Kamira ist an Bord für Konfliktmanagement, psychischen Beistand und Barrierabbau zuständig. Er hat am Anfang den Nixen-Anteil der Crew zusammengesetzt und Smjer gefragt, ob er das Vize-Kommando übernehmen würde.

Content Notes:

Gefangennahme, Speziesismus, Panik, Ertrinken - erwähnt.


Wenden

Kamira

Kamira hatte es gewusst.

Was in seinen Sitzungen besprochen wurde, blieb dort. Das versprach er, damit Personen über wirklich alles reden und sich dabei sicher fühlen konnten, und er hielt sich auch daran. Außer, es gefährdete Leben, psychische Gesundheit eingeschlossen. Auch das machte Kamira in ersten Sitzungen stets transparent.

Kanta hatte damals hin- und herüberlegt und sich ihm schließlich doch anvertraut. Erst, als sie auf dem Weg der Entscheidungsfindung damit gewesen war, ob sie aufhören oder weitermachen wollte. Sie hatten gemeinsam diskutiert, inwiefern Kantas Verhalten Leben riskiere und waren zum Schluss gekommen, dass es das tat, aber auf ganz andere Weise, als es sich nun herausgestellt hatte: Kamira hatte Kanta erklärt, was passieren würde, wenn Forschungsschiffe in Grenlannd ankommen würden. Sie hatten über die Forschungsmethoden der Elben geredet, die Kanta sehr gut kannte. Kanta hatte zugeben müssen, dass sie an Bord viel über Respekt gegenüber anderen Kreaturen als sich selbst gelernt hatte, und dass sie zuvor eine andere Grenze gezogen hätte, wen sie als Person bezeichnen würde, basierend auf ähnlicher Denkfähigkeit zu ihrer eigenen, oder ähnlichen Denkweisen, ähnlicher Kultur, – angefangen bei Nixen. Kamira hatte Kantas unterbewusste Abwertung anfangs und die Änderung in den Wochen, in denen sie an Bord war, durchaus bemerkt. Wäre Kamira nicht sehr gut gewesen, sich zu distanzieren, hätte er die ersten Sitzungen mit ihr kaum ausgehalten.

Auf der anderen Seite hielt sich Kanta selbst auch nicht für sonderlich viel wert. Vielleicht hatte dieser Kontext bei der Distanzierung etwas geholfen.

Kanta hatte dann mit ihm überlegt, warum sie trotzdem Nachrichten verschicken wollte. Was ihre Motive waren. Ein Motiv, das sich herausstellte, war ein Vermissen und eine Hoffnung, Kontakt zu einer ihr sehr lieben Person wieder aufzunehmen: Arwin. Aber Arwin hatte sich nie zurückgemeldet. Das konnte so viele Gründe haben: Dass die Forschungscrew, zu der Kanta gehört hatte, nun keine Gelder mehr bekam, um weitere Schiffe voraussichtlich ohne Erfolg loszuschicken, zum Beispiel.

Kanta hatte sich gefragt, ob sie mit dem Streuen unauffällig falscher Informationen nicht all ihre Interessen zugleich verfolgen konnte: Die Flotte der Maare schützen, Briefe an Arwin schicken und vielleicht dafür Sorge tragen, dass doch ihre Forschungscrew noch einmal finanziert würde. Das würde zwar auf der einen Seite bewirken, dass wieder ein Forschungsschiff losgeschickt würde, gegen das die Flotte der Maare vorgehen müsste, aber es wäre ein Routineangriff, während, wenn die besagte Crew die staatliche Unterstützung verlieren sollte, ja das Forschungsziel nicht aufgegeben würde, sondern stattdessen in andere Forschungsgruppen investiert würde, die die Maare noch nicht kannten. Im ersten Fall wäre es ein vergleichsweise sicherer Angriffsablauf für die Flotte der Maare, während Arwin ihr vielleicht wieder eine Nachricht schicken könnte.

Kamira war nicht glücklich damit, aber als betreuende Person ließ er andere auch einfach viel sie selbst sein, ihren eigenen Weg finden. Sie hatten sich gemeinsam Gedanken über weitere, mögliche Gefährdung gemacht. Kanta hatte ihm die Texte vorgestellt, die sie in Rashs Rückmeldungen an Ushenka einfließen lassen würde. Sie waren nicht lang. Eine gewisse Bewunderung hatte Kamira schon für die Methode übrig. Sie wären beide nicht auf die Idee gekommen, dass die Briefe mehr oder weniger indirekt zu Morden beitragen könnten, wie sie nun geschehen waren. Zumindest ältere Briefe hatten wahrscheinlich dazu beigetragen, die Kanta schon längst geschrieben hatte, bevor sie sich ihm anvertraut hatte. Trotzdem.

Kamira hatte es gewusst.

