Ushenka hat Marah großgezogen und ist Informantin der Flotte der Maare in der Minzter.

Content Notes:

Mord, Blut, etwas Gore, Schock, Trauer, Kinderleid, Transfeindlichkeit, Sexismus, Gatekeeping.


Unglück

Ushenka

Ushenka schlotterte und konnte nicht so genau ausmachen, aus welchem Grund. Da war der offensichtliche: Es war kalt, stürmte und schüttete. Sie war dem Wetter schutzlos ausgeliefert gewesen, als sie sich zur Bucht aufgemacht hatte, in der sie damals Marah gefunden hatte. Immerhin trug sie ihre Tracht des Hafenmeisters, die wenigstens etwas wasserbeständiger war, als die Kleider, die sie für andere ihrer Rollen trug, als sie realisiert hatte, dass sie wegmusste.

Sie hatte sich zwischendurch ausgezogen, ihre Kleidung ausgewrungen und versucht, sie unter der Überdachung der kleinen Höhle zu trocknen, aber sie hatte sie klamm wieder anziehen müssen. Nun saß sie hier seit zwei Tagen fest.

Sie schlotterte auch, weil sie trauerte und unter Schock stand. Nichts ahnend war sie vom Hafen nach Hause gegangen. Nun, nicht nichts. Dass Nachrichten von der Schattenscholle und der Schattenmuräne ausgeblieben waren, war sicher ein Vorbote für irgendetwas gewesen. Aber damit, ihren Mann ermordet auf der Straße unter ihrer Wohnung vorzufinden, hatte sie nicht gerechnet. Das Bild schmerzte und ließ Blut durch ihr Gehirn rauschen, wenn sie nur daran dachte. Viel zu viel Blut. In ihrem Gehirn, und auf der Straße und nicht mehr in ihm. Und dann war da ihr Flederkind aufgetaucht. “Du musst hier weg.”, hatte es ihr zugeflüstert, ohne sie anzusehen, als hätte es nicht mit ihr reden wollen. “Sie sind auch hinter dir her.”

“In Ordnung. Komm mit, ich passe auf dich auf.”, hatte sie bloß geantwortet. Aber das Kind war nicht mitgekommen. Es hatte erst so getan, aber war dann – für Ushenka ersichtlich, die durch schlechtes Schauspiel brauchbar hindurchsehen konnte – absichtlich in der Menge der Schaulustigen verschwunden, die die Leiche ihres Mannes begafften. Und heulten. Bei Ushenka war das Heulen erst später gekommen.

Ohne das Anliegen des Kindes wäre sie wahrscheinlich nicht hier. Sie hatte in der Situation den Schutz des Kindes über irgendeinen Drang gestellt, in der Wohnung nachzuschauen, was los gewesen wäre, der der Information des Kindes zum Trotz, dass jemand hinter ihr her wäre. Aber sie hatte nicht gewollt, dass dem Kind etwas zustieße. Also hatte sie sich entfernt, und als sie schon mal den Entschluss gefasst hatte, hatte sie ihn beibehalten, obwohl das Kind so zügig verschwunden war.

Sie hatte es bei sich aufgenommen. Es hatte nie verraten, wie es hieß, also hatten sie sich auf Flederkind geeinigt. Natürlich hatte Ushenka zugesehen, dass das Flederkind und ihr Mann nie zeitgleich zu Hause waren. Aber wenn er mit seinen Studien an der Universität beschäftigt gewesen war, hatte sie mit dem Kind gekocht, Geschichten erzählt, das wissbegierige Kind unterrichtet und sie hatten gekuschelt. Es hätte so schön sein können. Und nun zerriss die Sorge und Angst um das Kind sie so sehr, dass sie nicht mehr atmen konnte, wenn sie daran dachte, wie die kleinen, nackten Füße durch das Blut ihres Mannes gepatscht waren und kleine rote Abdrücke hinterlassen hatten. Für diejenigen, die diesen Mord verübt hatten, wäre es vielleicht ein Leichtes gewesen, dem Kind zu folgen. Oder auch nicht. Sie wusste es nicht.

