Content Notes:

Unerfüllter Kinderwunsch, Schwangerschaft erwähnt, Pädophilie (keine Gewalt), Tod eines Elters.


Hafenmeisterin

Ushenka

Ushenka war Hafenmeister. Oder vielleicht Hafenmeisterin. Auf dem Papier war sie Hafenmeister. Aber für sich selbst und Daheim nannte sie sich Hafenmeisterin und das nicht ohne ein Gefühl von Genugtuung.

Ushenka war eine mollige Frau Mitte fünfzig mit glücklicherweise relativ wenig Oberweite, ein Elb, sodass sie ganz gut zum Stereotyp eines minzteraner Hafenmeisters passte. Schiffe liefen ein, liefen aus, und informierten sie jeweils über ihre Pläne. Größere Schiffe reservierten bei ihr Plätze und Arbeitskräfte, wenn sie ein- oder ausliefen. Es war eine Verwaltungs- und Schreibarbeit direkt an der Küste eines der schönsten Meere vor Maerdha. Und eine Arbeit mit viel Getratsche.

Ushenka hatte das Gefühl, sie sollte sich eigentlich nicht über ihr Leben beschweren. Es war interessant, sie lebte in einem gewaltfreien, sozialen Umfeld, und sie hatte es zu etwas gebracht, wovon sie als Jugendliche geträumt hatte, ohne je damit zu rechnen, dass die Träume wahr werden könnten. Trotzdem hatte sich ihr Leben ganz anders entwickelt, als sie es sich heute wünschte, und sie bereute es fast jeden Tag ein bisschen. Ein wenig zumindest. Und hoffte manchmal, dass es noch nicht zu spät wäre.

Ushenka hätte eigentlich gern eine Familie gegründet und Kinder groß gezogen. Sie hätte gern Kinder geboren. Aber es wäre dann doch aufgefallen, wenn der Hafenmeister schwanger geworden wäre. Das war nicht der einzige Grund, der dem Wunsch im Weg stand: Sie führte außerdem eine Zweckehe. Es war eine gute Zweckehe, die sie sich wohlüberlegt ausgesucht hatten. Sie würde es wieder so machen. Selbst, wenn das eben hieße, dass der Kinderwunsch unerfüllt bliebe. Ihr Mann wollte keine Kinder mit ihr bekommen. Er meinte, er habe mit seiner Arbeit zu viel zu tun, um sich zu kümmern, würde sich aber nicht wohl damit fühlen, Kinder in die Welt zu setzen, ohne seinen Anteil zu leisten. Er arbeitete als Forscher an der Universität Minzter. Ushenka fand das eine sehr fortschrittliche Einstellung, hätte es sich aber anders gewünscht.

Ushenka hatte ein Kind groß gezogen, wenn sie das so bezeichnen durfte. Nicht von klein auf und es hatte weitere Besonderheiten gegeben. Als sie vor zwanzig Jahren etwas abseits der Stadt einen ausgiebigen Strandspaziergang gemacht hatte, bei dem sie wie immer in dieser schmalen, unscheinbaren Bucht vorbeigeschaut hatte, hatte sie ein Nixenkind gefunden. Das war noch vor der ganzen Sache mit der Ehe und der Arbeit im Hafen gewesen.

Minzter und Umgebung war kein Ort, an dem sich Nixen normalerweise lang aufhielten. Aber das Nixenkind war trotzdem nicht die erste Nixe, der Ushenka begegnet war. Ein Jahr zuvor war sie schon einer begegnet. Sie war verletzt gewesen. Das war der einzige Grund gewesen, warum sie sich ihr offenbart hatte. Sie wäre noch zwei Tage angestrengtes Schwimmen von ihrem Ziel entfernt gewesen und hatte gewusst, dass sie es nicht mehr schaffen würde.

Ushenka war mehrmals täglich zu ihr gekommen, um sie zu pflegen und hatte ihr, wie die Nixe es gewünscht hatte, ihr Wort gegeben, niemals davon zu erzählen. Sie hatte es gehalten. Sie hatte diese Geschichte wirklich niemandem erzählt.

Sie hatten sich gegenseitig übereinander ausgefragt, was mehr schlecht als recht gegangen war. Die Nixe sprach Ilderin nur bruchstückhaft. Ushenka selbst war nicht sehr sprachtalentiert. Obwohl Minzter als Stadt der Sprachen galt.

