich zu fragen, ob es die Geisterflotte gewesen war.

Arwin nickte. “Wir mussten umkehren. Ich bin an Deck geblieben. Es war gruselig.”

Arwin war Forscher und hatte auf einem Forschungsschiff für eine Entdeckungsreise angeheuert.

Kanta ließ seine Hand los. Sie gruselte sich reichlich wenig. “Gibt es Tote oder Verletzte?”, fragte sie.

Bei Forschungsunternehmungen der Universität Minzter, für die die Staaten der Bantine auf Antrag die finanziellen Mittel zur Verfügung stellten, war es noch nie zu Todesfällen gekommen. Angegriffen und bestohlen worden, sodass die Reise abgebrochen werden musste, waren sie allerdings jedes Mal.

Aber es hatte Schiffbrüche gegeben, die mit der Geisterflotte in Verbindung gebracht wurden. So manches Handelsschiff war nie irgendwo angekommen. Sowie gab es Gerüchte, dass einige Forschungsschiffe anderer Völker und Nationen weniger glimpflich davon gekommen wären.

Es hörte sich für Kanta weit weg an, und unstimmig. Sie arbeitete dicht mit Leuten zusammen, die sich mit der Erforschung des neuen Kontinents mehr oder weniger direkt befassten. Die Kommunikation mit anderen internationalen Universitäten war nicht unbedingt immer durchsichtig, sie forschten in mehr oder minder unfreundlicher Konkurrenz, aber es gab dennoch Informationsaustausch. So etwas wie Handel: Dieses Material gegen diese Erkenntnis. Es war unwahrscheinlich, dass noch keine Geschichte mit festmachbareren Fakten bei ihr angekommen wäre, welchen, die über ‘hätte auch irgendwie ein Unfall sein können’ hinausgingen, wenn es entsprechende blutige Übergriffe der Geisterflotte wie aus den Gerüchten gegeben hätte.

Dann wiederum war das süd-ost-maerdhische Zarenreich der Zwerge, aus dem die meisten der brutalen Gruselgeschichten stammten, ausreichend weit weg und die Berichterstattung langsam und mit am undurchsichtigsten, dass Kanta letzte Zweifel doch nicht abstreifen würde.

“Quasi nein.”, sagte Arwin. “Es sei denn, du zählst ein paar blaue Flecken und dieses Mal eine kleine Platzwunde. Die aber schon halbwegs verarztet war, als wir den Matrosen fanden.”

“Hui, das ist mal eine interessante Geschichte.”, entfuhr es Kanta.

“Wir glauben inzwischen, dass sie nur Vorräte klauen wollen. Und es ist völlig unklar, wie sie das machen.”, erklärte Arwin. “Allmählich glaube ich auch an Magie oder Hexerei oder Geister.”

Kanta kicherte. “Du und Geistergeschichten. Es muss wirklich unheimlich gewesen sein.”

“Wir können an Bord nicht zu viele sein, weil wir ja genug Proviant für die Überfahrt brauchen und jede weitere Person entsprechend mehr Proviant braucht. Und weil die Schiffe nicht so groß sind. Der Staat möchte nicht so viel verlieren, deshalb setzt er keine größeren Schiffe als für so eine Überfahrt nötig für die Forschungsreisen ein. Zumindest nicht, bis wir wissen, dass es wahrscheinlich ist, dass wir es schaffen.”, berichtete Arwin.

Kanta wusste das alles. Das hatte er schon einmal erzählt, als er anheuern wollte. Aber sie unterbrach ihn nicht. Vielleicht wäre ja irgendein neues Detail dabei, das sie gebrauchen konnte. Immerhin hatte er so einen Überfall dieses Mal selbst erlebt und berichtete nicht aus zweiter Hand.

Sie hatte schon manches Mal irgendwo in ihren unrealistischen Träumen die Idee gehabt, auf eines der Schiffe der Geisterflotte zu gelangen. Das ergab sich fast automatisch aus den Ideen, vielleicht auch mal auf einem der Forschungsschiffe Minzters anzuheuern. Die Forschungscrews wurden natürlich fast ausschließlich oder sogar ausschließlich aus Männern zusammengestellt. Ihr würde das verwehrt werden. Soweit kannte sie sich in ihrem Umfeld aus.

Aber von hier wegkommen, auf eine Weise, die mit Forschung und Abenteuer in Zusammenhang stand, war ein Traum, der sie immer wieder einholte. Oder viel mehr so etwas wie ein Muss.

Der nächste Gedankenschritt war immer gewesen, sich auf einem Forschungsschiff zu verstecken. Sie würde allerdings eine ganze Überfahrt nach Grenlannd wahrscheinlich nicht überleben, wenn sie versteckt bliebe. Und sie hatte nicht mit einer gnädigen Behandlung zu rechnen, wenn sie erwischt würde. Es waren schon unregistrierte Passagiere auf Schiffen von und nach Minzter hingerichtet worden, meist welche, die versucht hatten, sich oder Ware von Maerdha nach Arelis oder zurück zu schmuggeln. Kanta wusste nicht, wie anders das bei Reisen in Richtung Grenlannd gehandhabt würde. Spannenderweise hatte sie davor weniger Angst, als ihren Eltern nach einem solchen Vorhaben ausgeliefert zu werden. Für eine ganze Reise nach Grenlannd wäre sie das Risiko wohl eingegangen, aber dort war noch kein Schiff angekommen.

Also hatte sie überlegt, ob es vielleicht möglich wäre, sich nur zu verstecken, bis die Geisterflotte angriff. Ab da war ihr Plan noch vage, eher noch Fantasie. Sie wusste nicht wie, aber ihre Hoffnung wäre dann, auf eines der Geisterschiffe überzusetzen. Bevor Arwin gekommen war, hatte sie angefangen, sich das erste Mal darüber konkrete Gedanken zu machen, aus den unrealistischen Vorstellungen einen Plan für einen durchführbaren Versuch wachsen zu lassen.

Die Geisterflotte machte keine Toten, wenn es Überlebende gab. Das klang irreführend. Es hieß, dass die Geisterflotte, sobald sie einem Schiff zu nahe käme, das ganze Schiff versenkte und überhaupt keine Überlebenden ließe, aber sie hatte schon oft Schiffe angegriffen, ohne dass diese überhaupt gemerkt hatten, dass sie angegriffen worden waren, und dabei waren vor allem Lebensmittel und vielleicht ein paar andere Gegenstände wie Karten abhanden gekommen, nie war jemand getötet worden.

Es waren Schiffe samt Crew vollständig gesunken und verschwunden. Ohne Überlebende, die davon berichten könnten, konnte natürlich niemand nachweisen, dass ein Angriff der Geisterflotte Ursache dafür gewesen wäre oder eben nicht. Das klassische Problem. Es wunderte Kanta nicht, dass die Geisterflotte mit dem unerklärbaren Phänomen der scheinbar kontaktlosen Überfälle und anderer Gruseligkeiten für Erklärungen herhalten musste, wo es noch keine bessere gab. So entstanden dann wohl Gerüchte.

Trotzdem, ein klein wenig hatte Kanta durchaus Bedenken, dass sie sich Gefahren nur ausredete. Vor Minzter waren häufiger Schiffsteile und manchmal sogar Leichen angeschwemmt worden, die entstellt oder zumindest nicht wahrscheinlich durch ein Unwetter in diesen Zustand gebracht worden waren. Aber Kanta vermutete dahinter etwas anderes als die Geisterflotte. Es passte für sie nicht zusammen.

“Wir haben versucht, alle Stellen, an denen das Schiff irgendwie heimlich geentert werden könnte, zu überwachen. Wir haben nichts gesehen.”, fuhr Arwin fort. “Wir haben in einiger Entfernung das Geisterschiff gesehen. Es war in unheimlichen Nebel gehüllt. Der Rumpf wirkte grünlich, als wäre er voll mit Algen bewachsen. Einige meinen, das Schiff würde aus den Tiefen der Meere auftauchen und Unglück bringen. Wir haben versucht, die Verfolgung aufzunehmen und eine Weile mithalten können. Es war ein schnelles Schiff, aber es war, als wollten sie eine Weile den Abstand konstant lassen. Dann irgendwann erhob sich das Schiff aus dem Wasser, als würde es wachsen, und rauschte davon. Wir konnten nur noch hinterher sehen.”

“Und die Vorräte waren weg.”, ergänzte Kanta.