Nun, nach zwei Tagen des Wartens, machte sich Ushenka allmählich auch Gedanken um Marah. Vorher hatte bereits eine untergründige Unruhe in ihr gebohrt, wie eigentlich immer, aber nun sorgte sie sich bewusst. Gesetzt, die Briefe erreichten die Schattenmuräne noch, hätte sie allmählich hier sein können. Dass die Briefe die Schattenmuräne erreichten, hatte Ushenka zu hoffen gewagt, weil die Briefwelse mit gelöschtem Papier zurückgekehrt waren. Es gab also noch Personen, die die Briefe entnehmen konnten, welche, die wussten, wie die Tinte gelöscht werden konnte oder Zugang zu recht viel dieser Art Papier hatten. Es war auch sonst schon mal vorgekommen, dass es einfach nichts zu berichten gegeben hatte, zumindest nichts, was Ushenka nicht ohnehin mitbekommen hätte, weil sie von zurückkehrenden Forschungsschiffen und den erfolgreich sabotierten Plänen eben auch so erfuhr. Aber keine Nachrichten von der Schattenmuräne und Schattenscholle zugleich, das war selten. Wobei der Briefwechsel mit der Schattenscholle langsamer verlief. Briefe von dort brauchten natürlich länger. Und die Person, die hauptverantwortlich für Informationen bezüglich Forschung im süd-ost-maerdhischen Meer war, saß im Zarenreich.

Ushenka war dennoch eine wesentliche Informationsquelle, die jetzt wegfiel. Das war alles nicht gut. Trotzdem machte sie sich darüber weniger Gedanken als über ihren Mann, oder ihr Flederkind, oder Marah.

Irgendwo untergründig spürte sie allmählich auch eine gewisse Angst um sich selbst. Vielleicht sollte sie doch zurück zum Hafen gehen, in der Hoffnung, dort trockene Kleidung zu finden, ohne umgebracht zu werden. Aber was, wenn in der Zeit Marah endlich käme? Und wie sollte sie heimlich trockene Kleidung aus Minzter heraustragen, wenn nicht am Körper, wo sie bei dem Dauerregen sofort wieder durchweichen würden?

Ushenkas Gedanken gingen in ein Wirrsal über, das genauso zu schlottern versuchte, wie ihr Körper. Ihr Geist und Körper holten sich den Schlaf, den sie über die ganze Zeit zu vermeiden versucht hatte, damit sie nicht ausversehen erfröre. Oder damit nicht, während sie schliefe, doch noch irgendetwas Schlimmes passierte.


Sie wachte vom Knistern eines Feuers auf, das versuchte, warm zu sein, aber dafür eigentlich viel zu klein war. Sie war trotzdem dankbar darum. Sie richtete sich mühsam auf und blickte in Marahs ernstes Gesicht.

“Zieh dich aus.”, sagte sie. “Wir räuchern jetzt dich und deine Kleidung.”

Ushenka warf einen Blick ins Feuer. “Dein Ersatzpaddel wird nicht lange brennen.”

“Das nicht, aber nun bist du wach und ich kann Nachschub holen.”, erwiderte Marah. “Irgendeine Gegend, die ich meiden sollte, außer Minzter?” Dass sie Minzter meiden sollte, hatte Ushenka im Brief geschrieben.

Ushenka schüttelte den Kopf. “Bleib noch ein bisschen.”, bat sie. “Bitte?”

Marah blickte sie einige Momente an. “Gut, dich zu sehen.”, sagte sie.

Ushenka blieben die Worte im Hals stecken, die sie hatte erwidern wollen, als ihr Kind sich lang streckte und ihren Arm in beide seiner Arme nahm. Sie wollte Marah zurückumarmen, aber die Nixe hatte sich schon wieder weggebeugt.

“Ist das genug bisschen?”, fragte sie.

