Kanta wurde von Jentel aus dem Wasser gefischt und ist seit dem an Bord. Sie befasst sich viel mit Sprachen.

Content Notes:

Töten - erwähnt, Betäubung, Hinrichtung als Thema.


Töten

Kanta

Smjer hatte recht gehabt, eigentlich. Sie hätte die besten Chancen gehabt, sich in der Situation herauszureden, in der Sindra nun steckte. Gut, es hatte auch eine realistische Chance gegeben, dass die Kapitänin mit der Jolle hätte entwischen können. Aber das hatte nicht geklappt. Die Person aus dem Zarenreich, die sie auf dem Laufenden hielt, hatte gerade eine kurze Nachricht zu ihnen gesandt, dass Sindra gefangen genommen worden war. Und als Kapitänin konnte Sindra nicht in die Rolle einer Spionin schlüpfen, die Kanta mal gewesen war, um so zu tun, als wäre sie eigentlich nicht auf Seiten der Flotte. Das war in ihrer Position einfach nicht drin, egal wie gut Sindra darstellen können mochte.

Sie saßen auf sanften, noch vom Sommer vertrockneten Grashügeln in Ufernähe, weit genug weg von Mizugrad um nicht so viel Aufsehen zu erregen. Hin und wieder spazierte eine Person vorbei. Janasz beobachtete sie, um sie im Zweifel mit Betäubungspfeilen lahm zu legen, falls sie sich als Schlimmeres als Passierende entlarven würden. Die Schattenmuräne als Tauchboot lag startbereit, getarnt als kleine ufernahe Insel, wie es hier einige gab. Sie lag auf Grund aber schaute oben aus dem Wasser, sodass sie hatten aussteigen können. Die Nixen lagen unterhalb des Grasüberhangs am Ufer, erschöpft, einige schliefen. Die Ziege graste. Sie hatten sie nicht angebunden, aber die Ziege dachte nicht daran, sich weit von ihnen zu entfernen.

Kanta machte sich erneut Gedanken um die Sache mit der Ziege. Es war das erste Mal, dass sie es konnte, ohne dass sie ein Grauen durchfuhr. Nun verstand sie es besser. Vielleicht zumindest.

Die Ziege hätte es nicht überlebt, wenn sie sie nicht mitgenommen hätten. Kanta dagegen hätte große Chancen gehabt zu überleben. Mit der Erklärung konnte Kanta leben. Aber sie fühlte, dass das nicht alles war. Smjer hatte es nicht so begründet, sondern damit, dass Aga niemandem etwas getan hätte. Kanta kämpfte jeden Tag gegen die Schuldgefühle an. Und dann gegen Trotzgefühle, die sie noch weniger wollte. Und doch empfand sie es seltsam, dass ihr Leben dem Leben einer Ziege untergeordnet werden könnte, weil sie diese Schuld trug.

Wahrscheinlich ging es auch darum nicht. Sondern schlicht darum, dass Smjer kein Leben höher wertete, als ein anderes, abhängig von der Gefühlsfähigkeit oder Denkfähigkeit einer Person.

Kanta grinste, als sie sich dabei erwischte, über Aga als Person gedacht zu haben. Das erste Mal.

Sie sollte sich um die Trotzgefühle kümmern. Wenn sie wirklich dazugehören wollte, waren diese fehl am Platz. Bisher war ihr Ansatz verdrängen gewesen. Das war ihr bis zu einem Gespräch mit Kamira nicht einmal bewusst gewesen. Kamira hatte ihr erklärt, dass Verdrängen nicht grundsätzlich schlecht wäre, dass es durchaus ein Mechanismus war, der eine Berechtigung hätte, aber manchmal war es eine kontraproduktive Strategie, um das Gefühl loszuwerden. Es gab unerwünschte Gefühle, vor allem Ängste, aber womöglich auch diese Trotzgefühle, die sie eher überwinden könnte, wenn sie sie zuließe, in sie hineinfühlte, die Verknüpfung der Gefühle fände und sie verstehen und zur Seite legen konnte. Kamira hatte erklärt, dass auch diese Methode nicht bei jeder Psyche so funktionierte, aber bei ihrer, so hatte sie mit ihm herausgefunden, durchaus. Also tat sie es.

Eigentlich lag ihr Leben wieder in Scherben. Das war der Satz, der zu dem Gefühl gehörte, und den sie nun zuließ.