“Ja richtig. Also, sie haben uns ausreichend übrig gelassen, um wieder hierher zu kommen, aber mehr eben auch nicht.”, bestätigte Arwin. “Und die zwei Mann, die wir zur Bewachung der Vorräte dagelassen haben, die uns einen Hinweis geben sollten, woher der Überfall passiert, woher sie kommen, schliefen friedlich. Wie durch einen Schlafzauber. Wir haben sie für eine ganze Weile nicht aufwecken können.”

“Sie fallen also aus dem Stehen in den Schlaf.”, folgerte Kanta.

“Ja, das ist auch mein Gedanke. Beziehungsweise unser aller. Und er passt mit dem Bericht der Wachen zusammen.”, bestätigte Arwin. “Sie erinnern sich, dass sie im Stehen wie aus dem Nichts plötzlich einschlafen und umfallen. Heinreld hat nicht mehr mitgekriegt, wie er dabei mit der Stirn auf eine Kante gekracht ist. Daher die Platzwunde. Der Schrank hatte hinterher einen kleinen Schaden, der zur Wunde passt. Die Wunde war grob versorgt.”

Arwin setzte sich an einen der Lesetische, nachdem er ihr einen Stuhl vom benachbarten bereit gestellt hatte. Sie setzte sich dazu. Er durchwühlte seine Tasche und legte ein paar Stücke Papier mit Kohlezeichnungen vor ihr ab. “Ich habe das Geisterschiff versucht zu zeichnen.”, sagte er.

Und er konnte sehr gut zeichnen. Es zeigte das Schiff von der Seite ohne Nebelschwaden, von der Seite mit Nebelschwaden, und mit weniger Nebelschwaden von hinten. Besonders das mittlere hätte so in ein illustriertes Buch mit Horrorgeschichten gekonnt. “Hübsch!”

“Du hattest mal gesagt, du wollest bei der Geisterflotte anheuern.”, erinnerte sich Arwin.

Kanta wurde schlagartig sehr heiß. Sie blickte auf. Ja, das hatte sie.

“Wie ernst war das gemeint?”, fragte er. “Ich habe mich nie getraut, zu fragen. Ich weiß, dass du Geheimnisse birgst. Ich weiß nicht, wie schlimm dein Leben aussieht.”

“Keine Geheimnisse mehr.”, widersprach Kanta. “Sie sind in deiner Abwesenheit aufgeflogen. Ich kann dir alles erzählen.” Nach kurzem Zögern entschied sie sich, es zusammenzufassen: “Ich war nie verheiratet. Die Ehe war eine Lüge.”

“Ich habe es mir fast gedacht.”, murmelte Arwin.

“Ich habe dir einfach vertraut, dass du bei den Geschichten bleiben würdest, die ich erzähle, und vor dir nicht so genau auf mein Spiel geachtet.”, gestand Kanta.

“Ich habe nie Zweifel an deinen Geschichten geäußert, habe sie so behandelt, als wären sie wahr.”, sagte Arwin. “Es hat für mich nie eine Rolle gespielt. Und du musst mir nichts weiteres erzählen.”

“Ich würde gern.”, sagte Kanta leise. Sie hatte es immer gewollt. Nun, da alles ohnehin zu spät war, konnte sie es vielleicht. Sich einem Freund anvertrauen. “Wenn du möchtest.” Sie spürte, wie ihre Kehle enger wurde.

Kanta weinte selten. Aber Arwin hatte so eine Art, dass das ging.

“Ich bin gern da, wenn du möchtest.”, sagte Arwin, klang einfühlsam dabei. “Ich weiß nicht, ob, oder glaube nicht, dass ich dir helfen kann. Ich habe hauptsächlich Forschung im Kopf. Das weißt du ja. Ich hatte nie irgendwelche schlimmen Probleme. Ich möchte dich verstehen und für dich da sein, aber ich glaube, ich werde ganz viel nicht nachvollziehen können.”

Das war vielleicht das ehrlichste, das je jemand zu ihr gesagt hatte. Dachte Kanta. Und dann, dass es vielleicht übertrieben war, so zu denken. “Zu deiner Frage von vorhin: Ja, ich meinte das sehr ernst. Ich möchte gern auf die Geisterflotte gelangen.” Sie fühlte ein klein wenig Angst, als sie das sagte. Dass sie vielleicht belauscht würden. Es war etwas, was kaum jemand verstehen würde, und wofür sie deshalb mit viel Ablehnung und Schlimmerem rechnete.

“Ich hätte Angst um dich. Sehr große.”, sagte Arwin. “Ich habe lange überlegt, ob ich dich frage. Aber wir suchen tatsächlich eine Frau, die wir auf die Geisterflotte schmuggeln möchten. Eine mit viel Bildung. Eine wie dich.”

Kantas ganzer Körper kribbelte. Es waren gleich drei Dinge, die ihn dazu brachten: Die Möglichkeit, die sich hier eröffnete, das Kompliment an ihre Bildung, und die Stellungnahme, dass sie die Richtige wäre. Wofür auch immer, im ersten Augenblick fühlte es sich gerade für sie immer sehr stark an, wenn ihr eine Person sagte, dass sie geeignet oder richtig wäre. Sie nickte. Und dann war sie verwirrt. “Warum eine Frau?”

“Wir haben dieses Mal einen Blick auf die Crew des Schiffes erhaschen können, bevor der Nebel aufstieg. Wir glauben, dass die Crew nur aus Frauen besteht.”, erklärte Arwin.

Das war mal interessant. Wirklich interessant. Eine Chance zu bekommen, nicht obwohl, sondern weil sie eine Frau war.

“Es würde lebensgefährlich werden.”, ermahnte Arwin sie. “Ich berichte dir davon schweren Herzens, weil ich dich wirklich sehr mag. Es ist einfach so wahrscheinlich, dass du das nicht überleben würdest.”

“Es gibt Schlimmeres.”, sagte Kanta. “Dies ist das letzte Mal, dass ich in dieser Bibliothek sein darf. Weil der Heiratsschwindel aufgeflogen ist. Ich erkläre dir gleich alles.”, versprach sie. “Ich hatte vorgehabt, diese Nacht zu fliehen. Und ich hätte auch nicht gewusst, ob ich das überlebe.” Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber fast: Sie hatte angefangen, diese Pläne zu schmieden. Sie hatte es sich noch nicht fest vorgenommen. “Und zu meinem unfertigen Fluchtplan gehörte die Idee, mich auf einem Forschungsschiff zu verstecken, um unentdeckt zur Geisterflotte zu gelangen.”

“Warum genau willst du eigentlich zur Geisterflotte?”, fragte Arwin. “Das ist ein seltsam spezifischer Selbstzerstörungs-Fluchtplan.”

“Ein paar Gründe, aber vor allem habe ich aus den Geschichten der Geisterschiffe den Eindruck, dass sie mir Zugang zu einer neuen Welt verschaffen könnten.”, erklärte sie. “Wo legen sie an? Was für Personen sind darauf? Welches Volk fährt sie? Was ist ihr Sinn?” Sie strich vorsichtig die Zeichenpapiere glatter, ohne dabei die Zeichnung selbst zu berühren. “Durch das Wissen, das wir über die Überfälle haben, glaube ich, dass dahinter idealistische Leute stehen können, aber ich weiß nicht, was für Ideale sie haben. Ich frage mich, inwiefern sie die andere Seite kennen, die sie berauben. Und was sie täten, hätten sie mehr Information.”

“Um Informationsaustausch geht es bei dem Auftrag.”, sagte Arwin. “Natürlich ist der Wunsch nicht, dich oder eine andere Frau einfach auf der Geisterflotte loszuwerden. Der Wunsch ist, dass du alles über die Flotte herausfindest und irgendwann zurückkommst und davon berichtest.” Arwin blickte sie lächelnd an. “Aber du bist immer gut darin gewesen, Geheimnisse zu wahren. Wenn du an Bord der Geisterflotte ein neues Zuhause findest, kannst du da einfach bleiben. Daran kann dich niemand so leicht hindern. Du solltest dich bloß nicht mit der Prämisse bewerben.”

“Ich verstehe.” Kanta gefiel, dass Arwin ihr gleich diese Möglichkeit darlegte. Die sie sich ohnehin ausgemalt hatte. Die Option wurde noch ein bisschen interessanter mit dem Wissen, dass wahrscheinlich nur Frauen an Bord der Geisterflotte wären. “Wie ist der Plan für mich, bei der Geisterflotte an Bord zu gelangen?”


