Kamira ist an Bord für Konfliktmanagement, psychischen Beistand und Barrierabbau zuständig. Er hat am Anfang den Nixen-Anteil der Crew zusammengesetzt und Smjer gefragt, ob er das Vize-Kommando übernehmen würde.

Content Notes:

Rassismus.


Psychen

Kamira

Das Nixendeck hatte im Heck einen Raum, der für Psychohygiene gedacht war und dafür einen Rückzugsort bot. Psychohygiene war nicht bei allen ein beliebtes Wort dafür. Manche nannten es eher Seelenpflege oder Therapie, mentalen Beistand oder vereinfacht Konfliktgespräche. Kamira selbst hatte da keinen Vorzug, welchen Namen andere dem gaben. Er fand es viel mehr auch interessant. Der gewählte Name für seine Arbeit verriet etwas über die Bedürfnisse aber auch die Scham der Crewmitglieder, die zu ihm kamen.

Es war eine spannende Arbeit. Sie brachte Herausforderungen und sehr verschiedene Anforderungen mit sich. Und es war auf einem engen Schiff mit inzwischen elf Personen eine sehr nötige, damit das Miteinander funktionieren konnte. Elf waren sie mit Aga, aber die Ziege war wenig überraschend noch nie zu ihm gekommen.

Dafür sollte heute etwas anderes Überraschendes passieren: Amira. Amira war noch nicht lange an Bord, aber es war an Kamira nicht vorbeigegangen, dass sie viel aufzuarbeiten hatte, und auch, dass im Moment alles viel auf einmal für sie war. Er hatte ihr möglichst unaufdringlich sein Aufgabenspektrum an Bord erklärt und ihr dabei versucht, Mut zu machen, zu ihm zu kommen, wenn sie soweit wäre und glaubte, dass er helfen könnte. Aber er hatte ihr auch versichert, dass es dazu keinerlei Verpflichtungen gab und sie nie unter Druck gesetzt werden würde, das Angebot in Anspruch zu nehmen. Sie hatte – kaum verwunderlich – überfordert gewirkt, aber gefasst reagiert und gesagt, dass sie darüber nachdenken würde. Diese Reaktion auf seine Vorstellung war häufig. Wenn Personen mit dem Konzept einer Therapie noch nie in Berührung gekommen waren, brauchten sie oft lange, bis sie sich dafür entschieden, wenn sie es taten. Viele legten den Gedanken erst einmal zur Seite, stellten fest, dass das Konzept für sie nicht passte, oder kamen wieder darauf zurück, wenn sie sich eingelebt hatten. Umso überraschter war Kamira als Amira nun, gerade etwa eine Woche an Bord, schon bei ihm klopfte.

“Was kann ich für dich tun?”, fragte Kamira vorsichtig, als sie unsicher in der offenen Tür stand. Sie rührte sich nicht direkt, also sagte er noch: “Wenn du magst und dich damit wohl fühlst, komm rein und schließ die Tür hinter dir.”

Amira folgte dem Vorschlag und blickte sich unsicher im Raum um. Er war dunkel gehalten, entsprach überwiegend dem, was Nixen für gewöhnlich als gemütlich empfanden, aber ein paar Einrichtungsgegenstände versuchten auch den Bedürfnissen anderer Völker gerecht zu werden: Der Boden war fast überall mit weichem Material ausgelegt, mit Gummerlatech – einem dehnbaren, festen, wasserbeständigen Stoff, der im Meervolk etwa so verbreitet war, wie Wollstoffe unter Landvölkern –, das sich an den Wänden zu Hügeln hochtürmte. Nixen lehnten sich daran gern an, besonders an dem weichen, dicken Gummerlatech, das hier verlegt war. Die Rückwand, die das Heck des Schiffs bildete, bestand aus semitransparentem Material, sodass das Meer dahinter erahnt werden konnte. Es fiel sachte gelblich-grünliches Licht ins Zimmer. Es gab aber auch einen Tisch, zwei Stühle und eine Kiste. Kamira saß ungern auf dem Stuhl, aber diese Art zu sitzen führte manchmal dazu, dass Landsleute sich wohler fühlten, also tat er es in manchen der Sitzungen doch.

