Amira hat den Auftrag, die Kapitänin zu töten, verweigert.

Content Notes:

BDSM, Es geht um kuscheln, Teil-Nacktheit, Messer, Bedrohung, Heulkrampf, Trauma, Misgendern, Sex ist Kern einer Unterhaltung, aber wird nicht ausgeführt.


Kuscheln

Amira

Rash war gut mit Worten. Sowohl auf Kazdulan, als auch auf Ilderin. Das passte nicht zur These, dass Rash Unterstützung von Kanta benötigte, um Briefe zu formulieren. Da war etwas im Argen. Oder es gab einfach etwas, was Amira nicht verstand.

Amira sprach drei Sprachen einigermaßen fließend: Salvenit, Ilderin und Kazdulan. Letztere zwei Sprachen hatten zu ihrer Ausbildung gehört, damit sie Gesprächen lauschen und Informationen für ihre Auftraggebenden erlangen konnte.

Die Unterredung mit Rash hatte – vielleicht sogar ohne, dass es der Kapitänin oder Rash selbst bewusst gewesen wäre – zwischen Ilderin und Kazdulan gewechselt. Und Rash hatte in keiner der beiden Sprachen Schwierigkeiten gehabt, Sätze gut zu formulieren.

Rash war eine beeindruckende Person. Ein Elb. Heute trug Rash das Haar das erste Mal, seit Amira an Bord war, offen. Es war der vierte Tag. Rash hatte klar definierte, dunkelbraune Locken, die Rash bis auf die Schulter herabreichten. Sonst trug Rash die Haare bis in den Nacken in fest an den Kopf geflochtenen Zöpfen. Ein Zopfband fasste die Zöpfe im Nacken zusammen, ab wo die Haare offen einen einzelnen voluminösen kurzen Zopf bildeten. Sie mochten im ausgestreckten Zustand vielleicht knapp in Rashs Hüfte reichen. Amira wusste es nicht, hatte kein Gefühl dafür.

Es war früher Vormittag. Rash hatte in der Nacht an Deck geschlafen, in ein dünnes Laken gewickelt, das nach Ziege und Minze roch, mit nacktem Oberkörper, und hatte im Schlaf gefroren. Amira hatte sich gefragt, ob sie Rash mit einer wärmeren Decke hätte zudecken sollen oder dürfen.

Aber sie kannte die Gründe nicht, aus denen Rash das tat. Und sie kannte ihren Platz hier noch nicht, wusste nicht, was sich gehörte, und was eigentlich ein Eingriff in eine Privatsphäre wäre. Amira fühlte sich überfordert von der Aufgabe, sich in das Miteinander der Crew einzufügen.

Rash hatte sich am frühen Morgen ausgiebig und lange gewaschen. Amira hatte das nicht beobachten wollen. Sie hatte es einfach so mitbekommen. Sie fühlte sich schuldig gegenüber Rash, dass sie das immer noch alles mitbekam.

Inzwischen hing auch das Laken, in dem Rash geschlafen hatte, gewaschen an Deck und trocknete im Wind. Es roch nur noch ein wenig nach Minze. Rash war unter Deck verschwunden.

Amiras Gedanken zerrissen sie. Sie wollte an ihrer Beliebtheit arbeiten. Ohne daran zu arbeiten. Sie wollte akzeptiert sein. Sie wollte aber auch kein Schauspiel darlegen, damit sie akzeptiert würde. Dann wiederum traute sie sich nicht so richtig, ein Gespräch anzufangen. Sie konnte sich nicht erinnern, je ein Gespräch angefangen zu haben, das nicht auf einer Drohung basierte. Sie mochte sich dafür nicht.

Sindra hatte schon recht mit der Feststellung, dass sie ein Trauma hatte. Und sie hatte erst jetzt das erste Mal in ihrem Leben Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen und es überhaupt erstmal so zu benennen.

Rash war neben Sindra nun seit gestern die einzige Person an Bord, zu der sie eine Art Bindung fühlte. Eine seltsame zwar, aber Rash war sehr persönlich geworden, hatte so viele Anhaltspunkte in den Raum geworfen, die Amiras Interesse weckten.

Amira seufzte, etwas wütend auf sich selbst, und ging ins Unterdeck. Leise, wie sie bemerkte. So wie ein selbstverständlicher Schatten. So war ihr ihre Wirkung oft von anderen beschrieben worden. Sie verhielt sich nicht so, weil sie es wollte, sondern weil es zu ihr gehörte, besonders, wenn sie Angst hatte.

Rash saß in der Schreibnische und schrieb. Rashs Blick war konzentriert, wirkte vielleicht verträumt, während Rash die Feder in die Tinte tauchte, abstrich, und langsam Buchstaben aufs Papier brachte. Amira hätte eigentlich bei der Ruhe und Selbstvergessenheit, die diese Person ausstrahlte, nie vermutet, dass Rash sie bemerkt hätte, aber auf der anderen Seite hatte Rash sie über die vergangenen Tage ja auch bemerkt.