Sie hatten Glück, dass sie niemand sah, als sie die Bibliothek durch einen der Hinterausgänge verließen. Kanta hatte noch kein Lügenkonstrukt gebaut, mit dem ihr eine Möglichkeit zugestanden worden wäre, zum Hafen zu gelangen. Sie vermutete auch, dass Lügenkonstrukte nicht mehr so einfach wären wie früher. Eigentlich waren sie nie einfach gewesen. Aber nun war das Vertrauen in sie, dass sie irgendetwas Wahres sagen könnte, bei ihren Eltern von vornherein gar nicht erst vorhanden.

Auf dem Weg zum Hafen besprachen Arwin und sie kurz, was sie dem Kapitän der Forschungscrew sagen würden. Sie überlegten, dass die Wahrheit, wenn auch nicht die vollständige, gar keine so schlechte Motivation darlegte, warum Kanta freiwillig auf eines der Geisterschiffe gelangen wollte. Sie faszinierte Forschung und Sprache und sie hatte Grund genug von hier wegzukommen. Die größere Schwierigkeit, die sich vorhin schon angedeutet hatte, war zu argumentieren, warum sie auch wieder zurück wollen würde. Aber das stellte sich einfacher heraus als erwartet:

Der Kapitän und große Teile der Crew hatten Angst vor der Geisterflotte, glaubten die Geschichten, dass jene auch Schiffe vollends zerstörten und keine Überlebenden zurückließen, und konnten sich nicht vorstellen, dass eine Person überhaupt in Erwägung zog, dort bleiben zu wollen. Sie gingen eher davon aus, dass Kanta sich eine Weile verstecken und spionieren wollte, um dann bei sich bietender Gelegenheit wieder von Bord zu gehen. Allerdings hatte niemand je eines der Geisterschiffe nah vor Ufer gesehen, also wäre das dann irgendwo im nirgendwo.

Der Kapitän schätzte das Risiko relativ hoch ein, dass Kanta die Sache nicht überleben würde. Aber er glaubte ihr trotzdem, dass sie es eingehen wollte und würde. Seiner Einschätzung nach waren die Versuche, Grenlannd zu erreichen, für alle Crewmitglieder lebensgefährlich. Sie alle gingen ein mehr oder weniger großes Risiko ein, ihr Leben auf See zu lassen, und Kanta eben ein größeres, wobei sie auch zusätzlich zur Überzeugung, das Richtige zu tun, auch noch Leidensdruck hatte, der sie drängte.

Er glaubte, dass sein Forschungsschiff durch eines der Geisterschiffe eines Tages zerlegt werden könnte. Er glaubte den Gerüchten über die gesunkenen Forschungsschiffe vor der süd-ost-maerdhischen Küste und hielt für realistisch, dass es ihnen früher oder später auch so ergehen würde. Aber er lebte für Forschung und glaubte, dass es eine sinnvolle Strategie wäre, eine Person an Bord der Geisterflotte zu schmuggeln, um neue Erkenntnisse zu erlangen, wie sie auf Dauer an jener vorbeigelangen könnten.

Waffen hatten sie trotzdem wenige an Bord. Gründe dafür waren zum einen ihr Gewicht und Volumen, und die geringen finanziellen Mittel, die sie dann eher in Navigationsgeräte, Reparaturen und Proviant investierten. Zum anderen, dass sie die Waffen auch hätten benutzen können müssen. Was unter Forschenden nur begrenzt gegeben war. Kanta jedenfalls konnte nicht gut mit einem Schwert, Degen oder auch nur mit einem Messer umgehen. Letzteres versuchte ein Crewmitglied ihr zu zeigen.

Der Kapitän meinte, sie wollten direkt wieder ablegen, aber zu Kantas Enttäuschung meinte er damit nicht morgen oder so etwas. Sie brauchten neue Vorräte, mussten Verteidigungsschreiben verfassen, um die geplante Fahrt dann auch wirklich genehmigt zu bekommen – es handelte sich nur um Formalitäten, aber diese brauchten eben Zeit –, Rechnungen ausstellen und verschicken und dann, als der Papierkram erledigt war, wurden sorgsam Vorräte ausgewählt, beschaffen und überlegt verstaut, sodass sie vielleicht nicht so leicht gestohlen werden könnten wie sonst. Ein paar Crewmitglieder wurden ausgetauscht, aber Arwin war wieder dabei. Es dauerte zwei Wochen, bis sie endlich ablegten. Zwei Wochen, in denen Kanta aus einer unergründlichen Angst bestand, dass ihre Eltern sie doch finden würden oder irgendetwas Schlimmes passieren würde. Sie durfte schon an Bord wohnen. Auch ein paar andere Matrosen blieben an Bord und betrachteten sie skeptisch. Immerhin nicht wollüstig. Auch davor hatte sie etwas Angst gehabt, aber der Kapitän hatte ihr versichert, wenn jemand ihr gegenüber übergriffig werden würde, dürfe sie ihm das mitteilen, und die Person würde verwarnt und beim zweiten Mal von Bord fliegen. Zumindest solange sie noch im Hafen lägen. Er wusste, dass manche Männer so waren, er hatte Töchter, und er duldete so ein Verhalten an Bord nicht.

Kanta begann die Forschungscrew zu mögen. Sie wurde nicht sonderlich zurückgemocht. Aber eben wenigstens halbwegs respektiert.

Arwin hatte bis zum Ablegen überwiegend an Land zu tun, aber an einem freien Abend besuchte er sie, brachte ihr einen Satz Kleider, weil sie ja nichts hatte mitnehmen können, und machte mit ihr einen Abendspaziergang am Meer. Es rauschte um ihre Füße auf den weißen Sand unterhalb der Stadt Minzter mit ihren flachen Sandsteinbauten. Das Meer war dunkel, aber es war einer der Tage, an denen die Leuchtquallen sich unter der Wasseroberfläche sammelten. Viele kleinere und größere blass-helle Punkte waren über das Meer verteilt. Aus dem Grund trug es den Namen Nachtmeer. Was witzig war, denn in der Crew der Geisterschiffe wurden auch nicht selten Mahre oder Nachtmahre gesehen.

Bei diesem Spaziergang schüttete sie Arwin ihr Herz aus. Es war erleichternd, dass da nun eine Person war, die alles wusste.


Der Tag der Abfahrt würde sich Kanta für immer in ihre Erinnerungen einbrennen. Es ging hektisch an Deck zu und war aufregend, wie die Segel gehisst wurden, aber erst lose waren, weil das Schiff aus dem Hafen zunächst herausgetreidelt wurde. Und dann waren plötzlich ihre Eltern da. Wahrscheinlich hatten sie voller überzeugender Sorge Professor Lange gefragt, wo sie sein könnte, und er hatte ausgeplaudert, dass sie mit Arwin befreundet war, was sie schließlich hierher geführt haben mochte. Kanta wollte unter Deck huschen, aber ihr Vater entdeckte sie zu schnell.

“Erwarte nicht einen Pfennig von uns, wenn du wiederkommst!”, schrie er.

Es war an sich kein Satz, der sie hätte beängstigen sollen, aber er tat es. Er versuchte, rufend mit dem Kapitän zu verhandeln, dass er sie zurückschicken möge, dass sie ihm gehöre. Er warnte den Kapitän vor ihren Lügen und davor, dass sie alle Männer nur verführen wolle. Das schmerzte besonders. Der Kapitän ließ sich nicht beeindrucken. Unter anderem, weil er sehr beschäftigt mit seiner Crew und dem Ablegemanöver war.

“Möchtest du zurück?”, fragte er sie doch, als er einen Moment hatte, der dafür ruhig genug war.

Kanta lehnte energisch ab. Und das war es. Keine weitere Diskussion.

Nun. Er kannte ihre Hintergrundgeschichte.

Je weiter sie sich schließlich vom Hafen Minzter entfernten, desto mehr Anspannung fiel von ihr ab. Die Segel waren nun gefüllt mit Wind. Es brauchte gar nicht so lange, bis die Stadt, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, nicht mehr in ihrem Sichtfeld war. Es tat ihr nicht weh. Höchstens um die Bibliothek. Und um Professor Lange. Sie liebte ihn durchaus. Trotzdem. Wieso liebte sie ihn eigentlich? Aber manchmal fiel Liebe eben einfach irgendwohin.