Ushenka blickte sich um und entdeckte einige Meter neben dem Feuer Marahs Bordlaterne. Marah war nur mäßig ausgerüstet gewesen, ein Feuer zu machen, schloss Ushenka, und hatte mit dem Zündmechanismus der Lampe experimentiert, wahrscheinlich große Teile des Brennmaterials verwendet, um das schwer brennbare Paddel anzuzünden. Es war nicht klar, ob Marah es noch einmal hinbekommen würde, wenn das Paddel ausgebrannt hatte. Es roch nicht gerade nach Material, das zum Verbrennen gedacht war.

Ushenka nickte. “Ich ziehe mich aus.”, sagte sie. “Ich würde so unsinnige Dinge sagen, wie: Beeil dich! Oder: Pass auf dich auf! Aber das würde dich nerven, oder?”

Marah grinste. “Ich beeile mich und passe auf mich auf.” Und weg war sie. Bewegte sich geschickt robbend den kleinen Hang hinunter, und mit der Verschmelzung ihres kleinen Körpers mit dem Wasser war sie nicht mehr zu sehen.


Einige Stunden später lag Ushenka im Rumpf der kleinen Jolle. Es war gut gewesen, dass ihr Körper einmal durchgewärmt worden war. Marah hatte darauf geachtet, abzuwarten, obwohl sie es beide eilig hatten, bis Ushenka kein Schütteln mehr durchfuhr, oder zumindest Grund dafür nicht mehr die Kälte war. Dann hatte sie Ushenka in die kippelige Jolle gelotst und es irgendwie geschafft, beim Ablegen nicht zu kentern, indem sie, noch bevor sie sich selbst ins Boot schwang, die Segel dichtgeholt und mit Wind gefüllt hatte.

Ushenkas letzte Reisen auf dem Meer waren gemütlicher gewesen, aber darum ging es nicht. Sie lag auf engem Raum, der für ihren großen, alles andere als schmalen Körper nicht gemacht war, hatte quasi keine Bewegungsfreiheit. Trotzdem musste sie sich regelmäßig umdrehen, weil ihr ihre Gliedmaßen einschliefen, und musste für jedes Mal Marah Bescheid geben, damit diese mit ihrem Gewicht Ushenkas Bewegungen ausgleichen konnte. Aber besser nur halb erfroren im Rumpf einer zu kleinen Jolle, als irgendwo in Minzter tot.

Ziel war die Schattenmuräne. Marah hatte erzählt, dass sie dabei war, eine weitere Crew an Bord zu nehmen, und sie ihnen anschließend wieder entgegenkommen würde. Der Kurs der Schattenmuräne führte dazu, dass sie eher zwei als nur einen Tag unterwegs sein würden. Obwohl die Jolle über das Wasser fegte, als wäre sie der Wind selbst. Ushenka versuchte zu schlafen, aber Marah weckte sie in regelmäßigen Abständen auf. Das war abgesprochen. Es war nicht zu vermeiden, dass Wasser an Bord kam. Es brauchte nicht lange, da war die Wirkung des Feuers aufgebraucht. Oder brauchte es lange? Ushenka hatte kein Zeitgefühl. Marah wollte sichergehen, ob sie noch lebte und nicht heimlich erfror.

Obwohl sie kaum miteinander kommunizierten, merkte Ushenka, dass Marah zunehmend gereizt war. Vielleicht redeten sie auch genau deshalb so wenig miteinander. Sie konnte es verstehen. Marah hatte vermutlich etwa drei oder vier Tagen fast keinen Schlaf gehabt. Auf dem Weg zu ihr hatte sie wohl noch kurz geschlafen, aber mit ihr an Bord ging das nicht. Ushenka wünschte sich so sehr, etwas daran ändern zu können. Es sollte nicht ihr Kind sein, das sie rettete, sie hätte in der Position des Rettens sein sollen.