Amira wollte nicht unbemerkt beobachten, dazu war sie nicht hier. Sie trat aus ihrer Nische neben Rash.

Rash erschreckte sich heftig, und hätte Amira das Tintenfass nicht festgehalten, wäre es vielleicht durch die Gegend geflogen. So plötzlich Rash sich erschreckt hatte, so übergangslos saß Rash wieder ruhig da, wusch gelassen die Tinte aus, legte die nasse Feder zur Seite und blickte Amira an. “Was kann ich für dich tun?”

Das hatte Sindra auch gefragt, mit den selben Worten, erinnerte sich Amira. Sie fragte sich, wie eng die beiden waren. Laut fragte sie aber: “Ist es nicht sehr verdächtig, wenn du nach der ganzen Sache direkt zum Schreibpult gehst und schreibst?”

“Kommt drauf an.”, sagte Rash. “Wenn ich dabei herausfinde, warum ich dieses besagte Erinnerungsgefühl hatte, und es direkt berichte, halte ich das für eher von Vorteil. Nicht nur für mich, versteht sich.”

Amira nickte. Sie schraubte das Tintenfass zu und stellte es auf das Schreibpult.

Rash verstaute es zusammen mit Feder und Papier in der Schublade.

“Ich kenne den doppelten Boden.”, informierte Amira.

Rash blickte für ein paar Momente in ihr Gesicht, dann verstaute Rash das Papier unter dem besagten doppelten Boden und seufzte. “Weißt du, wer noch davon weiß?”

“Kanta?”, fragte Amira direkt. “Ich habe sie nie daran gehen sehen.”

Rash wirkte beruhigter. “Aber eigentlich bist du nicht deswegen hier, richtig?”

Woher wusste Rash das? Amira nickte. “Ich habe”, sie zögerte, “eine Menge Fragen.”

“Ich bin offen für eine Menge Fragen.”, sagte Rash. “Und ich finde dich sympathisch.”

Amira fühlte Unbehagen bei der Mitteilung. “Ich vertraue dir nicht.”, stellte sie klar. Es entsprach der Wahrheit. Rash war eine faszinierende Person, aber für Amira steckte Rash voller Geheimnisse. Und Rashs Aufmerksamkeit schüchterte Amira ein wenig ein.

“Verständlich.”, sagte Rash. “Oder besser gesagt, es ist der Standard. Mir wird nicht leicht vertraut.”

<!--Ist das rassistisch?-->

“Warum?”, fragte Amira.

“Du hast mir doch gerade gesagt, dass du mir nicht vertraust. Das müsstest du also besser wissen.”, sagte Rash. Mit einem Blick über das Schreibpult versicherte Rash sich wohl, dass alles aufgeräumt war, und stand anschließend auf. “Wollen wir irgendwo hingehen?”

Amira schüttelte den Kopf. “Hier sind wir ungestört.”

Rash nickte. “Das ist richtig. Nicht sehr gemütlich, aber einsam.”

Auch das stimmte. Amira lehnte sich an die Wand, von wo aus sie alles am besten im Blick hatte, und atmete, um sich auf die Fragen zu konzentrieren. “Du bist”, aber Amira stockte, als ihr auffiel, dass sie die Worte dafür nicht korrekt benennen konnte. Also versuchte sie es anders: “Ich bin keine Frau.”, sagte sie. “Und auch kein Mann. Und du erlebst etwas, was vielleicht vergleichbar ist. Ich habe noch nie mit einer Person über die Erfahrung reden können und würde das gern.”

Rash lächelte. “Sehr gern. Was möchtest du wissen?”

“Ich weiß es gar nicht genau.”, gestand Amira leise. “Vielleicht, woher du weißt, dass du nicht einfach nur eine aufgedrückte Rolle nicht spielen willst. Der Gedanke verunsichert mich bei mir.”

“Ich würde jede Person dafür lautstark kritisieren, wenn sie Erwartungen an Personen hat, weil sie ein bestimmtes Geschlecht haben. Auf Basis dieser Rollen.”, antwortete Rash. “Immer, wenn ich so etwas mache, ordnet mir mein Gegenüber besonders stark zum Beispiel das Geschlecht männlich zu, weil ich ja gerade verteidige, was Männer dürfen oder was Frauen dürfen. Das ist ein mieses Gefühl, weil ich nicht, oder nur manchmal und teilweise, ein Mann bin, und vor allem, weil ich es hasse, wenn Leute versuchen, mir ein Geschlecht von außen aufzuzwingen. Ich nehme es aber für den Kampf gegen die Rollenzwänge in Kauf. Verstehst du, was ich meine?”

Amira nickte langsam. Rash sah für sie nicht aus wie eine Person, der sie das Geschlecht männlich zugeordnet hätte, als sie noch geglaubt hatte, dass sie Geschlechter zuordnen müsste. Sie war froh über beides. Dass sie es nicht mehr tat und dass sie auch nicht wusste, was sie Rash zugeordnet hätte. “Ich glaube, ich kann das nachempfinden.”, sagte sie. “Ich habe oft darüber geschimpft, welche Ungerechtigkeiten Frauen erleben, und mich dabei aber nur wie eine Person gefühlt, die das gleiche Schicksal erfährt und dadurch der Gruppe zugehörig, und nicht, als würde ich zu der Gruppe Frauen gehören, weil ich eine Frau wäre.”