Die Nixe hatte sich in besagter Bucht versteckt, die Ushenka seitdem bei jedem längeren Spaziergang besuchte, um zu schauen, ob sie vielleicht wieder da wäre. Was nie passierte, aber dafür hatte sie dann dort Marah gefunden. Ein etwa elfjähriges Kind. Allein mit einem Segelboot, das einen Sturmschaden hatte und dadurch segeluntauglich war.

Als Ushenka Marah nach ihren Eltern gefragt hatte, hatte Marah geantwortet: “Wahrscheinlich tot.” Und hatte dann hinzugefügt: “Das eine. Das andere habe ich nicht gekannt.” Marah sprach einwandfreies Ilderin.

Ushenka hatte sich damals über so vieles gewundert. Zuallererst darüber, dass ein elfjähriges Kind vielleicht nicht so abgeklärt sein sollte. Es hörte bei der trockenen Feststellung über den Tod des Elternteils nicht auf. Marah wusste auch genau, welches Flickzeug sie brauchte, dass sie um nichts in der Welt zu ihrer Restverwandtschaft in den Norden, sondern zu einer Organisation weit in den Süden wollte, und dass sie die Welt verändern würde. Ushenka hatte sich darüber gewundert, dass Marah von ihren Eltern wie über eine Sache gesprochen hatte, aber hatte später gelernt, dass das gar nicht der Fall war. Marah hatte ihnen lediglich kein Geschlecht zugewiesen und benutzte für sie beide als Bezeichnung ‘das Elter’.

Und auch, dass Marah besonders abgeklärt gewesen wäre, stellte sich im Nachhinein als falsch heraus, aber für die Erkenntnis hatte Ushenka länger gebraucht.

Ushenka besuchte Marah oft, brachte ihr das Flickzeug und Vorräte. Dann war Marah mutig genug, Ushenka zu erzählen, dass ihr anderes Elter ein Lobbud in Minzter war, und ob sie es ausfindig machen könnte.

Das war keine leichte Sache, wenn Auflage war, dass Ushenka möglichst nichts über Nixen Preis geben sollte. Ihre Strategie war gewesen, in Gegenwart der wenigen Lobbuds, die sie in Minzter fand, in Schenken, Kneipen, Restaurants, beim Spazieren, falsche Geschichten über Nixen zu streuen. Alle kannten irgendwelche Sagen oder Geschichten über Nixen. Ushenka wurde viel korrigiert, aber nur selten gewannen die Geschichten dadurch an Wahrheitsgehalt. Ihre Hoffnung war gewesen, dass ein Lobbud, der mit einer Nixe ein Kind bekommen hätte, einiges wissen würde und sie vielleicht auffällig richtig korrigieren würde. Eine vage Hoffnung. Gegeben, dass sich besagter Lobbud dann auch einfach nicht einmischen könnte, oder Marahs Elter eine zurückgezogene Person sein könnte.

Marahs Elter war kein zurückgezogener Lobbud. Sie erkannte ihn daran, dass er die Geschichten ins noch unermesslichere verfälschte, aber auf eine Art, in der sie sich irgendwie durch viel kaum verständlichen Subtext näher kamen. Sie sprachen hinterher privat, brauchten eine Weile, bis sie sich gegenseitig ausreichend vertrauten. Aber das Ergebnis brach Ushenka stellvertretend für Marah das Herz: Marahs Elter wollte Marah nicht kennenlernen, wollte sich nicht kümmern. Es meinte, die politische Sache, für die sich Marahs Nixen-Elter eingesetzt hätte, wäre eigentlich eine sinnvolle, aber auch lebensgefährlich. Und es habe seinen Anteil daran nun geleistet, würde gern diese Gelegenheit nutzen, um auszusteigen. Später im Gespräch, als sich herausstellte, dass ihm sein Vorsatz, sich rauszuziehen, doch eigentlich schwerfiel, so informiert, wie es war, fast unmöglich erschien, gab es zu, dass es noch einen wichtigeren Grund hatte: Es fühlte sich zu Kindern erotisch hingezogen und mied deshalb den Kontakt zu Kindern so vollständig, wie es eben ging.

Marahs Eltern hatten sich geliebt. Zumindest behauptete der Lobbud das. Er hatte Marah selbst nie gesehen. Und meinte, es wäre für ihn und das Kind besser, wenn das so bliebe.

Und so war es gekommen, dass Ushenka nicht nur ein Kind betreut hatte, sondern auch in diese ganze Grenlannd-Politik verwickelt worden war. Das war eine aufregende und sehr anstrengende Zeit gewesen.