Als endlich die Schattenmuräne in Sicht kam, wussten wohl auch die anderen an Bord, was los sein musste. Ushenka hatte den Anblick von Nixen, die sich bewegten, als wären sie zu Hause, vermisst: Sie erblickte, wie eine mit dieser wunderschönen Körperspannung von Bord sprang, unter Wasser verschwand, ohne erheblich zu spritzen, und nur wenige Momente später ein Kopf neben ihnen auftauchte. Marah fierte die Segel, sodass die Nixe mithalten konnte.

“Wenn du magst, halte ich das Boot, während du nur noch das Segel einholst, und ich kümmere mich um den Rest.”, sagte sie.

Marah blickte sich kurz um, nahm aber eigentlich nichts so genau in Augenschein. Sie nickte. “Vorn am Bug lässt es sich am besten am Kentern hindern.”

Obwohl Kentern nicht unbedingt ein gefährliches Manöver bei einer Jolle war, graute es Ushenka davor schon beim darüber Nachdenken. Ihr war so kalt, dass sie das Gefühl hatte, ein unfreiwilliges Bad im Ozean würde ihre Restenergie vollends entziehen.

Die andere Nixe folgte Marahs Anweisungen. Es kippelte wieder sehr, als Marah das Segel herabließ. Es landete zunächst auf Ushenkas Körper. Marah rollte es noch ein und platzierte es anschließend neben Ushenka. “Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir bleiben kann.”, sagte sie. Dann platzte es erschöpft aus ihr heraus: “Ich kann nicht mehr.”

“Erhol dich gut. Wir sehen uns noch lang genug in nächster Zeit, hoffe ich.”, beruhigte Ushenka sie.

Marah wirkte unendlich müde. Sie nickte und ließ sich rücklings ins Wasser fallen. Der letzte Ausdruck in ihrem Gesicht war einer, der endlich etwas entspannter wirkte.

“Ich bin Kamira.”, informierte sie die andere Nixe. “Pronomen er/sein/ihm/ihn, aber sehr wichtig ist mir das auch nicht. Wichtiger: Dass du mich niemals deswegen als männlich bezeichnest.”

Ushenka nickte. Das Vorstellungsritual kannte sie noch. “Ushenka. Sie.”, sagte sie. Und dann konnte sie nicht lassen, ihre Lieblingsbezeichnung hinzuzufügen: “Hafenmeisterin.”

Kamira lächelte. “Ich bin zuständig für gesundheitliche Vorfälle aller Art an Bord, also auch die psychologischer Natur, und helfe bei Konflikten.”, sagte er. “Mit Jollen kenne ich mich allerdings eigentlich nicht aus. Aber das schaffen wir schon. Sie muss ja nur an Bord. Und irgendwann kleingebastelt werden, aber das hat Zeit.” Er tauchte unter der Jolle hindurch, versuchte, sie bei dem Manöver stabil zu halten, was einigermaßen funktionierte, und schob sie dann am Heck über die letzte Distanz Richtung Schattenmuräne. “Wir werden sie gleich vorn und hinten an Seilen hochziehen. Deine Aufgabe wird sein, sie von der Bordwand abzuhalten, damit die Jolle nicht zu sehr gegen diese schlägt.”


Ushenka atmete auf, als sie endlich wieder an Bord war. Nach einem längeren Bad und nun wieder in einigen Lagen trockener Kleidung war ihr angenehm warm. Auch eine Lage Nixenkleidung war dabei. Kamira hatte etwa ihre Körperfülle. Die meisten an Bord waren schmaler gebaut oder viel kleiner. Die Kleidung der Kapitänin war dagegen zu lang, aber das störte sie für die dritte Schicht gerade weniger.

Ushenka kannte die meisten Personen an Bord nicht, nur aus Briefen. Einige erkannte sie von Marahs Beschreibungen. Es herrschte gedrückte Stimmung. Marah hatte es ja schon erzählt, dass vier Crewmitglieder der Flotte einen Anschlag nicht überlebt hatten, oder zumindest wahrscheinlich nicht. Über drei Personen wussten sie es sicher, aber die Hoffnungen, dass die vierte noch lebte, waren gering.