“Weil du keine bist.”, sagte Rash sanft und weich.

Wieder fiel Anspannung von Amira ab. Es war so unbeschreiblich erleichternd, unter Leuten zu sein, unter denen sie nicht so gesehen wurde. Es überraschte sie immer noch, wie stark dieses Gefühl war, während sie ja gleichzeitig realisierte, dass sie ein Trauma hatte, und das hätte viel stärker sein sollen. “Wieso ist das Gefühl der Erleichterung, dass dieser Zuweisungszwang nicht mehr auf mich angewendet wird, so viel stärker als die Gefühle, die mit meinem Trauma zusammenhängen?”, murmelte sie. Vielleicht, weil sie hoffte, dass Rash eine Antwort darauf hatte. Weil Rash so viele Antworten hatte. Aber eigentlich ging Rash das nichts an. Es war ein seltsames Gefühl, sich einer Person mit so etwas anzuvertrauen, der sie nicht traute.

“Traumata packen einen oft in sehr üblen Wellen.”, antwortete Rash unbarmherzig. “Es kann sein, dass du jetzt erst Teile davon kennst, aber sobald du dich einigermaßen sicher fühlst, realisierst du in Schüben immer mehr davon, sodass es dich zerfetzt.”

Amira senkte den Blick. Ob es wirklich so gut war, mit Rash darüber zu reden?

“Wir sind dann für dich da, wenn du das annehmen kannst.”, fügte Rash hinzu. “Es kann sogar Ursache sein: Wenn du bereit bist, Hilfe anzunehmen, dann fetzt es dich besonders, weil deine Psyche die benötigte Sicherheit dafür erst dann hat.”

Amira lächelte bitter. “Du scheinst Erfahrung zu haben.”

“Ein wenig.”, sagte Rash. “So wenig vertrauenswürdig ich wirke, so sehr vertrauen sich Personen mir auch gern an. Ich kann gegebenenfalls recht gut auffangen, wenn ich gelassen werde. Es kommt natürlich auch darauf an, ob ich zu der jeweiligen Person in der Hinsicht passe.”

Amira schüttelte den Kopf. “Ich möchte das nicht.”

Rash nickte. “Ich hätte auch nicht damit gerechnet. Nicht innerhalb des nächsten halben Jahrs oder so.”

Amira runzelte die Stirn. Es wurde dringend Zeit das Thema zu wechseln. Rash war unheimlich. Und sie wollte wieder wenigstens das Gefühl haben, so etwas wie eine Oberhand zu haben. “Was hast du mit der Kapitänin bei Einbruch der Nacht gemacht?”

“Du glaubst, es ginge dich etwas an?”, fragte Rash. Rash wirkte amüsiert dabei.

“In der Unterredung mit dir ist gefallen, dass es was mit Erregung zu tun hat. Die wiederum damit zu tun hat, dass du Befehle erhalten hast.”, sagte Amira. “Hat dir die Kapitänin befohlen, an Deck zu schlafen, mit dem Laken, das nach Ziege riecht? Hat sie dich erniedrigt? Ist es eine Strafe? Oder ist es etwas, was sie mit allen macht? Kommt das auf mich auch zu?”

“Ah, daher fragst du.”, sagte Rash gelassen. “Es war keine Strafe und das kommt nicht auf dich zu, es sei denn, du bringst es selber an. Sindra ist offen für Spiele und Zuwendung in vielerlei Hinsicht. Einige hier an Bord sind das.”

Das war nicht genug Information. Amira fühlte sich in diesem sozialen Gefüge an Bord verloren. Dieses neue Universum um sie herum funktionierte nach Regeln, die ihr noch so unklar waren, dass sie nicht einmal wusste, wie sie danach fragen sollte. Sie fühlte sich unwohl, es mit ihren Fragen zu versuchen, aber Rash sprach nicht weiter, stand stattdessen ganz ruhig da. “Hatte sie Sex mit dir?”, fragte Amira schließlich mutig. Es ging sie wirklich nichts an.

“Nicht im herkömmlichen Sinn.”, sagte Rash und seufzte dann tief. “Wir haben ein Spiel gespielt, in dem ich ihr untergeordnet war und sie mich bedroht hat. Auf meinen Wunsch hin. So etwas erregt mich. Aber eher auf einer anderen Ebene, als es normalerweise als sexuelles Interesse bezeichnet würde. Eher, weil ich sehr auf den Gedankenzustand meines Gehirns stehe, wenn ich untergeordnet bin.” Rash lehnte sich mit dem Gesäß am Schreibpult an. “Sie hat mit einigen anderen Crewmitgliedern durchaus Sex. Die sie ebenfalls unterordnet, wenn sie darauf stehen. Ich weiß nicht, ob es auch eine Person gibt, die mit ihr Spiele spielt, bei denen Sindra untergeordnet ist. Sind das Informationen, die du gern haben möchtest?”