Sie hatte sich gefragt, ob es für das Kind eine leichtere Botschaft gewesen wäre, wenn auch ihr anderes Elter verstorben wäre. Aber Ushenka wollte ehrlich mit dem Kind sein. Es waren schreckliche Nachrichten, aber es wäre nicht in Ordnung gewesen, das Kind zu belügen. Auch auf diese Nachricht hatte Marah abgeklärt reagiert, als wäre sie fünfzig und halbwegs abgestumpft. Aber wenn Ushenka sich der Bucht näherte und Marah noch nicht wusste, dass sie gleich da wäre, hörte Ushenka das Kind oft weinen.

Es stellte sich heraus, dass Marah eigentlich große Angst vor Elben hatte, und das Vertrauen langsam und behutsam aufgebaut werden musste. Und als es da war, entwickelten sie Pläne, wie sie gemeinsam nach Grenlannd reisen könnten. Marah hätte es vielleicht nie vorgeschlagen, wenn es Ushenka darum gegangen wäre, dort hinzugelangen. Aber Ushenka hatte eben nur eines im Sinn gehabt: Für Marah da zu sein, dieses Kind nicht bei dem Vorhaben allein zu lassen, den Ozean zu überqueren.

Finanziert wurde die kleine Yacht, mit der sie dorthin segelten, von ihrem heutigen Mann, Arym. Sie hatte damals mit so vielen Leuten möglichst unauffällig gesprochen, um Marah den Wunsch zu erfüllen, über eineinhalb Jahre hinweg, bis sie diesen Mann kennen gelernt hatte, ebenfalls ein Lobbud, der ein uneigennütziges Interesse und etwas Geld übrig hatte, das Vorhaben zu unterstützen. Marah hatte darauf bestanden, ihn auch kennen zu lernen, um selbst herauszufinden, ob sie ihm genug vertraute.

Die Überfahrt war Ushenkas bisher größtes Abenteuer gewesen. Marah kannte sich mit Segeln aus, aber es war keine für Nixen typische, gebrauchte Segelyacht gewesen, die sie in desolatem Zustand erworben und dann aufgerüstet und repariert hatten. Ushenka hatte zusammen mit Arym so viel über Seefahrt und Segeln gelernt, wie das für Laien eben in kurzer Zeit möglich war. Schließlich hatten sie testweise drei Segeltörns zu dritt gemacht, jeweils über ein paar Tage, bevor Ushenka mit Marah dann die Überfahrt gewagt hatte. Niemand an Land wusste Bescheid darüber, wo es langgehen sollte, außer Arym. Das hatte Marah immer wieder verlangt. Sonst, so wusste Ushenka nun, wären sie vielleicht nicht in Grenlannd angekommen. Obwohl: Damals war das Informationssystem noch nicht so gut gewesen. Ushenka war vielleicht heute die Person, die die meiste Information sammelte und weitergab.

Sie war damals ein knappes halbes Jahr bei den Nixen vor Grenlannd geblieben, die versuchten, die Erforschung des Kontinents Grenlannd durch andere Völker zu verhindern. Sie erklärten sehr genau, warum. Und wie wichtig es ihnen war. Sie hatten eigentlich nie vorgehabt, die Landvölker zu schädigen oder sich allzu sehr einzumischen. Aber sie hatten bereits zwei Forschungsschiffe versenkt. Die erste Nixe, die sie in der Bucht gefunden hatte, die sie nun hier wieder traf, war bei dem einen der Vorfälle verletzt worden, und Marahs Elter beim anderen ums Leben gekommen. Dass es nicht mehr lebte, schien nun außer Zweifel, sonst hätte es sich wohl in Grenlannd in der Werft, die Marah angepeilt hatte, eingefunden.

Ushenka hätte damit gerechnet, Marah hier in die Hände einer oder mehrerer Nixen abzugeben, die sich dann um das Kind kümmern würden, aber das war nicht der Fall. Stattdessen schmiedeten sie Pläne, wie Ushenka eine gut einsetzbare Informantin werden könnte. Über Arym hatte Ushenka Verbindung zur Universität, die in die Genehmigung von Forschungsreisen verwickelt werden würde. Da Segeln ihrer beider gemeinsame Freizeitaktivität war, konnten sie im Hafen unauffällig tratschen. Es war diese Zeit, in der Ushenka ihre Kindheitsträume, irgendwann als Mann verkleidet irgendwelche Arbeiten auszuführen, die sonst eher nur Männer ausführten, anfing, für realistisch zu halten.