Arwin gesellte sich zu ihr. Und plötzlich weinte Kanta doch. Arwin legte einen Arm um sie. Sie verriet nicht, dass es Tränen der Erleichterung waren. Vielleicht wusste er es. Vielleicht vermutete er auch Abschied. Ihr war es gerade gleich.


Es passierte, als sie gerade mal drei Tage unterwegs waren. Der Kapitän hatte eine andere Route wählen wollen, in der Hoffnung, dass sie dieses Mal vielleicht zufällig an der Geisterflotte vorbei nach Grenlannd gelangen könnten. Die Hoffnung war von vornherein kommuniziert gewesen und auch das wäre Kanta sehr recht gewesen. Grenlannd war Kontinent der Nixen, hieß es, obwohl noch niemand dort gewesen war. Außer Nixen vielleicht, aber jene sprachen nicht mit Elben. Es war erst seit Kurzem wissenschaftlich belegt, dass Nixen überhaupt so etwas wie eine eigene Sprache entwickelt hatten. Für die sich Kanta brennend interessierte. Daher war es für sie ebenso eine Option, nach Grenlannd zu gelangen, wie es eine war, auf eines der Geisterschiffe zu kommen.

Es würde nun also letzteres sein, wenn. Wenn sie überlebte.

Es tauchte am Horizont auf. Der Mann im Mastkorb wusste schon, woran es erkannt werden könnte, und bereitete sie darauf vor. Ein schmales Schiff, grünlicher Rumpf und blassblaugrüne Segel. Segel mit einer Art Gestänge darin, schien es. Es war kein Schiffstyp, den irgendein ihr bekanntes Volk verbaute.

Sie warteten ab, bis das Schiff etwas näher herangekommen war. Wie Arwin beschrieben und gezeichnet hatte, stieg dabei ein Nebel um das Schiff herum auf. Und das Wasser darum herum verfärbte sich rot. Es war alles sehr leise. Es war tatsächlich unheimlich. Der Gedanke, dass sie durch das rote Wasser und den Nebel mit einem Beiboot rudern würde, wenn alles gut ginge. Der Gedanke, dass sie sich an Bord eines Schiffes zu schmuggeln versuchte, das es schaffte, ein anderes Schiff anzugreifen, ohne an Bord zu kommen.

Sie ermahnte sich, nicht unter Deck zu gehen. Denn Personen, die nahe der Vorräte wären, würden schlafen und handlungsunfähig sein. Wie auf magische Weise, aber Kanta vermutete Gift.

Und nun begann ihr wirrwitziger Plan, den sie sich überlegt hatten: Sie wendeten. Kanta sollte mit einem Beiboot übersetzen. Aber ein Beiboot war ja relativ langsam. Wenn das große Forschungsschiff voll besegelt das Geisterschiff nicht einholen konnte, dann konnte sie es mit einem Beiboot erst recht nicht.

Die Hoffnung war also, dass das Geisterschiff ihnen nachsegeln würde, für eine kurze Weile, lang genug, um den Fernüberfall zu starten, und lang genug für Kanta, um heimlich das Geisterschiff zu erreichen, weil es ihr so entgegen käme.

Zumindest der Teil des Plans ging auf. Das Geisterschiff nahm ein wenig Fahrt auf, um näher heranzukommen. Nur ein wenig. Arwin beobachtete es mit seinem Fernglas und machte sich Notizen. Er war nervös. Kanta war auch nervös, als sie sich in das Beiboot setzte, was auf der dem Geisterschiff abgewandten Seite zu Wasser gelassen werden würde.

Aber dann beeilte sich Arwin noch einmal zu ihr herüberzukommen und sie fest über die Bootskante hinweg in den Arm zu nehmen. “Vielleicht sehen wir uns nie wieder.”, murmelte er mit belegter Stimme in ihr Haar.

“Vielleicht.”, bestätigte sie. “Ich werde dich vermissen.”

Und das stimmte.

Kanta fühlte dieses starke Gefühl, das wie eine Wucht alles andere aus ihr wegfegte. Für ein paar Momente. Und dann wurde sie wieder ruhiger.

Sie würde sterben, oder es würde ihr dort gefallen, oder sie würde wieder versuchen, zurückzukommen. Alles nicht die schlechtesten Optionen. Es gab noch andere, aber über die dachte sie lieber nicht so genau nach. Es würde auf jeden Fall aufregend werden.

Arwin selbst half bei der Betätigung der Seilwinden, mit der sie ins Wasser herabgelassen wurde. Sie löste die Befestigung und ruderte ein Stück vom Schiff weg. Das war eine wackelige Angelegenheit, aber sie hatte sich alles genau erklären lassen. Sie hatte damals in der Bibliothek über Seefahrt viel gelesen, die Geschichten und das Wissen in sich eingesogen. Sie fühlte sich nicht verloren. Obwohl sie es vielleicht war. In einiger Entfernung zum Forschungsschiff ruderte sie schließlich über das holprige Meer Richtung Geisterflotte.

Vielleicht hätte sie Angst haben sollen. Sie, allein in einer Nussschale auf einem Ozean mit vielen Unterwasserkreaturen unter ihr, die sie vielleicht verspeisen wollten. Wer wusste das schon. Aber sie hatte keine Angst.

Sie hatte auch keine Angst, als ihr Boot plötzlich in einer Weise wackelte, die nicht so sehr zu den Wellen passte. Mehrfach. Es gruselte sie ein bisschen. Aber sie war keine Person, die eine nicht erklärbare Sache direkt an Geister glauben ließ.

Sie hatte ein wenig Angst, als ihr Boot scheinbar langsamer vorankam, als würde sie wie ein Magnet vom Geisterschiff weggedrückt. Sie ruderte umso kräftiger dagegen an, aber sie hatte das Gefühl, für eine lange Zeit eher rückwärts zu fahren, gegen ihre Ruderrichtung, wieder näher zum Forschungsschiff.

Und schließlich beobachtete sie, wie das Geisterschiff wendete. Nein!, dachte sie. Sie wollte dort hingelangen und versuchte noch einmal angestrengter zu rudern, mit aller Gewalt, dass ihre Arme schmerzten. Es machte ihr auf seltsame Art Hoffnung, dass sie vielleicht dort angelangen konnte. Vielleicht träumte ein kleiner, unsinniger Teil in ihr, dass die Mitglieder der Geisterflotte alles Frauen wären, die schlimme, gewaltvolle Erfahrungen gemacht hatten, unter denen sie auf Verständnis stoßen könnte, nicht allein wäre.

Und dann, endlich, ließ die seltsame Kraft nach, die sie daran gehindert hatte, vorwärts zu kommen. Sie merkte, wie sie plötzlich viel schneller vorankam. Sie ruderte, so schnell sie konnte, ignorierte, dass ihre Arme müde wurden, bis sie plötzlich, ohne erkennbare Ursache, kenterte. Das eisige Wasser drang in ihre Kleidung. Ihre neuen Optionen spülten durch ihr Gehirn.

Sie konnte versuchen, das Boot aufzurichten und weiterzurudern. Aber sie hatte nicht aufgepasst, es beim Kentern nicht festgehalten und es trieb immer mehr von ihr weg. Als sie das realisierte, versuchte sie, ihm hinterherzuschwimmen, aber sie hatte keine Chance.

Das reduzierte die Möglichkeiten auf drei: Entweder die Geistercrew sammelte sie ein, oder das Forschungsschiff sammelte sie ein, oder sie starb im Meer, falls sie nicht vorher von irgendetwas gefressen wurde, indem sie ertrank. Seltsamerweise fühlte sich die letzte Option nicht wie die schlimmste an.

Ihre Kräfte ließen nach. Angst hatte sie immer noch nicht. Das wäre vielleicht eine sinnvolle Gefühlsreaktion gewesen. Sie versuchte, nicht unterzugehen, aber auch nicht mehr irgendwo hinzukommen.

Der Abend dämmerte. Vielleicht würden sie sie von beiden Schiffen ohnehin nicht sehen. Sie waren inzwischen beide weit weg, sie dazwischen ein unscheinbarer Kopf zwischen Wellen. Die Befürchtung bestätigte sich, als ein zweites Beiboot vom Forschungsschiff ihr Beiboot fand, aber sie nicht. Sie schrie Worte, aber die Person war zu weit weg. Vielleicht schrie sie zurück. Aber das wäre erst recht nicht bei ihr angekommen, gegen die Windrichtung. Das Boot paddelte ein bisschen durch die Gegend, aber kehrte irgendwann um. Es ließ ihr Beiboot zurück, vielleicht in der Hoffnung, dass sie es doch wieder erreichen könnte. Aber Kanta gab sich keinen Illusionen hin.