Amira blickte Rash lange und nachdenklich an. Etwas in ihr sperrte sich gegen den Gedanken, dass Personen sich freiwillig unterordnen würden, es mögen würden. Und etwas in ihr fühlte, dass sich so etwas auch gut anfühlen konnte. Sie mochte den Teil spontan nicht. “Wie hast du herausgefunden, was du magst und willst?”

“Ich wusste es einfach.”, sagte Rash schlicht. “Schon als ich ein Kleinkind war, habe ich beim Spielen mit anderen Kindern eine gewisse Denk- und Körperreaktion gefühlt, wenn sie mich gefesselt haben oder so etwas. Ich bin dem damals unschuldig auf den Grund gegangen.” Rash lächelte, vielleicht verspielt. “Und nun bin ich froh, Spiele spielen zu können, bei denen alle Beteiligten wissen, was es für mich bedeutet.”

Amira fühlte sich seltsam unbehaglich im Inneren. Immer noch wegen der Zerrissenheit. “Ich habe so etwas noch nie gespielt.”, sagte sie nachdenklich. “Es fühlt sich in meinem Kopf gleichzeitig furchtbar an, aber hat auch irgendetwas Gutes an sich, was ich möchte. Was bedeutet das?”

“Ist es eine rethorische Frage, mehr eine Frage an dich, oder soll ich mir herausnehmen, einen Antwortversuch zu wagen, obwohl ich dich kaum kenne?”, fragte Rash.

Amira runzelte die Stirn. “Ich weiß es nicht einmal, aber kann es denn schaden, wenn du es versuchst?”

“Ich hatte den Eindruck, es hat dir nicht so gefallen, als ich die Frage bezüglich Trauma beantwortet habe.”, sagte Rash. “Daher frage ich lieber, bevor ich es wage.”

Das stimmte. Aber woher wusste Rash das? “Kannst du irgendwie so etwas wie Gedanken lesen?”

Rash schüttelte den Kopf. “Wenn du damit nicht meinst, dass ich sehr genau zuhöre und beobachte und daher meine Einschätzungen, was du denkst, oft nicht so weit von der Wahrheit entfernt sind, dann nicht.”

“Ist dir bewusst, dass du gut darin bist?”, fragte Amira.

Rash lächelte milde. “Ja.”, bestätigte Rash. “Es verunsichert Leute manchmal ganz schön.”

“Ich hätte gern eine Antwort, wenn du eine hast.”, beschloss Amira. Wenn Rash schon Antworten hatte, war es doch Unfug, wenn Rash sie für sich behielt.

“Ich vermute, du möchtest körperliche Zuwendung.”, sagte Rash sanft. “Du möchtest in den Arm genommen und zärtlich gestreichelt werden. Körperlich geliebt. Vielleicht oder wahrscheinlich sogar ohne Sex. Einfach eine Person, die dich liebevoll berührt und dir dabei das Gefühl gibt, sehr wertvoll zu sein.”

Amira ließ sich die Vorstellung durch den Kopf gehen. Rashs so zart gesprochene, weiche Worte rannen bereits über ihren Körper, als wären es zärtliche Finger. War das ein Zeichen dafür? “Es macht mir Angst.”, sagte Amira. Ihr ganzer Körper versteifte sich. Sie würde sich niemals Rash in dieser Art hingeben. Nicht innerhalb benannten halben Jahres zumindest.

“Auch, wenn du mir dabei ein Messer an den Hals legen würdest?”, fragte Rash.

Amira blickte Rash beinahe alarmiert an. Wieso würde diese Person sich freiwillig ein Messer an den Hals legen lassen. Von einem Assassinan. Und gleichzeitig spürte sie wieder – wie eine Erinnerung oder sogar etwas realer – sanfte Hände auf ihrer Haut. Sie hatte nicht so richtig bemerkt, wie sie das Messer in die Hand genommen hatte, aber es lag da plötzlich. Rash blickte es an. Ein vielleicht neugieriger Ausdruck trat in das Gesicht, aber auch etwas anderes. “Ist es nicht ungerecht?”, fragte Amira.

“Wieso ungerecht?”, fragte Rash.

“Ich traue dir nicht, aber du mir so sehr, dass du dir von mir ein Messer an den Hals legen lassen würdest.”, erklärte Amira.

“Bist du sicher damit?”, fragte Rash. “Kannst du Personen Messer an Kehlen legen und dabei garantieren, dass nichts passiert?”

Amira nickte. Aber das war keine Antwort auf die Frage.

“Dann ist es gar nicht so wichtig, wie ungerecht das ist.”, sagte Rash. “Erstens: Du vertraust mir nicht. Gut, das ist einfach gegeben. Das ändert sich ja nicht dadurch, dass irgendwer von uns da Erwartungshaltungen hätte. Zweitens: Ich vertraue deinen Fähigkeiten und Selbsteinschätzungen. Mehr Sicherheit brauche ich nicht. Und drittens: Ich mag das Risiko und wäre gewillt, es einzugehen.”