Und ein schlechtes Gewissen nagte an ihm, dass er falsch entschieden haben könnte. Dass das doch ein Fall gewesen sein könnte, in dem er hätte etwas aus den Sitzungen preisgeben sollen. Niemand hatte ihm einen direkten Vorwurf gemacht.

Kanta hatte bei ihrer Offenlegung an Deck für alle auch transparent gemacht, dass er davon gewusst hatte. Er verstand das. Ihr Gedanke war dabei gewesen, ihre Entwicklung und überhaupt alles endlich offen darlegen. Das Verhältnis in den Sitzungen war auch durchaus so angelegt, dass Personen, die zu ihm kamen, sich selbst entscheiden konnten, mit anderen über ihre Probleme auch zu reden. Das Schweigen galt für jene nicht, nur für ihn.

Aber Smjer hatte ihn in einer Art angesehen, die Kamira nicht gut hatte interpretieren können. Und der Teil in ihm, der sich fragte, ob seine Entscheidungen richtig gewesen wären und was Leute über ihn denken könnten, der in Kamira meistens relativ ruhig war, hatte sich verselbstständigt.

Manchmal wünschte Kamira sich, nicht die Person für Psycho-Hygiene zu sein. An Bord war nur für eine solche Person Platz und er hätte eine gebraucht. Lyria hatte die Rolle auf der Schattenscholle gehabt, aber Lyria war tot.

Er hätte gern wenigstens mit Marah Zeit verbracht. Eigentlich egal, was für Zeit. Marah hatte eine sehr eigene Art, zu sein, die ihn schon glücklich machte, wenn er sie dabei nur beobachtete. Aber Marah schlief schon wieder. Das war gut. Sie hatte nicht nur ihr wichtige Personen verloren und zunächst, statt dem Gefühl Raum zu geben, mehrere Nächte allein auf dem Wasser verbracht, sich um Personen gesorgt und einige gerettet, sondern hatte sich auf der langen Fahrt mit Ushenka den Rücken schlimm verbogen und war damit viel zu spät zu ihm gekommen. Erst nachdem sie damit einen halben Tag lang dann auch vor Schmerz kaum hatte schlafen können, obwohl sie so müde war. Nach der Trauerfeier hatte er sich dann um ihren Rücken gekümmert: Eine schlimme Verspannung, die sich mit Reiben, etwas gezielter Bewegung und Schmerzmittel behandeln ließ. Nun endlich schlief sie. Hoffentlich lange. Kamira freute sich trotzdem schon auf danach, sich selbst vielleicht etwas entlasten zu können.


Dazu kam es nicht. Kamira tauchte in einer geplanten Pause zwischen zwei Sitzungen ins Tauchdeck und stellte fest, dass der Briefwels von der Schattenscholle mit Post eingetroffen war. Einer der schnellsten Welse, denen Kamira je begegnet war, etwas scheu, kam weniger gern zum Kuscheln, aber hatte dafür umso größeren Appetit. Außerdem verbrachte er gern Zeit mit Kamira. Er hätte dem Wels seine Zeit gern gegönnt, hatte aber im Gefühl, dass es gerade Priorität hätte, den Brief der Kapitänin zu übergeben. Immerhin spielte Kamira auch viel mit dem Wels, wenn er ohne Post kam oder wenn er auf einen Brief der Schattenscholle wartete, um ihn zurückzubringen.

Der Brief enthielt Informationen über ein Forschungsschiff aus dem Zarenreich der Zwerge, das eilig versandt worden war, während die süd-ost-maerdhische See unbewacht gewesen war. Sie hatten halb damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte. Die verschollene Schattenscholle und das teilerfolgreiche Attentat des Assassinans auf selbiger waren sicher nicht unbemerkt an den Landvölkern vorbeigegangen. Sie hatten natürlich nicht wissen können, wie schnell die Flotte der Maare diesen Teil des Meeres mit neuen Schiffen abdecken könnte. Es gab trotzdem viel, was sie nicht voneinander wussten. Aber es war damit zu rechnen gewesen, dass die Zarin, die in ihrem Reich die Entscheidungen bezüglich Forschung fällte, probieren würde, genau jetzt an der Flotte der Maare vorbeizukommen.

Die Kontaktperson berichtete, dass das Schiff überstürzt mit Vorräten versehen und ohne viel Vorbereitung aufgebrochen war. Allerdings früh genug und auf östlicherer Route, sodass leicht hochzurechnen war, dass es den Bereich der See, wo die Schattencrew üblicherweise angriff, schon passiert hatte.

Der Trick war ja, die Vorräte so zu dezimieren, dass die Forschungsschiffe zwar noch mit nicht hungernder Crew die Rückfahrt überleben würden, aber keine Chance hätten, die ganze Hinfahrt zu überleben. Das könnte immer noch gegeben sein, wenn sie es rechtzeitig einholten und ausraubten, aber es war dieses Mal ein zeitkritischeres Rennen. Immerhin kannte die Kontaktperson die neu geplante Route, die von den üblichen, bisherigen abwich.