“Es gibt sehr viele verschiedene Bedürfnisse, sich zum Reden niederzulassen. Manche reden auch lieber im Stehen.”, leitete Kamira daher ein. “Wenn du zum Reden hier bist, mach es dir so gemütlich, wie du dich am wohlsten fühlst und ich passe mich dir an. Sag mir auch gern, wie du am liebsten hättest, dass ich mich platziere.”

Amira grinste plötzlich. “Die Kapitänin sitzt bestimmt im Schneidersitz oder wenigstens angewinkelten Beinen auf dem Boden.”

Das stimmte. Kamira beschloss, dass das keine zu private Information war und bestätigte es mit einem Nicken, das Lächeln erwidernd.

“Ich bin insgesamt sehr unsicher, was ich genau möchte.”, sagte Amira. “Ich habe Angst, dir Zeit zu stehlen. Ich habe Angst, dass du denkst, dass ich hier bin, um über meine Vergangenheit als Assassinan zu reden. Aber ich möchte vielleicht über etwas anderes reden und es kommt mir sehr banal vor.”

“Das klingt, als hätte es dich einiges an Mut gekostet, bei mir zu klopfen.”, folgerte Kamira. Der Gedanke war ihm nicht erst jetzt gekommen.

Amira nickte. Sie ließ sich schließlich in einen Schneidersitz ihm gegenüber nieder, nicht allzu dicht und eher mittig im Raum, wo der Boden am wenigsten bequem war. Es wirkte nicht so, als hätte sie versucht, sich selbst wohl zu fühlen. Aber vielleicht war es trotzdem gerade das Optimum, weil sich mehr Gemütlichkeit zu genehmigen, ihr zu unangenehm gewesen wäre. Das war zumindest bei vielen der Fall, die das erste Mal zu Kamira kamen.

“Du bist hier mit allen Anliegen richtig.”, versicherte Kamira. “Es geht hier immer um dich, nicht um mich. Es geht nicht darum, dass ich bestimmte Erlebnisse von dir durcharbeiten möchte, sondern meine Aufgabe ist, dir Werkzeuge für die Probleme zu geben, von denen du entscheidest, dass sie gerade dran sind, damit du es zum größten Teil selber kannst.”

“So etwa hat Sindra mir das auch erklärt.”, sagte Amira.

Ihre Anspannung ließ trotzdem nicht nach. Kamira war nicht so gut darin, das zu erfühlen, wie beispielsweise Rash, aber er bekam es doch mit. “Für einen Vertrauensaufbau ist es vielleicht auch gar nicht verkehrt, wenn wir über Probleme reden, die dir weniger gefährlich oder leichter vorkommen.”, fuhr Kamira fort. “Oder eben welchen, die konkret gerade anliegen. Und wenn dein Problem ist, dass du dich erst einmal in die Situation hineinfühlen musst, mit mir in diesem Raum zu sein und wir heute gar nicht reden, ist das auch in Ordnung.”

Ein schmales Lächeln trat in Amiras Gesicht. “Danke.” Und verblasste wieder.

Sie schwieg, bis das Schweigen so lang wurde, dass es Kamiras Erfahrung nach den meisten unbehaglich wurde. Er befürchtete, dass sie sich unwohl fühlen könnte und deshalb gehen würde, noch bevor sie geredet hätte, obwohl sie eigentlich wollte. Nun hatte sie den Mut gefasst, zu klopfen. Wie wahrscheinlich wäre, dass sie ihn wieder fassen würde, wenn sie sich beim ersten Mal nichts zu sagen getraut hätte?

Kamira konnte nicht einschätzen, wie wahrscheinlich dieses Szenario war.

Als Amira anfing, sich nervös über die Kleidung zu streichen, beugte sich Kamira nach hinten zur Kiste, um daraus eine kleinere Kiste mit einer Auswahl an Spielzeug zu entnehmen. Die Sammlung bestand aus Dingen zum Drehen, Reiben oder Drücken, die die Finger beschäftigten. Amira blickte es einen Moment skeptisch an, aber die Skepsis verflog so rasch, wie Kamira es selten beobachtet hatte. Amira ließ sich auf das Spielzeug ein, probierte es aus und entschied sich schließlich für eine kreisrunde, kleine Scheibe auf Blasentangbasis, bei der es viele Ausbuchtungen gab, die sich mit den Fingern einigermaßen lautlos in die eine oder die andere Richtung drücken ließen. Sie beschäftigte die Finger damit, bis sie nach einer kurzen Zeit schon gewöhnt daran waren und die Aktivität fortführten, ohne dass sie hinsah. “Es funktioniert!”, sagte sie, runzelte dann aber die Stirn. “Also, kommt darauf an, welche Funktion es haben soll. Sollte etwas mit mir passieren, wie, dass ich hypnotisiert bin oder so etwas? Ein anderer Teil meines Bewusstseins spricht?”