Amira trat von der Wand weg und einen Schritt auf Rash zu. Sie war unschlüssig. Blieb vor Rash stehen, etwas näher, als für eine Konversation üblich.

“Ich habe Tabus.”, informierte Rash. “Du fasst meine Haare nicht an. Wenn du sie aus Versehen berührst, oder sie über deinen Händen liegen, weil du in meinen Nacken fasst, in Ordnung. Aber nicht durch die Haare streicheln oder so etwas.”

Amira nickte. “Ich weiß noch nicht so richtig, was hier passiert. Ich fühle mich etwas überfordert.”

“Du musst überhaupt nichts tun.”, sagte Rash. “Ich hatte deinen Schritt auf mich zu und den verringerten Abstand so interpretiert, dass du vielleicht etwas ausprobieren möchtest. Und falls du möchtest, solltest du vorher über meine Grenzen informiert sein. Dass du sie dann kennst, sollte dich aber nicht dazu drängen, etwas zu tun.”

Amira nickte wieder. “Wie lang ist die Liste?”

“Nicht lang.”, sagte Rash.

“Dann haken wir das erst einmal ab.” Das Gefühl von Verwirrung ließ Amira sich etwas surreal fühlen. Und dann fühlte sie wieder die Idee von Rashs Händen an ihrem Körper. Warum verzehrte sie sich so sehr danach?

“Du entkleidest mich nicht weiter als bis auf die Unterwäsche.”, sagte Rash. “Du lässt meine Kleidung heile. Wenn du meine Haut verletzen möchtest, fragst du vorher. Und machst es dann höchstens mit sehr sauberen Klingen.”

“Ich möchte dich nicht verletzen.”, betonte Amira.

Rash lächelte. “Du küsst mich nicht nass und du fasst mir nicht zwischen die Beine.”, fuhr Rash fort. “Und schließlich gibt es noch ein Aus-Wort. Wenn eine Person von uns ‘Rot’ sagt, hören wir mit allem auf.”

Das war beruhigend.

“Das war es.”, sagte Rash. “Möchtest du mir ein Messer an den Hals legen, einfach, um herauszufinden, wie es sich anfühlt?”

“Ich weiß, wie sich das anfühlt.”, sagte Amira, vielleicht eine Spur zu energisch.

“Mit nichts anderem hätte ich gerechnet. Aber weißt du, wie es sich anfühlt, wenn dir eigentlich keine Gefahr droht und dir deswegen niemand böse ist?”, fragte Rash.

Es störte Amira, dass Rash weiterhin so etwas wie die Oberhand hatte. Es würde sich nicht unbedingt ändern, wenn sie Rash das Messer an den Hals legte. Aber es war deshalb verlockend, es zu tun. Rash hatte viel mehr Erfahrung und Wissen und sie daher gefühlt ein wenig im Griff. Es wurde Zeit für mehr Gleichgewicht. Vielleicht waren das unsinnige Gedanken. Aber trotzdem trat Amira noch einen Schritt näher an Rash heran, sodass sie Rashs Atem im Gesicht spüren konnte. Rash war ein wenig größer als sie.

Sie führte die Klinge behutsam an Rashs Hals, beobachtete, wie der Kehlkopf sich dabei bewegte, war sehr vorsichtig. Aber auch nicht so vorsichtig, als wäre sie nicht überzeugt von dem, was sie tat. Mehr eine erforschende Vorsicht. Rash atmete etwas schneller. Amira legte Rash eine Hand auf die Schulter und drückte den Elben sehr sachte etwas nach unten. Rash folgte der unausgesprochenen Aufforderung ohne Zögern. Fügsam. Es war ein gutes Gefühl, nun endlich Rash ein wenig im Griff zu haben. Nicht mehr das Gefühl zu haben, ausgeliefert zu sein, und das – wie Rash erklärt hatte –, ohne die Angst, dass ihr das übel genommen würde.

Rashs Atem zitterte. Amira erinnerte sich daran, dass Rash erzählt hatte, die Kapitänin würde Rash bedrohen, und dass Rash darauf stünde. Amira tat also hier nicht nur etwas, was ihr Sicherheit gab, sondern auch etwas, was Rash gefiel. Und Befehle gefielen Rash auch, erinnerte sie sich. “Fass mich zärtlich an.”, befahl sie.

“Wo?”, fragte Rash. Das war nicht mehr diese selbstsichere Person von eben. Da war ein Zittern in der unsicheren Stimme. Aber auch ein Genießen, das Amira beruhigte.

Die Frage war schwierig. Amira fielen alle möglichen Stellen ein. Eigentlich wollte sie es nicht selbst entscheiden. Ein weiteres Mal stritt es sich in ihr. Sie hatte einen Drang etwas sehr Fieses zu sagen, aber Fiessein war eigentlich etwas, was sie ablegen wollte. “Magst du, wenn Leute fies zu dir sind?”, fragte sie.

“Oh ja.”, antwortete Rash atemlos. “Sehr.” Und fügte ein halb geflehtes “Bitte.” hinzu.