Als es dunkel wurde, war das Forschungsschiff nicht mehr zu sehen, das andere konnte sie noch am Horizont ausmachen, wenn die Wellen es zuließen. Unsinniger Weise fragte sich Kanta, ob die Vorräte geklaut worden waren. Warum war das ihr erster Gedanke? Warum war das relevant?

Ein Kopf tauchte direkt neben ihr aus dem Wasser auf und holte Luft, als hätte die Person viel zu lange nicht mehr geatmet. “Sprichst du Kazdulan?”, fragte sie bald darauf in besagter Sprache.

Es war kein Zwerg. Kazdulan war die Sprache der Zwerge. Wie kurios. “Ja.”, bestätigte Kanta. Sie hatte die Sprache zwar nur als Fremdsprache erlernt, aber sie hatte durchaus etwas Übung.

“Wie ungeschickt kann sich eigentlich so eine Forschungscrew anstellen, ein Crewmitglied wieder einzusammeln?”, fragte die Person. “Du willst an Bord der Schattenmuräne, nehme ich an?”

Kanta klapperten die Zähne. Der Person neben ihr schien die Kälte egal zu sein. “Ist das der Name des Schiffs?”, fragte Kanta. Wieso schwamm da ein Kopf direkt neben ihr im Wasser im nirgendwo. Ohne Boot. Dachte sie, als sie die Erkenntnis traf: “Du bist eine Nixe!”

“Es haben schon Elben länger gebraucht, um auf die Idee zu kommen.”, sagte die Nixe. “Meine Aufgabe war, dich daran zu hindern, auf die Schattenmuräne zu gelangen.”

“Du hast mein Boot erst festgehalten und dann gekentert?”, interpretierte Kanta.

“Genau.”, sagte die Nixe. “Letzteres war wohl keine so gute Idee. Entschuldige.”

“Du meinst, ungekentert hätte ich eine Chance gehabt, auf das Forschungsschiff zurückzugelangen?”, fragte Kanta.

“Ja. Aber leider auch die Chance, so weit weg vom Forschungsschiff zu gelangen, dass sie nicht einmal mehr gesucht hätten. Du hattest ein ganz schönes Tempo drauf.”, erklärte die Nixe.

“Ich würde gern auf das Schiff.” Kanta deutete in die Richtung, in der sie kaum mehr das Geisterschiff ausmachen konnte. Es war zu dunkel geworden.

“Und du würdest dein Leben dafür riskieren, scheint es.”, fügte die Nixe hinzu.

“Sieht so aus.”, antwortete Kanta. “Ich hatte gerade angefangen, damit abzuschließen, als du aufgetaucht bist.”

“Ich bringe dich an Bord.”, beschloss die Nixe. “Ich kann viel schneller unter Wasser schwimmen. Ich lege dir einen Finger zwischen die Zähne. Wenn du Luft brauchst, beiß vorsichtig zu.”

“Zwischen die Zähne?” Auf einmal nahm Kanta die Kälte stärker wahr. Aber ihr Hirn war trotzdem überwiegend mit der Faszination der Situation beschäftigt: Eine Nixe, die die Hauptsprache des Zwergenvolks sprach und sie gleich retten würde. Das war keine Wendung, die sie vorhergesehen hätte. Allerdings hatte sie ja einen Plan gehabt, der in jedem Fall viel Unvorhergesehenes bereit hielt. “In Ordnung.”, sagte sie. “Allerdings klappern mir die Zähne. Ich frage mich, ob das dabei irgendwie Schwierigkeiten macht. Wäre es nicht praktischer, wenn ich dich am Arm drückte oder so?”

“Ich habe sensorische Schwierigkeiten mit fremden Händen an meinen Armen.”, erklärte die Nixe. “Außerdem werde ich deinen einen Arm unter deinem Rücken mit meiner einen Hand so fixieren, dass du dich gegen mich nicht wehren können wirst, und meine andere Hand gehört eh an dein Kinn, um deinen Kopf zu überstrecken, falls du mir irgendwann wegdriftest, damit deine Zunge nicht in den Hals rutscht.”

Kanta schluckte unwillkührlich, und dabei auch wieder eine gewisse Menge kaltes Salzwasser. “Ich komme mir nicht so vor, als hätte ich meine Zähne gut genug unter Kontrolle. Ich hoffe, das geht gut.”, murmelte sie.

“Ich kann Zähneklappern von bewusst vorsichtigem Beißen unterscheiden. Ich mache das nicht zum ersten Mal.”, sagte die Nixe. “Ich bin Jentel. Keine Pronomen oder Pronomen as/sain/ihm/as.”

Pronomen. Ein Pronomen, das eigentlich nicht zu Kazdulan gehörte. “Welche Person, singular oder plural?”, fragte Kanta.

Jentel grinste. Es sah gar nicht so beängstigend aus wie auf den Bildern von Nixen in Büchern. Jentel hatte einen relativ normalen Mund. “Das Pronomen, mit dem du über mich mit anderen sprichst. Ich denke, das ist dritte Person Singular? Ich bin nicht so sicher bei den Bezeichnungen in der Grammatik dieser Sprache.”

“Du sprichst sie ziemlich gut.”, lobte Kanta. “Es ist nicht die Sprache, mit der du groß geworden bist, oder?”

“Viele Nixen lernen von klein auf mehrere Sprachen. Ich habe Mandulin und tatsächlich Ilderin gelernt. Die Elbensprache. Dürfte deine Sprache sein.”, sagte Jentel.

Ilderin war tatsächlich eine weit verbreitete Elbensprache, die in Minzter gesprochen wurde, und mit der Kanta großgezogen worden war. “Aber dir ist unangenehm, mit mir die Sprache zu sprechen, mit der ich groß geworden bin?”

“Unsere Bordssprache ist Kazdulan.”, sagte Jentel schlicht. “Ich unterhalte mich vielleicht später mit dir, wenn du willst. Jetzt sollten wir erstmal an Bord gelangen. Die Schattenmuräne wartet nur noch auf mich.”

Kanta willigte ein, ließ sich einen Finger zwischen die Zähne legen und sich in einen Zangengriff nehmen. “Tief durchatmen und Lunge etwas mehr als halb füllen.”, empfahl Jentel.

Kanta folgte der Anweisung.

Es war ein unbeschreibliches Gefühl, erfüllte sie mit innerer Freude, als ihr Körper unter Wasser gezogen wurde und Jentels Fischschwanz ihnen Antrieb gab. Die Bewegungen waren so unscheinbar und klein, drückten nur leicht gelegentlich gegen ihren Körper, aber sie schossen unter Wasser dahin, viel schneller, als sie je hätte Rudern können.

Sie hätte vielleicht Angst gehabt, sich Jentel anzuvertrauen, ihm ihr Leben zu übergeben, wenn die Alternative nicht ohnehin zu sterben gewesen wäre. Sie merkte, als ihr Körper langsam den Drang hatte, wieder zu atmen. Sie ließ sich nicht zu lange Zeit, bis sie sehr vorsichtig die Zähne näher zusammendrückte. Jentel tauchte sofort auf und ließ sie atmen. Kanta blickte sich dabei um. Die Schattenmuräne, wie Jentel das Geisterschiff genannt hatte, war ein gutes Stück näher gekommen.

“Es ist so unbeschreiblich!”, rief sie aus, als sie ausreichend geatmet hatte. “Ich würde sagen, atemberaubend.”

Jentel legte ihr als Antwort wieder den Finger zwischen die Zähne. Es waren Schwimmhäute zwischen den Fingern, die sich dabei teils über ihr Kinn legten. As ermahnte sie, noch einmal zu atmen, dann tauchte as wieder ab.

Wieder unter Wasser, die Wassermassen an sich vorbeirasen fühlend, fragte sie sich, ob Jentel mit zur Crew der Schattenmuräne gehörte, oder eher extern mit der Schattenmuräne zu tun hatte.

Irgendwie erschloss sich Kanta der Sinn von seefahrenden Nixen noch nicht so sehr. Auf der anderen Seite, warum sollten sie nicht zur See fahren? Vielleicht war es so unsinnig, zu fragen, warum Nixen zur See fahren sollten, wenn sie doch rasch schwimmen konnten – wirklich rasch –, wie es Unfug war, zu fragen, warum Elben und andere Landvölker Kutschen nutzten, während sie doch schnell rennen könnten.