Kamira grinste und schüttelte den Kopf. “Es hat verschiedene Funktionen bei verschiedenen Personen.”, antwortete er. “Für manche nimmt es einfach Nervosität. Bei manchen kontrolliert es andere Gefühle. Manche können besser reden, wenn ihre Finger beschäftigt sind. Manchen sind ihre Hände in Gesprächen plötzlich sehr bewusst und sie stören, bis sie eine Aufgabe haben. Manche Gehirne sind einfach unfassbar dauerunterfordert und brauchen eine gezielte Dauerstimulation. Manche Gehirne sind sehr kreativ, und würden sie nicht mit einer kleinen Aufgabe beschäftigt werden, könnte der Rest der Gehirnaktivität nicht bei einer Sache bleiben und würde sich stattdessen verselbstständigen.” Kamira hielt inne und reflektierte, ob letzteres mit ihm gerade passierte. Aber das war es nicht. Er hatte den Eindruck, dass es Amira helfen würde, wenn sie zum einen sehr genau wüsste, welchen Zweck etwas hatte, und zum anderen, sie darüber endlich ins Gespräch kamen.

“Ich weiß nicht, wer ich bin.”, sagte Amira. Wie aus dem nichts. So als hätte sie es nicht beabsichtigt, erschreckte sie sich selbst ein wenig. “Das habe ich so nicht sagen wollen. Es hat damit zu tun, was ich sagen wollte, aber das ist mir rausgerutscht.”

“Möchtest du, dass ich es wieder vergesse?”, fragte Kamira. Da bestand eigentlich wenig Hoffnung. Kamira hatte ein sehr gutes Gedächtnis. Aber er konnte ein relativ brauchbares Äquivalent dazu: Er konnte sich so verhalten, als wären ihm bestimmte Informationen nicht bekannt. Er würde ihr dies transparent kommunizieren, sollte sie die Frage bejahen.

Amira schüttelte den Kopf. “Ich würde trotzdem gern zunächst über Regeln reden.”

Das war interessant. “Welche Regeln?” Nicht nur das Thema fand Kamira interessant gewählt, sondern auch, dass sie den Mut hatte, selbst eine Priorität auszusprechen.

“Ich wusste, bevor ich hierher kam, nicht, was Privatsphäre ist.”, erklärte Amira. “Ich bekomme die ganze Zeit mit, was alle hier an Bord so machen, wo sie jeweils sind. Ich bekomme Inhalte mit, die nicht für meine Ohren bestimmt sind. Glaube ich. Und dann wiederum weiß ich auch nicht, was eigentlich normal ist. Was eigentlich alle mitkriegen. Verstehst du?”

Kamira nickte. “Das erschließt sich mir.”, sagte er. “Es wird viele soziale Regeln geben, beziehungsweise Bedürfnisse, für die dir ein Gefühl fehlt.” Kamira nahm sich selbst ein anderes Spielzeug, ein prinzipiell ähnliches, das aber etwas größer war, und ließ die Finger darüber gleiten. “Falls dich das beruhigt: Es gibt kulturelle Unterschiede zwischen den meisten von uns. Wir alle wissen nicht ganz genau, was für die jeweils anderen Personen normal ist.”, sagte er. “Was nicht so klingen soll wie: Dein Problem haben doch alle hier. Ich glaube dir, dass dein Problem noch einmal anders ist. Die Umgebung macht es nur deshalb vielleicht leichter, daran zu arbeiten.”

“Ich möchte gern lernen, mich so zu verhalten, dass andere sich mit mir wohl fühlen.”, fasste Amira ihr Anliegen zusammen. “Kannst du mir dabei helfen?”