Amira strich sanft und kontrolliert mit der Klinge über Rashs Hals. Sie wusste, was sie tat. Und sie genoss die Furcht, die dadurch in Rashs Gesicht trat. Sie hatte so etwas noch nie genossen. Aber jetzt, jetzt gehörte es hier hin. “An den richtigen Stellen.”, sagte sie leise. “Sofort.”

“Welches sind die richtigen Stellen?”, flüsterte Rash mit einer Verunsicherung, die Amira genoss.

Amira verzog das Gesicht zu einem Ausdruck, der sich für sie streng anfühlte. “Das musst du wissen. Du weißt doch sonst einfach alles.”

Und dann spürte sie Rashs Hände sanft an ihrer Hüfte. An ihrem muskulösen, durchtrainierten Körper. Der das erste Mal für zärtliche Hände durchtrainiert war, und nicht, weil es ihr Job war. Der das erste Mal genossen und lieb gehabt wurde. So fühlte sie sich, als Rashs Hände langsam um ihre Taille streichelten.

“Darf ich unter deiner Kleidung streicheln?”, fragte Rash.

Amira war die Stimme wieder zu selbstsicher. Sie presste Rash noch etwas mehr mit dem Körper gegen das Pult und drückte Rash an den Schultern noch ein Stück herab, sodass sie von oben in Rashs Gesicht blickte. Die Unterwürfigkeit flackerte wieder darin auf. Gut so. Und doch nickte sie einmal. “Tu es.”, sagte sie. “Und mach es richtig!”

Rash atmete noch etwas schneller, als Rashs Finger nach den komplizierten Verschlüssen ihrer Kleidung tasteten und sich unter den Stoff drängten. Amira wollte die Augen schließen, nur die zarten, liebevollen Berührungen fühlen, aber das ging nicht. Wie konnte außerdem eine Person, die sie so wenig kannte, ihr so sehr das Gefühl geben, geliebt zu werden? Vielleicht liebte Rash nur ihren Körper. Und vielleicht war das “nur” in dem Satz auch einfach schlecht und konnte weg. Rash liebte ihren Körper. Und vielleicht war dieses Lieben nichteinmal mit einer Emotion bei Rash verbunden sondern eine reine Handlung. Auch das war genug. Da gab es nichts Schlechtes dran. Die Finger rannen erforschend, aber nicht drängend über Amiras Rücken und Seite, versuchten vorsichtig höher unter die dafür zu enge Kleidung zu gelangen.

Amira hatte immer geliebt, den Rücken gestreichelt zu bekommen. Irgendwo weit aus der Tiefe drangen diese Erinnerungen wieder hoch.

Sie konnte die Augen nicht schließen, während sie ein Messer an einen zarten Hals hielt. Sie nahm es weg und Rash hielt in der Streichelbewegung inne, der Blick auf einmal besorgt. “Ist etwas schlecht?”, fragte Rash.

“Kannst du dich darauf verlassen, dass ich dich ermorden könnte und würde, wenn du nicht tust, was ich will, wenn ich mein Messer nicht an deiner Kehle habe?”, fragte Amira.

Rash schluckte. “Und würde?”

“Das war Teil des Spiels.” Eine Welle von Selbstabscheu durchrann Amira. Sie hätte das nicht sagen sollen. Das war schlimm. Sie befreite sich von Rash und lehnte sich an die Wand zurück, an der sie vorhin gestanden hatte.

Rash stand sofort ihr gegenüber. “Es ist in Ordnung.”, versicherte Rash.

Aber das war es nicht. Ganz und gar nicht.

“Ich habe dich in die Ecke gedrängt.”, schob Rash nach.

“Du mich?”, fragte Amira. Es machte sie fast wütend.

“Diese Spiele sind nicht ohne.”, erklärte Rash. “Ich bin in einen Sog geraten. Es fühlte sich so an, als ob ich wisse, was du wolltest. Und ich wollte es. Aber wir haben nicht ausgiebig vorher darüber gesprochen. Wenn wir so ein gefährliches Spiel spielen, ohne es ausgiebig vorzubereiten, gut genug absprechen, was zum Spiel gehört und was nicht, dann gehört so etwas noch zu den harmloseren Dingen, die passieren können.”

“Mich nervt, dass du so viel weißt. Ich wollte Kontrolle haben.”, sagte Amira. “Irgendeine.”

Rash nickte. “Und das ist auch ein wichtiger Punkt, der gefährlich ist. Denn eigentlich weiß ich nichts über dich.” Rash seufzte. “Ich hätte nicht sagen sollen, dass du kuscheln willst. Ich habe manchmal das Bedürfnis, dich in den Arm zu nehmen. Weil du sehr so wirkst, als würde es dir nicht gut gehen. Und dann reiße ich mich sehr zusammen, es nicht zu tun. Daraus ist vielleicht die Idee entsprungen, du könntest einfach nur kuscheln wollen.”

Amira blickte Rash lange an. Vielleicht wollte sie das. In den Arm genommen werden von dieser Person. “Vielleicht sollte ich meine Skepsis fallen lassen, weil du recht hast und ich es will.” Aber es fühlte sich nicht richtig an.