Sie hatte sich in Ashnekov verliebt. Vielleicht auch mehr als das. Ashnekov war liebevoll und fürsorglich, hörte immer zu. Er war intelligent und interessant. Er war ihr niemals böse gewesen. Nicht einmal, als sie alles offen gelegt hatte. Und er war Janaszs Liebesperson. Wieso Kanta das übersehen hatte, war ihr nicht klar. Dazu gehörte eigentlich eine Menge Ignoranz. Sie hatte es nicht sehen wollen. Aber auf der beengten Fahrt in der Tauchbootvariante der Schattenmuräne hatte er unverkennbar liebend mit Janasz gekuschelt. Nun, eigentlich war es nie möglich, aus der Art, wie Personen kuschelten, zu schließen, wie sie ihre Beziehung miteinander nannten. Oder ob sie romantisch oder nicht war, oder sonst etwas. Aber sie war so sehr innig gewesen, dass Kanta sich nicht damit wohl fühlte, Ashnekov in gleicher Weise auch zu beanspruchen. Ihr war sehr wohl bewusst, dass es auf der Flotte der Maare anders zuging, dass einige Personen Beziehungen mit mehreren zugleich führten. Dass es hier keine strikten Regeln gab, dass Liebesbeziehungen immer nur aus zwei Personen bestehen müssten, sondern stattdessen jede solche Regel unter sich für die jeweilige Beziehungskonstellation abgesprochen wurde. Aber selbst mit dieser Freiheit fühlte sich Kanta nicht in Liebesbeziehungskonstellationen wohl, in denen sie eine Person auf diese Art teilen müsste. Kamira hatte ihr gesagt, dass das in Ordnung war und keinesfalls Bedingung für sie wäre, dass sie sich ändern müsste, um als Crewmitglied akzeptiert zu werden.

Sie hatte sich in Ashnekov verliebt, und mit dem Stand der Dinge, zerbrach ihr Traum, ihn eines Tages zu fragen, ob er für sie auch in dieser Art empfand. Etwas zu entwickeln. Das verursachte das Frustgefühl, dass ihre Welt wieder in Scherben läge. In kleineren Scherben noch, weil es keine weitere Auswahl gab. Kanta würde sich nicht so leicht neu verlieben. Sie kannte die anderen alle schon. Sie fühlte sich zu keiner anderen Person hingezogen.

Und das wiederum, zusammen mit Smjers Befehl, löste das Trotzgefühl aus. Warum sollte sie sich um eine Gruppe scheren, in der ihre Träume nicht erfüllbar wären, und die ihr Leben für weniger wert hielt als das einer Ziege?

Kanta ließ sich nach diesen Gedanken – Psycho-Hygiene, wie Kamira es nannte – entspannter gegen Rashs Körper sinken. Rash hatte die Arme um sie gelegt und schloss sie nun noch etwas fester. Nicht in einer romantischen Weise, einfach, weil sie befreundet waren. “Ich mag dich, Rash.”, sagte Kanta.

Rash schloss die Arme noch fester um sie. “Das hast du noch nie gesagt.”, murmelte Rash leise. Ein breites Grinsen war in der Stimme hörbar. Und dann: “Rettest du uns?”


Ushenka, Amira und sie, welch ein Gespann. Kanta hatte es ziemlich beeindruckt, wie schnell Ushenka sie damals in den Arm genommen hatte mit den Worten ‘Gut, dich wieder bei uns zu wissen.’. Damals, als Kanta alles offen gelegt hatte, und gerade vor Ushenka Angst gehabt hatte. Weil sie Ushenka am meisten betrogen hatte und auch mitverantwortlich für den Tod ihres Mannes war. Ushenka hatte sie noch viel früher hochkant aus ihrem Haushalt rausgeworfen. Aber Ushenka war so unvorstellbar wenig nachtragend. Sie hatte Kanta in den Arm genommen, ihr erklärt, dass sie sie vermisst hatte, die Konversationen mit ihr über Sprache und Forschung, die sie miteinander verbunden hatten. Dass sie gesehen hatte, wie sehr Kanta in Schwierigkeiten gewesen wäre, und wie sehr auf einem Weg einer Entwicklung. Aber dass der Rauswurf eben unumgänglich gewesen wäre. Und dann hatten sie gemeinsam um Arym getrauert.