“Ja, das kann ich.”, versicherte Kamira. “Zunächst einmal gibt es verschiedene Ansätze, dieses Anliegen anzugehen, und das wird dich vielleicht überraschen: Du kannst von der einen Seite darangehen und Verhaltensregeln lernen. Ich würde da gern, wenn du magst, von dir an das Problem aber nicht nur von einer Regelseite aus herangehen, sondern auch über das Verständnis: Darüber, wie sich für andere Privatsphäre anfühlt und dass du sie auch haben darfst.” Kamira wartete ein Nicken ab, bevor er ergänzte: “Du kannst aber gleichzeitig auch von der anderen Seite herangehen. Du kannst, wenn du dich damit wohl fühlst, deine Schwierigkeiten der Crew gegenüber kommunizieren und dir wünschen, dass du darauf angesprochen wirst, wenn dein Verhalten Personen unangenehm ist. In dieser Crew wirst du da überwiegend auf Verständnis stoßen.”

Amira runzelte die Stirn. “Werde ich dann nicht noch eher zu einer Last? Indem ich auch noch andere auffordere, mir zu helfen, an meinen Fehlern zu arbeiten?”

“Ein Wunsch und eine Aufforderung sind noch einmal zwei verschiedene Dinge, doch ich verstehe, was du meinst.”, antwortete Kamira. “Es geht, wenn du anderen von deinen Schwierigkeiten erzählst, aber nicht darum, dass du weniger bereit wärest, an dir zu arbeiten, und auch nicht darum, dich zu entschuldigen. Sondern es geht darum, anderen zu vermitteln, woran sie mit dir sind. Nämlich an einer Person, die etwas zum aktuellen Zeitpunkt nicht kann, aber lernen möchte, und deren Hürden, dies zu lernen, höher sind, als die der meisten Personen.”

Amira nickte langsam. “Dass andere dann wissen, woran sie sind, klingt fair ihnen gegenüber. Der Rest klingt für mich nach Rechtfertigung.”

Kamira schüttelte den Kopf. “Das verstehe ich, aber es gehört zur Einordnung dazu.”, sagte er. “Sie sind mit dir nicht an einer Person, die Hintergründe erklärt, um es leichter zu haben, sondern an einer Person, die ihre Situation transparent macht und lernen will. Du gibst ihnen damit die Möglichkeit und Freiheit, dir zu helfen, wenn sie möchten. Das könnten sie sonst nicht, weil sie nicht wissen, was du brauchen könntest.”

Amira wechselte das Bein, das unten lag. Ihr Blick wanderte noch einmal durch den Raum, als würde sie etwas suchen, aber nicht finden. Sie nickte abwesend.

“Möchtest du doch anders sitzen?”, fragte Kamira. “Die Polsterung an den Wänden ist weich.”

Amira ließ sich noch einige Momente Zeit. Aber dann stand sie doch auf, bewegte die Spielzeugkiste so, dass sie auch nach ihrem Umzug immer noch zwischen ihnen stand, setzte sich auf eine weichere Stelle an den Hügel und lehnte sich dagegen. Ihre Distanz hatte sich dabei kaum geändert.

Kamira wandte seinen Körper ihr zu und lächelte. “Nun sitzt du fast wie die meisten Nixen, die mich besuchen. Fühlst du dich so besser?”

Amira nickte und lächelte. Kamira sah es ihr förmlich an. Eine bequeme Sitzhaltung machte für Gespräche über Psyche einfach so viel aus. “Ich glaube, ich bin es nicht gewohnt, meine Bedürfnisse zu äußern und einen Sinn darin zu sehen.”

“Oder dir auch nur zu erlauben, welche zu haben.”, ergänzte Kamira.

Amira nickte. “Auf der anderen Seite habe ich mich umgesetzt und bin jetzt hier.”

Kamiras Lächeln auf diese Feststellung hin war sehr breit. “In der Tat.”, sagte er. “Es mag seltsam für dich klingen, aber das ist eine enorme Leistung. Ich weiß, dass es sehr viel Mut kostet.”

“Ich habe in den letzten Tagen so viel gemacht, was sich für mich vorher so angefühlt hat, als würde ich es nicht können, als wären es Unmöglichkeiten.”, sagte Amira. “Und seltsamerweise war hier zu klopfen eines der schwierigsten Dinge. Schwieriger noch, als der Moment, in dem ich”, Amira stockte, machte eine Pause. Und führte dann zu Ende, womöglich anders als geplant: “aufgehört habe, Assassinan zu sein.”

“Wie fühlst du dich jetzt?”, fragte Kamira.

“Überfordert mit allem.”, sagte Amira. “Ich möchte mich selbst sortieren, bevor ich mit dir darüber rede.”