Sie tauchten nur noch ein weiteres Mal zum Luftholen auf, bevor Jentel die Schattenmuräne erreichte. Sie tauchten durch den Rumpf ein. Das war auch überraschend. Sie hatte keine Ahnung, wie Jentel unter Wasser auf einen Eingang zugesteuert war, oder auch, wie der Eingang ausgesehen hätte. Es war stockfinster unter Wasser.

As gab sie an einer rutschenartigen Rampe frei, die von einem unter Wasser stehenden Unterdeck in ein feuchtes Deck darüber führte. As ließ ihr allerdings nicht den Vortritt.

“Ich bräuchte eine Augenbinde.”, rief as.

“Hast du die Person mitgebracht?”, fragte eine andere Stimme.

“Ja, ich hatte keine Wahl.”, antwortete Jentel.

As versperrte mit dem eigenen Körper die Rampe, sodass Kanta kaum daran vorbeisehen konnte. Sie fror inzwischen jämmerlich, und wenn sie vorhin noch in der Lage gewesen war, beim Zähneklappern keine Finger zu zermalmen, war sie sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sicher, ob das nicht nun Folge gewesen wäre, wäre ihr ein Finger zwischen die Zähne gelegt worden.

Sie hörte einiges an Gerödel, bis eine Hand Jentel eine Binde herabreichte. Es war ein interessantes Material, mit der as ihr die Augen verband. Ein weiches, wie Stoff, aber es hatte eine leicht glibschige oder zumindest sehr reibungsarme Komponente.

Nun endlich robbte Jentel die Rampe ganz hinauf und zog sie an den Händen hinterher. Das Material der Binde war wirklich blickdicht. Kanta kämpfte mit dem Gedanken, ob sie sie einfach wieder abnehmen sollte. Sie war schließlich nicht gefesselt. Stattdessen stand sie zitternd auf.

“Ich weiß, du bist gerade erst wieder zurück und möchtest sicherlich eigentlich ausruhen.”, hörte sie eine Stimme. Eine beeindruckende Stimme mit einem bestimmenden, unnachgiebigen Unterton. “Magst du trotzdem noch einmal in den Mastkorb gehen und überprüfen, dass uns niemand folgt?” Wie konnte eine Frage wie ein Befehl klingen?

“Selbstverständlich.”, sagte Jentel.

Und wie stieg eine Nixe in einen Mastkorb? Und warum eine Nixe? Kanta musste fast grinsen, weil sie so viele Fragen hatte. Sie liebte Fragen. Und Antworten.

“Ich bin stark und würde dich in einen Baderaum tragen, wenn du erlaubst.”, wandte sich die selbe Stimme an sie. In Ilderin nun. Mit Jentel hatte sie Kazdulan gesprochen.

“Habe ich da ein Mitspracherecht?”, fragte Kanta. Sie fühlte sich provokant dabei, und ein wenig ängstlich, dieser Stimme zu widersprechen.

“Oh ja.”, sagte die Stimme. “Ich trage Leute nur mit Einverständnis. Es sei denn, es besteht ansonsten eine akute Gefahr. Ich möchte, dass du wenig vom Schiff siehst, bis wir uns unterhalten haben. Ich bin außerdem auch bereit, das Unterhalten an einem anderen Ort als dem Baderaum zu tun. Diesen schlage ich vor allem deshalb vor, weil du unterkühlt bist, aus der nassen Kleidung rausmusst und aufgewärmt werden solltest.”

Das klang gut, überlegte Kanta. Es wurde zuerst an ihr Wohlergehen gedacht. Wie interessant! Sie fragte sich, auf welche Weise sie mehr mitbekommen würde: Getragen, weil sie dann wüsste, wie sich die Person anfühlte, die mit ihr sprach, oder geführt. “Würdest du mich führen?”, entschied sie sich.

“Möchtest du, dass ich dich mit einer Hand im Rücken führe, oder möchtest du meinen Ellenbogen anfassen, um mir zu folgen?”, fragte die Person.

“Letzteres.”, entschied Kanta.

Kurz darauf fühlte sie eine Hand, die ihre zu einem Ellenbogen führte. Eine bestimmende Bewegung, die ihr wenig Raum gab.

Es war eine gute Entscheidung. Sie wurde eine Treppe hinaufgeführt, die sie sonst vielleicht nicht mitbekommen hätte. Das Holz unter ihren Füßen fühlte sich anders an, als Holz es normalerweise tat. Vielleicht war es gar kein Holz.

Sie gelangte in einen Raum, der sich unwesentlich wärmer anfühlte als ihre bisherige Umgebung.

“Du kannst dir gern nun die Augenbinde abnehmen.”, sagte die Stimme.

Kanta assoziierte sie mit Kälte. Warum, wusste sie nicht so genau. Sie fürchtete sich ein bisschen vor der Person, stellte sie fest.

Sie nahm die Binde ab und erschreckte sich. Sie hatte schon festgestellt, dass der Ellenbogen eine gewisse Höhe und Größe gehabt hatte. Die Person vor ihr war fast zwei Köpfe größer als sie und kräftig gebaut. Und Kanta konnte beim besten Willen nicht zuordnen, zu welchem Volk sie gehörte. Die Person strahlte zusätzlich zur Größe noch eine ganz andere, bestimmende Autorität aus, selbst während sie damit beschäftigt war, warmes Wasser in einen Bottich zu füllen.

“Ich bin Sindra.”, sagte die riesige Person. “Pronomen sie/ihr/ihr/sie. Wir stellen uns hier mit Pronomen vor. Du kannst mich als Kapitänin bezeichnen. Ich fühle mich mit der Bezeichnung Frau wohl.”

Kanta blickte die Kapitänin verwirrt an. “Warum? Das hatte Jentel vorhin schon gemacht. Da verstehe ich das noch, weil es ein Pronomen ist, das ich nicht kannte.”

“Woher solltest du das Pronomen einer Person wissen, wenn sie es nicht sagt?”, fragte die Kapitänin.

Kanta beschloss, das erst einmal so stehen zu lassen. Vielleicht war das eine Sache, damit sie Nixen nicht anders behandelten als alle anderen. Oder war es mehr? Sie würde es herausfinden. “Ich bin Kanta.”, stellte sie sich vor. “Sie/ihr/ihr/sie.” Sie fühlte sich ein bisschen befremdlich, als sie die Pronomen aussprach, aber auch nicht sehr. Sie fühlte sich, als ob sie sich gut auf neue Umgebungen einlassen könnte. Das war ein befriedigendes Gefühl, vielleicht so etwas wie Stolz.

“Hast du Schamgefühl?”, fragte die Kapitänin. “Oder fühlst du dich ausreichend wohl, wenn ich dabei bin, während du dich wieder aufwärmst?”

Kanta hatte kein Problem damit, von einer Frau beim Baden beobachtet zu werden. Das war eher normal für sie. Sie fragte sich einen Moment, ob sie Scham vortäuschen sollte, um ein wenig allein zu sein. Aber sie entschied sich dagegen. Sie wollte etwas von der Kapitänin und dazu wollte sie keinen unnötig schlechten Eindruck machen. “Du kannst gern dabei sein.”, sagte sie also. “Ich würde gern bei euch anheuern. Ist das irgendwie realistisch?”

“Eins nach dem anderen.”, bestimmte die Kapitänin.


Gefühlt brauchte es bis zur Mittagszeit des nächsten Tages, bis sich Kantas Körper wieder aufgewärmt hatte. Sie hatte nicht die ganze Zeit gebadet, aber selbst warme, trockene Kleidung und heißes Getränk hatten nicht sofort die erhoffte Wirkung.

Die Kapitänin war eine zwiespältige Person, fand sie. Sie hatte Kanta eigentlich respektvoll und großzügig behandelt, aber mit einer unverkennbaren Skepsis und in einem Ton, der Kanta Angst einflößte. Als hätte die Kapitänin keine Gefühle und würde auch nicht verstehen, dass Kanta welche hatte. Die Unterredung hatte die ganze Nacht angedauert und bei der Art der Fragen, die die Kapitänin gestellt hatte, hatte sich Kanta daran erinnert gefühlt, dass sie nun für Lügen bekannt sein würde. Sie hatte nicht vor, hier ein großes Lügenkonstrukt aufzubauen. Sie wollte ein einfacheres Leben haben und hoffte, dass es hier niemand bedrohte. Trotzdem war die Unterredung deshalb unangenehm, auch wenn sie verstand, dass die Crew des berüchtigten Geisterschiffs für die Sicherheit ihrer Geheimnisse viel fragen musste. Kanta hatte sich gewundert, dass die Kapitänin keine anderweitigen Verpflichtungen hatte. Niemand hatte sie unterbrochen.