Kanta war älter geworden und das war an Ushenka nicht vorbeigegangen. Und doch überwältigte es Kanta auch jetzt noch, dass Ushenka nicht mit der Wimper zuckte, als sie sie fragte, ob sie nun mit ihr käme: Die Kramelin ausforschen. Herausfinden, wie die Lage aussähe. Amira hingegen hatte gezögert. Amira war für Kanta verhältnismäßig undurchsichtig. War es eher ein Nachdenken darüber, wie sie helfen könnte, oder ob sie überhaupt wollte? Sie stimmte schließlich zu. Sie ging nicht direkt mit Ushenka und Kanta, machte sich selbstständig.

Während ihres Erkundungsausflugs, bei dem Ushenka eine gesprächige Touristin schauspielte und auf diese Weise sich in unbeschreiblich kurzer Zeit große Mengen Information ertratschte, und Kanta vor allem beobachtete und erste Ansätze für eine Reihe möglicher Pläne entwickelte, erblickte sie Amira nur gelegentlich in einer Menge. Sie hätte sie vermutlich gar nicht gesehen, wenn sie nicht gezielt auf das Assassinan geachtet hätte. Ehemaliges Assassinan. Ehemalige Kapitänin. Alles änderte sich so sehr. Kanta hoffte, dass sie Sindra befreien können würden, sodass sie die Flotte der Maare wieder kommandierte. Sie hatte ihre Zeit gebraucht, um sich an die Kapitänin zu gewöhnen, aber nun würde sie sie ohne Zögern zurücknehmen und sich von ihr befehligen lassen, wenn es nötig war.

Als sie zurückkehrten, wussten sie mehr und Kanta entwickelte einen Plan. Eigentlich gleich ein paar Pläne. Ersatzpläne waren immer gut.

“Wir sind eine gestrandete Forschungscrew.”, erklärte sie. “Eine, die von der Schattenmuräne zuletzt zurückgelassen worden ist. Das ist eine Geschichte, mit der wir Chancen haben, in die Kramelin vorgelassen zu werden. Die Zarin interessiert sich brennend für den Verbleib der Schattenmuräne.”

“Gerüchte decken sich, dass sie Personen, die glaubhaft versichern können, etwas zu wissen, tatsächlich selbst vernimmt.”, ergänzte Ushenka.

“Wir sind allerdings etwas gemischt.”, hielt Kanta fest. “Ich denke, die Geschichte, dass Zwerge und Elben gemeinsam eine Crew gebildet haben, ist vielleicht riskant.”

“Das Mandulin-Volk käme als vorgegebener Ursprung einer solchen Crew infrage.”, kommentierte Jentel.

Kanta nickte. Sie wusste um Jentels Herkunfstort. Und es bedeutete ihr viel, dass as nun mit ihr sprach. Jentel hatte sie so lange gemieden. “Du hast recht und den Gedanken hatte ich auch.”, sagte sie. “Aber das Mandulin-Volk steht mit dem Zarenreich als friedliche Nachbarn” – Kanta unterbrach sich, um sich zu korrigieren – “Nachbaranen, ist das richtig, Nachbaranen?”

Jentel nickte. “Das ist unsere erfundene Form, ja.”, aber korrigierte sich dann noch einmal. “Obwohl, du wolltest den Singular. Dann: als friedliches Nachbaran.”

“Es steht mit dem Zarenreich als friedliches Nachbaran in engem Kontakt. Das Mandulin-Volk hat zwar ein Forschungsschiff losgeschickt, ohne die Zarin zu informieren, aber das ist nun eine Weile her. Sie hatten damals schon zu wenig Ressourcen für ein hochseetaugliches Schiff und hatten in den vergangenen Jahren zunehmend mit Armut zu kämpfen.”, fuhr Kanta fort. “Die Zarin und ihre Beratung wüssten wahrscheinlich davon, wenn das Mandulin-Volk eine Forschungsreise angetreten hätte, weil es um Zuschüsse hätte bitten müssen, und das Zarenreich ist das einzige, das derzeit das Mandulin-Volk unterstützt.”