Entsprechend fiel Kamiras zweite Therapiesitzung aus. Sindra leitete Hochbetrieb ein, sie wendeten sofort, Kurse wurden diskutiert, Fahrt aufgenommen, die das untere Deck innerhalb kurzer Zeit leersog. Gelangte ein gut gebautes Schiff in eine Fahrt über Wasser, die sich Gleitfahrt nannte, so war es nicht notwendig, Wasser von Bord zu pumpen, es wurde durch die vom Schiff erzeugte Strömung hinausgesaugt. Nixen nutzten diese Technik schon lange bei kleinen Jollen, wie Marah eine hatte. Smjer war es gelungen, einen Schiffstyp zu entwickeln, der größer war und dasselbe konnte. Nicht zuletzt, weil sie sehr leichtes, dafür geeignetes Material verbaut hatten.

Gleitfahrt war bei diesem leichten Schiff allerdings eine Fahrtform, bei der sie sehr wachsam sein mussten. Im Gegensatz zu anderen Schiffen dieser Größe konnte die Schattenmuräne tatsächlich kentern. Es wäre dann nicht unmöglich gewesen, sie wieder aufzurichten und fahrtklar zu machen, aber kein einfaches Unterfangen.

Die Person, die sich am besten mit Wind auskannte und deshalb genau wusste, welche Segelstellung und Krängung welches Risiko barg, zu kentern, war Marah. Deshalb wurde sie doch geweckt.

Jentel wurde in den Mastkorb berufen, obwohl noch Tag war. As beschwerte sich nicht. Alle waren informiert, halfen oder warteten in Bereitschaft und hielten gefühlt den Atem an. Von der Trauerstimmung vom Vortag war nichts mehr übrig.


Es hätte kaum einen besseren Zeitpunkt geben können, als das gejagte Forschungsschiff endlich in Sicht kam.

“Wir fahren an ihnen vorbei!”, kommandierte Sindra. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Der alte Teil der Crew war eingespielt und wusste, was zu tun war. Sie würden vor dem Forschungsschiff die Fahrt verlangsamen, sodass ihr Abstand gleich bliebe, und dann auf die Weise ausrauben, die sie gewohnt waren.

Sindra blickte sich um und sprach kurz leise mit einer Person der alten Crew der Schattenscholle, bevor sie brüllend ergänzte: “Gebt ihnen Dampf!”

Das war ein Kommando für Kamira und Marah. Aber Jannam, eine Nixe der alten Crew der Schattenscholle, hielt ihn auf. “Ich hatte die Aufgabe auf der Schattenscholle. Wenn du magst, übernehme ich und du bereitest das Tauchboot vor.” Kamira wechselte mit Marah und Smjer einen Blick, bevor er sich einverstanden erklärte. Das würde alles etwas entspannen.

Kamira traf Janasz und Ashnekov unter Deck, die im langsam hineinströmenden Wasser standen und das Tauchboot hielten. Sie hatten die Klappe für die Ausfahrt ein Stück geöffnet. Kamira fühlte sich im fließenden Wasser sofort wohler.

“Die Schattenscholle hatte das Schiff schon einmal ausgeraubt.”, informierte Ashnekov.

“Das verwundert mich nicht.”, sagte Kamira. “Sie brauchten schnell ein Schiff. Natürlich nehmen sie dann eines, das samt Crew am besten schon zur Verfügung steht und alles schon einmal geplant hatte.”

“Gut für uns.”, sagte Janasz. Damit spielte er darauf an, dass sie kein neues Loch sägen mussten, sondern ein altes wieder benutzen konnten.

Kamira nickte und packte mit an. Als Jannam und Marah zurückkehrten, stand das Deck unter Wasser und die Luke war voll geöffnet. Myrken, ebenfalls von der alten Schollencrew, erschien im Niedergang und gab Sindras Befehl zum Angriff weiter, sowie eine Richtung. Das klappte alles viel zügiger als sonst mit der Crewergänzung. Kamira lächelte, als Janasz und Ashnekov im Bauch des kleinen Tauchboots verschwanden und Marah und er es gemeinsam hinausschoben.

Dunkelheit umgab sie. Und Kälte. Kamira schlug die Nickhaut nicht sofort auf, genoss die Dunkelheit noch einen Moment. Aber nicht zu lang.

Als er den Rumpf des Schiffs ausmachen konnte, tauschte er mit Marah einen Blick und ein Lächeln aus. Sie schwamm vor und suchte den Rumpf nach der getarnten Rille ab, die die Crew der Schattenscholle hinterlassen hatte. Es dauerte nicht lange. Die Beschreibung war gut und der letzte Überfall noch nicht so lange her. Sie befestigten das Tauchboot und zogen die Schleusen.