Kanta war unendlich müde, als sie das Deck endlich betrat. Es war alles neu und interessant und faszinierend und ein bisschen beängstigend. Sie fühlte sich etwas verloren, wie sie so da stand, nun erstmals ohne Aufgabe. Die Kapitänin hatte zwei Dinge sehr klar gemacht: Dass sie als Crewmitglied einen Lebensvertrag einging und niemals wieder zurückkehren dürfe. Damit hatte Kanta gerechnet. Und es galt striktes Alkoholverbot für die ganze Flotte. Das hatte Kanta ziemlich überrascht. Auf die Idee wäre sie nie gekommen. Aber sie hatte ohnehin nie gern Alkohol gemocht. Ihr war gesagt worden, sie würde schon dareinwachsen. Immerhin war sie gerade erst achtzehn. Mit sechzehn war es sogar noch normal gewesen, dass nicht alle Alkohol mochten. Vielleicht war sie nun sogar ganz froh, dass niemand hier erwarten würde, dass sie dareinwüchse oder sich gewöhnte.

Sie blickte über das Deck. Gerade war fast niemand unterwegs. Hoch oben im Mastkorb erblickte sie ein Gesicht. Vielleicht war es Jentel, aber es war zu weit weg, um sicher zu sein. An der Reling stand eine Person, die Kantas Interesse sofort weckte, als sie sie genauer in Augenschein nahm. Sie beschloss der Neugierde nachzugehen und sich neben sie zu stellen.

“Ilderin?”, fragte die Person.

Kanta nickte. “Ich dachte Bordssprache ist Kazdulan.”, sagte sie. “Und nun spricht die zweite Person in meiner Sprache mit mir.”

“Hast du angeheuert?”, fragte die Person, ohne weiter auf den Kommentar einzugehen als mit einem Lächeln.

Kanta nickte erneut. “Es ist sehr aufregend.”, sagte sie außerdem. “Kanta.” Nach kurzem Zögern probierte sie aus, wie es war, nun die Pronomen als erstes hinzuzufügen: “Sie/ihr/ihr/sie.”

“Ashnekov. Er/sein/ihm/ihn.”, erwiderte Ashnekov, hob die Hand Richtung Stirn als Gruß. “Willkommen im Schattenschwarm.”

“Schattenschwarm?”, fragte Kanta verwirrt.

“Wir sind eine Flotte aus”, Ashnekov zögerte, “ein paar Schiffen. Ich sage mal sicherheitshalber noch nicht wie viele. Wir sind am Anfang ein bisschen vorsichtig mit der Weitergabe von Informationen. Ich hoffe, du verstehst das.”

Kanta nickte rasch, damit er ihre Frage beantworten würde.

Er tat ihr den Gefallen. “Sie heißen alle nach dem Prinzip Schatten- und dann eine Fischart. Dieses hier ist unser Hauptschiff mit Namen Schattenmuräne. Zusammen heißt die Flotte der Schattenschwarm.”

“Darf ich dir persönliche Fragen stellen?”, fragte Kanta.

Ashnekov kniff die Augen zusammen, aber nickte dann. “Aye.”

“Bist du Elb? Oder Zwerg?” Die Ohren, die sie sah, deuteten auf Zwerg hin. Auch die gedrungene Gestalt. Aber ihm fehlte das herbere Aussehen, seine Züge wirkten runder, wie bei Elben, er war bartlos und er sprach ihre Sprache.

“Beides.”, sagte er schlicht.

“Oh!”, machte Kanta. Nach kurzem Zögern fügte sie sicherheitshalber hinzu: “Ich hoffe, es war wirklich nicht zu persönlich. Ich kann mir vorstellen, dass du das oft gefragt wirst.”

“Hier an Deck inzwischen weniger.”, sagte Ashnekov schmunzelnd.

Der Name, fiel Kanta auf, war auch eher ein typischer Zwergenname, kein Elbenname. “Bist du zweisprachig großgeworden?”

Ashnekov nickte. “Aye.”

Wie aufregend! Kanta staunte wieder darüber, was für Personen auf diesem Schiff waren. Dabei fiel ihr ein, dass sie auf Basis der Vermutung hierher geschickt worden war, dass die Schattemuräne nur Frauen anheuern ließe. Was sie an ihre zweite Frage erinnerte: “Bist du ein Mann oder eine Frau?”

“Ein Mann.”, sagte Ashnekov, wirkte aber gar nicht zufrieden mit der Frage. “Es gibt nicht nur die beiden Alternativen. Und die Frage finde ich fast persönlicher als die letzte.”

“Es tut mir leid.”, sagte Kanta. “Ich glaube, da muss ich noch in etwas reinwachsen.” Sie unterdrückte wieder den Impuls zu fragen, ob es etwas mit den Nixen zu tun hätte. Ihr kam es nun noch wahrscheinlicher vor, dass es mehr war. Ashnekov hatte für sich gesprochen, als er gesagt hatte, dass er die Frage persönlich fand. Glaubte sie.

Ashnekov seufzte. Es war ein freundliches Seufzen. Und er tat es gleich zweimal. “Wo fange ich zu erklären an.”, murmelte er, mehr zu sich selbst. “Eigentlich möchte ich nicht bei den Nixen anfangen.”, sagte er nun wieder normal laut. “Aber sie sind ein guter Einstieg ins Thema.”

“Ich merke mir einfach, dass es auch nicht so gute Aspekte daran gibt, mit ihnen anzufangen, und frage vielleicht später, warum.”, versicherte Kanta.

“Siren – das ist die Sprache der Nixen –, und auch die Kultur der Nixen, – wobei es natürlich nicht nur eine homogene Kultur gibt, wie immer –, sieht fünf Geschlechter vor.”, leitete Ashnekov ein. “Und zwar nicht, weil Körper fünf häufige Ausprägungen hätten, sondern eher Kategorien, in die das Geschlechtsgefühl oder die eigene Identität eingeordnet wird.” Ashnekov unterbrach sich. “Das ist nicht so gut ausgedrückt. Das klingt so, als wären die Geschlechter von etwa Elben oder Zwergen irgendwas anderes, hätten mehr mit ihren Körpern zu tun.”

“Haben sie nicht?”, fragte Kanta.

“Sie können etwas mit dem Körper zu tun haben, das ist bei Nixen nicht anders. Aber der Körper bestimmt nicht das Geschlecht. Der Körper ist nicht Ursache davon, dass uns Geschlecht, Pronomen und Anreden und so weiter in Sprache so wichtig sind.”, hielt Ashnekov fest.

Kanta fielen allerlei Argumente ein, warum es wichtig sein könnte, die zwei Kategorien, in die Körper grob unterteilt werden konnten, in Sprache abzubilden, aber sie überlegte, dass, wenn Ashnekov das so überzeugt sagte, er diese sicher schon alle gehört hatte. Also sagte sie erst einmal nichts.

“Ich bin an sich auch nicht Experte, das alles zu erklären. Und ich rede unstrukturiert und etwas wirr. Ich bin kein guter Redner. Ich versuche dir nur einen Einstieg zu geben.”, warf Ashnekov ein.

“Da bin ich dir sehr dankbar drum.”, sagte Kanta. “Ich habe studiert. Ich habe dabei herausfinden können, dass ich damit umgehen kann, wenn mein erstes Verständnis einer Sache drei-, viermal über den Haufen geworfen wird.”

“Das ist gut. Das passiert in dieser Gemeinschaft hier viel.”, sagte Ashnekov schmunzelnd. “Jedenfalls habe ich gelernt, dass auch weder Elben noch Zwerge, und wahrscheinlich auch nicht andere Völker, nur zwei Geschlechter haben. Und dass es wiederum auch Männer gibt, die mit einer Vulvina auf die Welt kommen, oder Frauen, die einen Penis haben. Das kommt gar nicht so selten vor, wird aber ziemlich unterdrückt.”