“Es gibt diese Gefahr, dass, was ich darlege, quasi die Funktion einer Regie-Anweisung bekommen kann.”, wandt Rash ein. “Besonders wenn ich so rüberkomme, als wüsste ich vieles, und dann noch einmal besonders, weil ich erfahren bin und du in diesem Bereich kaum. Das stimmt doch, oder?”

Amira nickte stirnrunzelnd.

“In solchen Konstellationen gibt es häufiger das Problem, dass geäußerte Ideen, was der weniger erfahrenen Person gefallen könnte, auslösen, dass sie damit den eigenen Willen oder wenigstens eigentlich gesunde Hemmungen überschreiben. Du hast gefragt, was deine Gefühle bedeuten, was eine Unsicherheit suggeriert, als wüsstest du eben selbst nicht genau, was du willst. Und wenn ich dir dann sage, was du willst… Ich habe Angst, dass du dann deshalb daran glaubst, dass ich recht hätte, weil du noch keine bessere Antwort hast, obwohl eine andere Antwort richtiger wäre.” Rash verhedderte sich in ein paar Füllwörtern. “Ich bekomme das nicht unkompliziert ausgedrückt und weiß auch gar nicht, ob es zwischen uns ein Problem ist. Aber allein die Möglichkeit macht die Situation gefährlich und erzeugt ein Machtgefälle zwischen uns.”

“Ich weiß, was du meinst.” Es fühlte sich erleichternd für Amira an, dass Rash das aussprach. Auch hier hatte Rash Recht. Obwohl: nicht ganz. Es erklärte einen Mechanismus, den Amira in sich anspringen gefühlt hatte, aber es war nicht so, dass Amiras Wille sich einfach Rashs Vorschlägen gefügt hätte. “Ich denke, du schätzt eigentlich richtig ein, was ich möchte. Aber ich entscheide mich schneller dazu, als ich mich eigentlich darauf einstellen kann. Bevor ich mich sicher fühle.”

“Das ist nicht gut, aber gut, dass du das sagst.”, stellte Rash fest.

Sie schwiegen eine Weile und es war nicht das behaglichste Schweigen. Amira fühlte sich unruhig. Die Situation war unaufgelöst. Ein Teil von ihr wollte ungefähr dahin, wo sie eben noch gewesen waren, aber anders, sicherer.

“Warum wolltest du, dass ich Gefahr wahrnehme, ohne dass du ein Messer an mich legst?”, fragte Rash schließlich.

“Weil du eben recht hast!” Die Wut überwältigte Amira wie aus dem Nichts. “Weil ich kuscheln will. Einfach bloß kuscheln. Mich dabei entspannen. Was ich nicht kann, wenn ich mit einem Messer in der Hand aufpassen muss. Aber ich hasse es, – immer noch! –, dass du so viel über mich und alles weißt, so viel Kontrolle hast. Ich mag es nicht, wenn das keinen Gegenpol bekommt, der sich für mich nach Kontrolle und Ausgleich anfühlt.” Amira holte Luft und beruhigte sich etwas. Wut empfand sie sehr selten so unkontrolliert und stark. “Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien. Das ist ungerecht. Weil ich tatsächlich genossen habe. Kurz.”

Rashs Körper hatte am Anfang des Ausbruchs zwar kurz gezuckt, aber wirkte nun wieder ganz weich. “Ich bin so mutig, dich zu fragen, ob ich dir ein weiteres Spiel vorschlagen darf.”

Amira nickte ohne Zögern. Einen Moment fragte sie sich, ob sie hätte zögern sollen, aber sie war sich recht schnell sicher, dass sie wenn, erst später zögern wollte, wenn sie wusste, worum es ging.

“Ich kann mir vorstellen, dass es uns gefallen könnte, an einem ruhigen Ort zu liegen, wenn dein Messer bereit für dich neben dir liegt und du mich, wie du das gemeint hast, jederzeit damit bedrohen oder angreifen könntest. Und wo du vielleicht in Ruhe herausfinden kannst, was du willst.”

“Ich weiß keinen ruhigeren Ort, als diesen.”, sagte Amira.

Rash lächelte. “Wir bekommen bestimmt die Kapitänskajüte, wenn wir lieb fragen.”

Amira schluckte. Damit hatte sie beim besten Willen nicht gerechnet. Aber wenn Rash das sagte, stimmte das wohl.

“Wenn es dich sicherer fühlen lässt, darfst du mir die Beine fesseln.”, fügte Rash hinzu. “Und deine Dominanz ist wunderschön. Ich mag die Momente, in denen du mich tatsächlich klein kriegst.”

Bei den letzten Worten lächelte Amira.