Und dann passierte nichts mehr, wie gewohnt. Von Innen drangen laute Stimmen, die sie außen nicht gut verstehen konnten. Marah und er blickten sich an. Sie fragte sich vielleicht genau wie er, was sie nun tun sollten. Es war wahrscheinlich, dass die Öffnung schon offen war. Sie hatten gleichzeitig den Reflex, kurz einen Blick hinein zu werfen, und hielten wieder inne, als sie sahen, wie die jeweils andere Person sich bewegte. “Du!”, beschloss Kamira auf Sirenu. Das Innere des Tauchboots war mit Sicherheit der gefährlichere Ort und Kamira hätte Marah lieber geschützter gewusst, statt sie vorzuschicken. Aber ihr Atemdrang war höher als seiner. So schlimme Dinge auch passieren mochten, falls sie gleich überstürzt wegmüssten, wäre besser, wenn sie noch einmal geatmet hätte.

Marah brauchte immerhin nicht lang und kam zu Kamiras Erleichterung wenig später wieder hervor. Auch, wenn es selbst das sich wie Ewigkeiten angefühlt hatte. “Abdocken.”, sagte sie und war schon dabei, die Dichtungen zu öffnen. Kamira folgte der Anweisung. Innen gab es Geschrei. Am kräftigen Wassersog erkannte Kamira, dass der Deckel nicht zuvor geschlossen worden war. Das war nicht gut. Es bedeutete so viele Dinge auf einmal, dass Kamira nicht gut fokussieren konnte. Er folgte weiter Marahs überzeugten Bewegungen. Große Blasen brachen zwischen dem sich abdockenden Tauchboot und dem Forschungsschiff hervor. Die Wassermassen, die in den Schiffsbauch strömten, spülten Personen, die dort gestanden hatten, mit sich von der Öffnung ins Schiffsinnere. Die Schleuse am Tauchboot, die Ashnekov einzusetzen versuchte, hielt große Mengen Wasser nicht ab, in selbiges zu fluten. Janasz hielt sich darin mit einem Arm fest, mit dem anderen hatte er Ashnekov umklammert. Das Tauchboot sank erst langsam, aber je mehr Wasser die Luft darin verdrängte, desto unaufhaltsamer beschleunigte es. Und Kamira war die einzige Person, die es davon abhalten konnte. Er kämpfte gegen den Sog des zu schweren Tauchboots in die Tiefe an, hielt es an den Griffen, und schaffte es schließlich, es so zu drehen, dass die Vorderseite oben war, vielleicht noch ein winziger Rest Luft darin gespeichert bliebe, der wegen der Bootsform und Ashnekovs Bemühungen nicht gleich entwichen war.

Wo aber war Marah?

Kamira tauchte das Tauchboot langsam und schwer kämpfend Stück für Stück nach oben, zurück zum Forschungsschiff, in der Hoffnung, Marah zu sehen. Aber Marah war verschwunden. Und das Loch im Schiff auch. Kamiras Körper durchströmte ein heißes Gefühl, das er kaum kontrollieren konnte. Panik? War das ein Moment, in dem sich seine Psyche entschied, nun wäre ein sinnvoller Moment, ihm Panik zu präsentieren?

Kamira schrie auf Sirenu. Nach Marah, und um Hilfe. Nach Marah hatte wenig Sinn. Er wusste es eigentlich: Marah war auf der anderen Seite des Lochs. Wahrscheinlich hatte Marah es selbst geschlossen. Kaum eine dieser Landskreaturen wäre in der Lage gewesen, so ein Loch gegen Strömung von hineinflutenden Wassermassen zu schließen. Ohne Marah wäre ihnen wahrscheinlich ihr Schiff abgesoffen. Landsvolk baute Schiffe nämlich zwar häufiger unkenterbar, aber dafür nicht unsinkbar. Löcher dieser Größe in Schiffen waren bei jener Bauart fatal. Marah wusste das. Es war wohl durchdacht und gut, wie sie entschieden hatte. Es war schrecklich. Nichts war gut. Aber das Fußvolk sollte nicht sterben. Und Marah hatte getan, was am meisten Schaden reduzierte.

Kamira kämpfte während dieser Gedanken immer noch gegen das Sinken des Tauchboots an. An Fortkommen war nicht zu denken. Die Luft war aufgebraucht, so oft hatte Kamira auf Sirenu um Hilfe geschrien. Aber auftauchen kam noch nicht infrage. Kamira schloss die Augen und hoffte, dass Ashnekov und Janasz da drin wirklich eine kleine Luftblase hatten, und dass schnell genug Hilfe von der Schattenmuräne eintreffen würde.