An Deck hielten sich zurzeit nur wenige Personen auf. Ein Pärchen stand an der Reling und hatte sich in den Armen. Ushenka mochte nicht stören. Aber überraschender Weise entdeckte sie Rash dabei, wie Rash eine Ziege fütterte. Eine Ziege!

Rash hatte ganz am Anfang des Projekts angeheuert und war über Minzter an Bord gekommen. Dazu hatte Rash ein paar Nächte bei Ushenka übernachtet. Ushenka trat auf Rash zu. “Erinnerst du dich noch?”

Rash nickte und richtete sich auf. “Hattest du schon eine Umarmung?”

“Nein.” Ushenka schüttelte den Kopf. “Ich kann nicht leugnen, eine gebrauchen zu können, aber du magst das eigentlich nicht so, oder?”

“Ist schon in Ordnung.”, sagte Rash. “Manchmal schon. Komm her!”

Ushenka ließ sich umarmen. Sie hätte damit gerechnet, dass ihr wieder Tränen kommen würden. Aber das passierte nicht. Stattdessen fühlte sie Wut, die sie versuchte, wegzuschieben. “Danke.”


Später setzten sie sich auf eine Bordkiste für Seile und unterhielten sich stockend. Es fiel Ushenka schwer, eine gemeinsame Basis zu finden. Sie konnte Rash nicht so recht greifen. “Was hat sich geändert, dass du nun Umarmungen magst?”, fragte sie.

“Es hat sich nicht grundsätzlich etwas geändert.”, antwortete Rash matt.

Nichts, was Ushenkas Frage befriedigend beantwortet hätte. Und Rash sprach auch nicht von sich aus weiter. Es war immer Ushenka, die das Gespräch am Laufen hielt.

Vielleicht war es Rashs Art mit der Trauer umzugehen, so einsiblig zu sein.

“Du umarmst also nur, weil dir kalt ist! Das ist es!”, scherzte Ushenka.

Das trieb Rash ein Lächeln aufs Gesicht und sogar um die Augen ein paar Lachfältchen. Es hielt nur einen kurzen Moment. Und dazu hatte Rash Ushenka nicht einmal angesehen.

Ushenka wollte es noch einmal auslösen. Sie wünschte sich, dass es vielleicht eine Weile in Rashs Gesicht bleiben möge. Sie sagte: “Da ist man als Frau, oder wenn man irgendwie in eine ähnliche Kategorie fällt, benachteiligt.” Sie bereute ihre Worte sofort, nicht, weil es grundsätzlich falsch wäre, sondern weil es ein Thema war, mit dem sie sich zu wenig auskannte. “Entschuldige, ich wollte dich auf keinen Fall als Frau bezeichnen. Es ging mir nur um die Hormone.”

Rash seufzte. “Schon gut. Ich verstehe, was du meinst.”

“Wir sind ja eben doch benachteiligter als Männer.”, fügte Ushenka erklärend hinzu. Sie hoffte, dass es sich für Rash gut anfühlen würde, wie sie das sagte, weil sie damit Rashs Geschlecht abseits von Männlichkeit anerkannte. Zu oft wurde nur in den Kategorien Männern und Frauen gedacht und Personen wie Rash bei Geschlechterungerechtigkeiten nicht berücksichtigt. Aber Ushenka fühlte sich wie auf brüchigem Eis.

Rash reagierte überhaupt nicht. Eine ganze Weile nicht. Nicht einmal die Mimik regte sich, als wäre Rash einfach alles egal.

Zu allem Überdruss fing Ushenka passend zum Thema mit der kalten Böe, die über das Deck wehte, wieder an zu frösteln. “Nimmst du eigentlich noch Hormone? Ist die Frage zu persönlich?”, erkundigte sie sich.

“Es gibt einen Engpass für eine Zutat, die Kamira für die Salbe braucht.” Rashs Stimme war leise geworden. “Ich möchte nicht über mich reden.”