“Das muss nicht sein.”, erwiderte Ashnekov. “Ich gebe dir im Wesentlichen recht. Das sollte eher ein Plan B oder so sein. Aber das Mandulin-Volk hat eine etwas andere Sicht auf Leben und Leben Lassen, als die Zarin. Das war auch damals wahrscheinlich der Grund, weshalb es sich nicht an sie gewandt hat. Es wäre dem Mandulin-Volk zuzutrauen, so etwas für einen zweiten Versuch sehr lange im Voraus unter der Hand zu planen. Du klingst aber so, als hättest du einen Plan A?”

Kanta nickte. “Auch nicht wenig riskant.”, leitete sie ein. “Es hat kürzlich neue Einstellungen bei den Wachen gegeben. Das heißt, die Wachen kennen sich noch nicht so gut. Und du, Janasz, siehst einer der neuen Wachen einigermaßen ähnlich.”

“Oh.” Janasz runzelte die Stirn, aber konnte sich auch ein Grinsen nicht verkneifen, das selbst sein Bart nicht verbergen konnte. “Und du meinst, ich kann in die Rolle einer Wache schlüpfen?”

“Ich trainiere dich.”, sagte Kanta. “So schwierig ist das nicht. Ich kenne dich gut genug, dass ich dich in einer halben Stunde, etwas Pause und noch einmal einer halben Stunde in die Rolle eingelernt haben würde.”

“Hast du dabei einberechnet, in welch unmöglichen Situationen ich plötzlich loslache oder weine?”, fragte Janasz.

Das war eine jüngere Entwicklung bei ihm, aber Kanta hatte sie sehr wohl bemerkt. “Ja, so eine knappe halbe Stunde solltest du ohne durchhalten.”, sagte Kanta. “Aber als neu eingestellte Wache, die gerade eine Gruppe gestrandeter Forschender, Forschanen?, eigentlich egal, in den Raum führt, darfst du als noch frische Wache durchaus eine gewisse Aufgeregtheit haben, die du nur mühevoll und unerfolgreich verbirgst.”

Janasz kicherte. Und nickte. Kicherte etwas mehr. “Das Kichern ist so unpassend in dieser ernsten Lage.”

“Es wird früh genug brenzlich werden.”, beruhigte Ushenka. “Wo wir beim Thema sind: Ich werde auf jeden Fall bei jedem Vorhaben mitmachen. Sie haben auch Marah. Die Gerüchteküche ist sich über eine lebendige, kleine Nixe in Gefangenschaft einig. Aber diese Rettungsaktion ist keine, die wir zuvor als unser Ziel ausgehandelt hatten. Jede Person, die mitmacht, steht hinterher vielleicht nicht mehr der Flotte der Maare zur Verfügung. Wir dezimieren hier potenziell unsere Crew. Macht euch Gedanken, ob ihr das wirklich wollt.”

“Werden sie uns töten, wenn es scheitert?”, fragte Janasz.

“Es ist nicht ausgeschlossen.”, erwiderte Kanta. “Die Zarin ist nicht dafür bekannt, Hinrichtungen in großem Stil durchzuführen. Aber wenn wir in die Kramelin eindringen, und zwar nicht als Verhandlungspartneranen, sondern als Verbrecheranen, dann wird sie uns nicht so leicht wieder freilassen wollen, sollte es uns nicht gelingen, auch wieder zu entkommen. Und lebenslanges Gefangennehmen ist so eine Sache. Zarin Katjenka hat nicht genügend Zellen und arbeitet dann schon über Auslieferung und manchmal dann doch über Hinrichtung, statt weitere zu bauen.”

Janasz nickte. “Ich habe kein sonderliches Interesse zu sterben.”, sagte er. “Aber ich bin dabei. Komme was wolle.”

“Was konntest du eigentlich herausfinden, Amira?”, fragte Kanta.

“Haben wir Zugriff auf Stift und Papier?”, fragte diesan.

Und was dann geschah, überwältigte Kanta unerwartet. Amira zeichnete aus dem Kopf Pläne, wo häufig viele Wachen waren, wo weniger viele, und aus welchen Verhaltensweisen und Beobachtungen sie das abschätzte. Sie erklärte, wie Orte möglichst unauffällig gewechselt werden konnten. Sie war bis in die Kramelin hineingelangt, aber nicht lange geblieben, weil sie es für wichtiger gehalten hatte, mit weniger aber dafür sicherer Information zurückzukehren, als eventuell gar nicht, im Fall, das sie doch erwischt worden wäre. Kanta nickte anerkennend. Und dann planten sie alles ausführlich durch.