Nicht allzuviel später waren sie tatsächlich in der Kapitänskajüte für sich. Amira war Rashs Vorschlag nachgekommen, Rashs Beine zu fesseln. Seil gab es an Bord genug. Es war anderes Seil, als Amira es gewohnt war, aber das machte ja nichts. Sie strich noch einmal sachte mit dem Messer über Rashs Hals, nur um die Reaktion zu sehen, sich sicher zu sein, dass Rash verstand, dass Amira das Sagen hatte, bevor sie es griffbereit an die Seite legte. “Zieh mir den Oberkörper aus!”, befahl sie. Dann hielt sie Rash doch noch einmal auf – indem sie Rash einfach mit der Hand auf Rashs Brustbein wieder zu Boden drückte. Zunächst entfernte Amira die vielen Messer aus der Kleidung, die Rash ihr gleich ausziehen würde.

Rash schmunzelte. “Weißt du, dass du unbeschreiblich schön bist?”, hauchte Rash.

Amira warf Rash einen bösen Blick zu und das reichte auch schon, um Rash wieder unterwürfig zu stimmen. Warum mochte sie das so?

“Jetzt.”, sagte sie, das letzte Messer aus der Oberbekleidung noch in der Hand. “Auch das Kopftuch.” Sie mochte es tragen. Sie fühlte sich damit mehr bei sich und sicherer, selbstbewusster. Aber der Gedanke von Rashs Händen in ihrem Haar fühlte sich gut an. Es ging gerade um etwas anderes. Um etwas, wo dieses Selbstbewusstsein anderswoher kam, wenn überhaupt.

Sie legte doch wieder das letzte Messer, das sie noch immer in der Hand hielt, sachte an Rashs Kehle. Wieso genoss sie auf einmal so sehr, das zu tun? Vielleicht, weil Rash es mochte. Vielleicht, weil es nun nichts Böses bedeutete. Vielleicht erinnerte es sie an Trainingszeiten, wo es auch noch keine so schlimme Bedeutung gehabt hatte, sondern lediglich bewertet worden war, ob sie es gut machte.

Rash machte sich unsicher an ihrer Kleidung zu schaffen. Amira mochte die Unsicherheit. Und dann, als sie halb nackt war, legte sie sich neben Rash, legte das Messer hinter sich und sich selbst in Rashs Arme. “Streichel mir den Rücken.”, befahl sie flüsternd. “Mach es richtig.”

Rash tat es richtig. Nicht einen Moment fühlte Amira sich dabei falsch oder ausgenutzt. Rash streichelte ihr liebevoll über den Rücken. Sachte. Als würden sie sich schon lange kennen. Langsam und einfühlsam, sodass Amira jede Berührung auskosten konnte. Warum musste sie eine Person dafür bedrohen, sich diese Zuwendung zugestehen zu dürfen? War das richtig interpretiert? Gestand sie sich das sonst nicht zu? Oder war es, dass sie Rash eben eigentlich nicht vertraute?

Sie vergaß die Messer hinter sich, ließ los, atmete. Und dann drängte ein riesiger Kloß durch ihren Hals nach oben. Ihr Körper begann zu zittern, als sie versuchte, das Weinen mit Gewalt zu unterdrücken. Rash wurde noch zartfühlender. Übernahm nicht Kontrolle, wie zuvor. Flüsterte in ihr Ohr: “Du darfst jederzeit ‘rot’ sagen.”

Aber Amira sagte nicht ‘rot’. Sie versuchte, dagegen anzukämpfen, aber irgendwann drängte sich ihr Körper von selber fester in Rashs Arme. Ihr Kopf legte sich unter Rashs Kinn. Rashs Halsbeuge war nass geheult, von den kleinen Tränen, die sich an ihrem Willen, nicht zu heulen, vorbeigedrängt hatten. Sie fühlte ihre eigenen Tränen auf ihrem Gesicht, als sie es an den Hals anlehnte, an dem vorhin noch ihr Messer gelegen hatte. Zarte, verletzliche, nasse Haut. Und schließlich ließ sie los, heulte. Sie verließ sich darauf, dass niemand sie verurteilen würde, obwohl das laute Schluchzen sicher draußen hörbar war.

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und sie hörte die gelassene Stimme der Kapitänin: “Braucht ihr Hilfe?”

Sie spürte Rashs eine zärtliche Hand an ihrer Schläfe und den Atem in ihrem Ohr, als Rash raunte: “Hast du das Bedürfnis, dass wir etwas anders machen als gerade?”

Es war eine gute Frage, weil Amira nur den Kopf zu schütteln brauchte.

Auch die Kapitänin musste es gesehen haben. “Ich schaue nachher noch einmal vorbei.”, sagte sie und schloss die Tür.

Die Störung hatte dafür gesorgt, dass Amira sich etwas zusammenriss. Aber mit Rashs zarten Fingern, die über ihr Haar und ihren Rücken wanderten, überrollte sie eine weitere Welle. Welle um Welle, wie das Meer, bis sie nicht mehr heulen konnte und erschöpft in Rashs Armen lag.

Rash fragte nichts. Und Amira sagte nichts. Aber sie vermutete, dass sie beide nicht mehr daran glaubten, dass es ein halbes Jahr brauchen würde, bis sie sich Rash anvertrauen würde. Nur, würde es irgendwann auch umgekehrt passieren?