Die Nixen versuchten, Überfälle auf die Forschungsschiffe schon frühzeitiger zu planen, schon bevor sie in die Nähe des Kontinents kommen würden. Und sie wollten die Überfälle für beide Seiten weniger lebensgefährdend gestalten. Damals hatte noch völlig in den Sternen gestanden, wie das gehen sollte. Glücklicherweise waren damals auch die Versuche noch weniger gewesen.

Sie kehrte zusammen mit Marah von Grenlannd über lange Strecken begleitet von einem kleineren Nixenschiff zurück, das mit extra kleiner Segelfläche fuhr, um Marah und ihr nicht davonzufahren – denn Nixenschiffe waren unsagbar viel schneller, als alles, was Landsvolk baute –, und stürzte sich in ein Leben, das sie sich in ihren kühnsten Kinderträumen erträumt hatte: Sie führte ein Doppel- oder Dreifachleben, sammelte Informationen, schickte Briefe an Nixen und veränderte die Welt. Und sie betreute ein Kind: Marah. Es war nicht einfach, eine Nixe versteckt zu betreuen. Eine Badewanne eignete sich dafür jedenfalls nicht. Marah pendelte mit ihrem kleinen Segelboot, nun, da Briefverkehr hergestellt war, gelegentlich mit Ladungen an Reparaturzeug, Proviant oder sonst etwas zu den Schiffen der Nixen, blieb manchmal ein paar Tage an Bord und kam dann wieder. Ushenka und sie saßen viele Abende zusammen in der kleinen Bucht. Ushenka kümmerte sich um Marahs Bildung selbst, speiste mit ihr, hörte zu und erfand mit ihr Geschichten. Ob das alles wirklich kindgerecht gewesen war, bezweifelte Ushenka. Aber manchmal war es schwer, in einer schlimmen Welt oder unter schlimmen Voraussetzungen die Dinge so zu gestalten, dass sie gut waren. Manchmal mussten es die besten Kompromisse sein, auch wenn diese immer noch schlimm waren.

Zwanzig Jahre waren seit dem vergangen. Inzwischen hatte die kleine Gruppe von Nixen von damals sich ganz schön vergrößert und machte mit der Flotte der Maare die See für Forschungsschiffe unsicher. Nun, nicht furchtbar unsicher. Aber das wussten die Forschungsgruppen zum großen Teil nicht. Ushenka selbst war für viele der Horrorgeschichten verantwortlich, die über die Flotte der Maare in Umlauf waren. Als Hafenmeister tratsche sie natürlich gern, erzählte davon, was irgendwelche Fischerleute angeblich gesehen hätten. Und sie lauschte dabei darauf, was sie tatsächlich sahen. Mehr als das, sie konnte sehr genaue Maße der Schiffe unauffällig in Erfahrung bringen. Die Flotte der Maare wusste so über Material, Besatzung, Ladung und geplante Routen Bescheid.

Marah wohnte nicht mehr in der Bucht. Sie hatte auf der Schattenmuräne angeheuert. Und sie hatte sich in die Kapitänin verliebt. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Nicht, weil Ushenka irgendetwas dagegen einzuwenden gehabt hätte. Sondern weil Marah nun ihr eigenes Leben aufbaute, und sie eine weniger zentrale Rolle darin spielte. Die Veränderung beschäftigte sie, aber sie war natürlich auch gut. Die meisten Kinder zogen eben irgendwann aus.

Marah brachte immer noch kleinere Ladungen von hier zu den Schiffen oder transportierte sie zwischen den Schiffen hin und her. Ushenka vermisste sie viel. Sie schrieben sich allerdings Briefe. Und manchmal trafen sie sich dann doch wieder in der Bucht.

Ushenka stellte das Hafenbuch zurück ins Regal, verließ das Hafenhäuschen und schloss die Tür ab. Für heute war alles getan. Die Bücher waren so geführt, wie sie sollten, verrieten nichts darüber, dass der Hafenmeister die Stelle aus einem bestimmten Grund angetreten war. Die Wanten der Schiffe pfiffen im Wind und die Fallen schlugen gegen die Masten. Es klingelte und schwappte immer irgendetwas im Hafen. Ushenka mochte das Geräusch. Es klang nach Reisen. Sie wollte vielleicht auch doch irgendwann mal wieder reisen. Als sie den Weg nach Hause einschlug, bettelte da wieder dieses Kind. Sie hatte ihm in der vergangenen Woche jeden Tag etwas zugesteckt. Aber dieses Mal reichte Ushenka das nicht. Vielleicht, weil sie heute so viel an Marah hatte denken müssen.

Sie hockte sich neben das Kind. “Hast du Eltern?”, fragte sie.