Kanta nickte langsam. Sie dachte automatisch an all die Leute, die sie kannte, ob sie bei irgendeiner der Personen etwas erlebt hätte, das für Ashnekovs Behauptung sprach. Sie dachte zuerst an Arwin. Sie fühlte sich nicht zu Arwin hingezogen und sie hatte sich oft gefragt, warum, weil sie eine gewisse Attraktivität zu eigentlich allen Männern fühlte. Irgendwie erschien die Idee für sie plötzlich stimmig, dass Arwin gar kein Mann sein könnte. Aber auf der anderen Seite: Wer war sie, so etwas über andere Leute zu vermuten. Es war ein Gedankenspiel, mehr nicht. Es konnte viele andere Ursachen haben, warum sie sich nicht zu Arwin hingezogen fühlte, obwohl er eine so großartige, liebe Person war. Jedenfalls ergab der Gedanke, dass Geschlechter vielfältiger waren, als sie bisher geglaubt hatte, für sie Sinn, wirkte realistisch. Es machte sie sofort neugierig und viele Fragen bildeten sich in ihrem Kopf, wie, hing es sehr mit dem Charakter zusammen? Wieviel beeinflusste ein untypisch gebauter Körper das Geschlecht? Was genau war Geschlecht und wie fühlte es sich an? Sie stellte sich auch zum ersten Mal die Frage, wie sich Geschlecht für sie anfühlte. Und ja, es war für sie definitiv mehr als ihr Körper. Sie nickte noch einmal. “Gibt es Personen an Bord, auf die etwas davon zutrifft? Außer Nixen, die mit fünf Geschlechtern vielleicht ohnehin außen vor sind.” Sie runzelte die Stirn. “Das war bestimmt nicht sensibel ausgedrückt.”

“Da hast du recht, glaube ich, dass es nicht so sensibel war. Nixen sind keinesfalls außen vor. Es ist eher so, dass wir viel von Nixen lernen können.”, sagte Ashnekov. “Wir haben weitere Personen in der Flotte, auf die etwas davon zutrifft. Manche finden so etwas erst bei uns über sich heraus. Aber ich werde dir keine persönlichen Details über die Geschlechter anderer Crewmitglieder erzählen.”

“Deshalb meintest du, die Frage ist persönlich.”, überlegte Kanta leise. “Weil es etwas über das Innerste einer Person aussagt.”

Ashnekov nickte. “Viele reden gern darüber, aber viele auch nicht.”

“Das gibt mir viel zu denken.”, sagte Kanta wahrheitsgemäß. Sie mochte die Gedanken. Sie mochte sich darauf einlassen. “Wieso eigentlich fünf Geschlechter?”

“Auch fünf Geschlechter decken unwahrscheinlich alles ab.”, sagte Ashnekov unsicher. “Aber der große Unterschied ist: Sie werden nicht zugewiesen. Nixen finden sich im Laufe ihres Lebens selber am ehesten in einer ihrer fünf Geschlechtskategorien wieder. Zu der Erkenntnis, wenn sie da ist, gehört eine Feier. Verschieden groß. Ich stecke da im Detail natürlich nicht drin. Vielleicht fragst du besser eine Nixe.”

“Das werde ich.”, sagte Kanta. “Ich bin dir dankbar, dass du mir darüber Auskunft gegeben hast.”


Sie sprach durchaus mit einigen Nixen in den nächsten Tagen. Aber es war gar nicht so einfach, das zu tun, und wenn sie es schaffte, fielen die Gespräche kurz aus. Die Nixen kamen vorwiegend nachts an Deck und blieben tagsüber im Nixendeck. Das Nixendeck war ein privater Ort. Hier hatten Personen, die keine Nixen waren, nichts zu suchen, solange sie nicht eingeladen worden waren, oder ein Überfall auf ein Forschungsschiff anstand.

Kanta wurde nicht darüber informiert, wie sie die Überfälle genau machten. Sie vermutete, dass es irgendetwas mit dem Nixendeck zu tun hatte. Aber Details erfuhr sie lange Zeit nicht.

Die Nixen wirkten ihr gegenüber größtenteils reserviert oder distanziert, weshalb es ihr mit der Zeit unbehaglich wurde, mit ihnen zu sprechen. Sie hätte sich am ehesten getraut, mit Jentel zu reden, und war wegen des neuen Pronomens besonders interessiert an ihm, aber as verbrachte Zeit im Wesentlichen im Nixendeck oder im Mastkorb.

Die Nixe, mit der Kanta am meisten sprach, war Kamira. Er war Solstim. Das war ein Geschlecht, wie er erklärte, das in ihre Sprache übertragen zwar eine männliche Komponente hatte, aber nicht männlich war. Kamira sah allerdings eher kritisch, dass sich das Konzept überhaupt in ihre Sprache übertragen ließe. Er beschrieb das Geschlecht eher als schlicht, in sich ruhend, aber auch offen für Bewegung. Er beschrieb es auch in Farben, aber so richtig erschloss es sich für Kanta nicht. Das musste es auch nicht, versicherte Kamira. Geschlecht war nicht unbedingt einfach zu verstehen, aber es gab auch keine Notwendigkeit dazu, fand er.

Er wirkte stets sehr geduldig. Seine Aufgabe war die psychologische Pflege der Besatzung, Abbau von Barrieren und Hilfestellung beim Lösen von Konflikten. Kanta schreckte es irgendwie ab. Sie fühlte sich nicht bereit, über ihre Probleme zu reden, und vor allem nicht mit einer Person, deren Aufgabe das speziell war. Aber Kamira bedrängte sie nie. Und so sprachen sie über Siren. Wenn Kamira nicht anderweitig zu tun hatte, was häufig der Fall war.

Rash war das erste Crewmitglied, das keine Nixe war, von dem Kanta erfuhr, dass Rash nicht-binär war. So nannte Rash es, dass Rash weder zu jederzeit noch ausschließlich männlich oder weiblich war. Die Einschränkung war wichtig, erklärte Rash. Denn manchmal war Rash nicht ausschließlich etwas außerhalb der Kategorien männlich und weiblich, sondern zum Teil eines davon und manchmal auch beides zugleich. Es schwankte.

Rash sprach darüber unsicher, aber offen. Rash bevorzugte keine Pronomen, sondern immer mit Namen referenziert zu werden.

Rash konnte schreiben und war für Briefverkehr zuständig. Wie der Briefverkehr funktionierte, erfuhr Kanta nicht. Aber übers Schreiben kamen sie viel ins Gespräch. Rash schlug ihr vor, Kanta könne Rash das Schreiben abnehmen, weil Kanta viel flüssiger schreiben konnte, wenn auch nicht unbedingt schöner. Aber Kanta lehnte ab. Sie übte lieber mit Rash. Rash machte der Unterricht Spaß. Vielleicht war das der Grund, warum Rash ihr vorschlug, sie könne Sprachunterricht geben. Jedenfalls war es ein guter Vorschlag in vielerlei Hinsicht. Nicht zuletzt, dass es ihr unbeschreiblich viel Spaß machte, wieder mit Sprache zu arbeiten. Es bereitete ihr auch Vergnügen, den Unterricht an Personen zu geben, die mit verschiedenen Sprachen und Voraussetzungen kamen. Und es führte dazu, dass sie endlich tatsächlich in Kontakt mit den Nixen kam und größeren Einblick in Siren erlangte.

Die Kapitänin kam selten zum Sprachunterricht. Kanta erfuhr erst sehr spät, warum: Die Kapitänin sprach selbst viele Sprachen fließend. Sie kam, wenn es im Speziellen um Aussprache ging, nahm aber nicht aktiv am Unterricht teil.

Ashnekov unterhielt sich nun mit ihr doch auf Kazdulan. Sie auf Ilderin anzusprechen, war reine Höflichkeit gewesen. Er mochte Kazdulan lieber und sie hatte nichts dagegen einzuwenden. Manchmal brummte ihr Kopf nachts und sie träumte vielsprachig in den Klängen der vielen Stimmen.

Die Gespräche mit Ashnekov wurden zu einer Tradition, jeden Mittag nach dem Mittagessen, wenn nichts anderes anstand, an der Reling. Sie mochte Ashnekov. Sehr. Sie mochte die Umgebung. Obwohl das Schiff nicht besonders groß war und sie nie anlegten. Es gab eigentlich gar keinen Grund, Heimweh zu haben. Trotzdem vermisste Kanta Arwin. Manchmal erzählte sie Ashnekov von ihm.