Ushenka nickte. “Natürlich nicht. Es tut mir leid.” Sie hatte keinen guten Gesprächsbogen eingeschlagen. Der Drang, Rash zum Lächeln zu bringen, wuchs in ihr nur umso mehr, jetzt wo sie Rash selbst an Unangenehmes erinnert hatte. “Ich würde dir ja anbieten, dich in den Arm zu nehmen. Wäre das okay?”

“Ich möchte nicht.” Rashs Blick war in die Ferne gerichtet, aufs Meer. Das Resttageslicht glitzerte auf den Wellen und in Rashs dunklen Augen. Die Ziege, die Rash bis gerade gekrault hatte, gab ein leises Geräusch von sich, wie um sich zu verabschieden, und wechselte den Ort.

Ushenka unterdrückte ein Seufzen. Ihr Blick fiel wieder auf die beiden Personen, die immer noch an der Reling standen und sich im Arm hielten. “Ashnekov und Janasz?”, fragte sie.

Rash nickte.

Ushenka schmunzelte plötzlich, als ihr ein Gedanke kam. Ein Scherz hatte Rash vorhin zum Lächeln gebracht, also versuchte sie es nochmal: “Sind das nicht Männer? Bringen Männer an Bord nicht Unglück?”

Rash blickte sie an, in einer Art und Weise, die sie nicht interpretieren konnte, aber sie hatte nun plötzlich Rashs volle Aufmerksamkeit. “Nicht sexistischen Scheiß einfach umdrehen, ja? Bist du dir überhaupt darüber im Klaren, über was für Männer du da sprichst?”

“Einem Mann, den viele nicht für einen halten, dem was anderes zugewiesen worden ist?”, fragte Ushenka. Das war dann wohl keine gute Idee gewesen. Sie hatte sich überlegt, dass es vielleicht besser wäre, Janasz zu behandeln, wie sie alle anderen Männer auch behandelte. Sie hatte Angst, dass ihre Reaktion irgendwie schmerzhaft war. Und auf der anderen Seite hatte sie umgekehrten Sexismus bisher eigentlich immer recht witzig gefunden, um mit der sexistischen Gewalt klarzukommen, die sie alltäglich erfuhr.

“Und?”, bohrte Rash nach.

Das irritierte sie umso mehr. “Einem zierlichen Mann?”, versuchte sie es. “Keine Ahnung, was willst du andeuten?”

“Einem zierlichen Mann, der Kind eines Elben und eines Zwergs ist, und der auf einem Auge blind ist.”, informierte sie Rash. Da war nun eindeutig Wut in der Stimme. “Du sprichst über zwei Männer, als täte es ihnen gut, mal zu sehen, wie es ist, nicht privilegiert zu sein, die aber von vornherein nie privilegiert waren. Auch bezüglich Sexismus nicht. Und das tut weh. Scher dich woandershin.”

Ushenka rührte sich einige Momente nicht vom Fleck. Aber Rash wirkte nicht, als würde Rash irgendetwas zurücknehmen wollen. Ushenka fielen ein Haufen Entschuldigungen ein, die sie aber alle, noch bevor sie ihren Weg über ihre Lippen fanden, wieder verwarf. Dass männliches Privileg ja immer noch da wäre, wenn anderes Privileg fehlte. Oder dass sie nur hatte einen Scherz machen wollen. Aber alles wirkte nicht richtig. Wahrscheinlich war es das auch einfach nicht.

Ushenka stand auf und nickte, wandte sich zum Gehen.

“Hey!”, rief Rash ihr nach.

Ushenka drehte sich noch einmal um.

“Es war echt scheiße, was du da gesagt hast.”, informierte Rash sie noch einmal. “Aber wenn du nicht selber drauf kommst und irgendwann ernsthaft wissen willst, was so schlimm daran war, dann darfst du mich in den nächsten Tagen darauf ansprechen.”

Ushenka wusste, was das für ein Angebot war. “Danke!”, sagte sie. Es war ein Angebot, das Rash vermutlich viel Kraft kosten würde. Sie würde vielleicht darauf zurückkommen, aber vielleicht auch besser zunächst mit Marah reden und solange Geschlechterthemen außen vor lassen.