Kamira nickte. “Komm zu mir, wann immer du dich danach fühlst, mit genau dem, was du bringen möchtest. Ich glaube, ich habe durch den Vorschlag, dass du deine Schwierigkeiten kommunizieren kannst, etwas abgelenkt.”, sagte er. “Ich mag den Exkurs noch kurz zu Ende führen: Es ist ein Vorschlag für dich, damit du darüber nachdenken kannst, ob es sich richtig für dich anfühlt. Es ist kein Weg, der für alle der richtige Weg ist, und ich habe das nicht für dich zu entscheiden. Du zeigst damit einen privaten, verletzlichen Teil von dir. Mach das nur, wenn du dich damit wohl und sicher fühlst.”

“Ob ich mich je wieder sicher fühlen werde?”, fragte Amira nachdenklich.

Kamira beschloss, es als rethorische Frage aufzufassen. Amira wäre nicht hier, wenn sie sich nicht auch sicher genug dafür fühlen würde. Und doch verstand er sie. Sich sicher genug fühlen, um etwas zu tun, und sich sicher fühlen, waren eben zwei sehr verschiedene Dinge. Vom Anfang eines Prozesses, die eigene Psyche auseinanderzunehmen, bis wieder ein Zustand erreicht war, der sich brauchbar stabil anfühlte, vergingen nicht selten Jahre. “Vielleicht passt zu der Frage sogar, wenn wir nun über das Konzept von Privatsphäre reden. Ein Konzept, dass auf einem engen Schiff ohnehin ein komplexeres Thema ist, als anderswo. Magst du?”

Amira nickte. “Es fängt damit an, dass ich hier vor der Tür stand, aber es ist ja das Nixendeck. Und ich bin keine Nixe. Das Nixendeck ist für mich eigentlich nicht erlaubt.”

“Dieser Raum und der Niedergang zum Unterdeck sind davon ausgenommen.”, erklärte Kamira. “Viele an Bord bezeichnen den Schlaf- und Gemeinschaftsraum der Nixen als Nixendeck. Aber du hast Recht, das ist missverständlich.”


Kamira beschwerte sich nie über seine Arbeit, auch nicht darüber, dass sie manchmal viel war. Trotzdem fühlte er sich erleichtert, als Smjer seinen Termin für heute absagte. Smjer hatte wöchentlich drei Termine, sagte aber meistens zwei davon ab. Sie hatten es so vereinbart, weil Smjer sich nicht selbst dazu organisiert bekam, einen Termin spontan zu vereinbaren, wenn er einen brauchte. Sie verschoben auch entsprechend viele Termine, wenn eine andere Person gerade Bedarf hatte. Es war ein psychologischer Trick, aber Tricks waren ja nicht verboten. Im Gegenteil.

Heute hätte Kamira mit Smjer gerechnet. Smjer hatte ihm in ihrer letzten Sitzung erzählt, dass er sich um die Crew der Schattenscholle sorgte. Marah war noch nicht wieder zurück. Smjer war angespannt. Aber zum Anfang seines Termins war er in ein Kartenspiel mit Rash vertieft gewesen, das ihn abgelenkt hatte. Er hatte es kurz unterbrochen, um mit Kamira abzusprechen, ob Ablenkung nicht auch einfach eine gute Sache war. Ablenkung war auch nicht verboten. Im Gegenteil.

Und schließlich hatte am späten Abend Sindra noch einen Termin bei ihm. Die Kapitänin war wenig überraschend viel beschäftigt. Sie hatte diesen Termin mit ihm vereinbart, damit sie nicht auf die Idee käme, irgendetwas anderes wäre zu dem Zeitpunkt wichtiger. Kamira konnte nicht leugnen, sich auf das Gespräch mit Sindra sehr zu freuen. Sie sprachen viel zu wenig miteinander, dabei hatten sie über die vier Jahre auf der Schattenmuräne, die sie nun miteinander verbracht hatten, eine gute Freundschaft entwickelt.

Sie brachte Tee mit, setzte sich gelassen auf den Boden, die Beine angezogen und zu einer Seite gekippt. Sie beobachtete den Dampf des Tees, als sie für sie beide Becher eingoss.

“Die Porzellantassen wurden neulich eingeweiht.”, teilte sie mit.

Kamira lächelte. Er hatte sich damals, als Ashnekov und Janasz die Kiste für die Verladung ins Tauchboot abgeliefert hatten, schon etwas gewundert, warum sie so klapperte. Sie hatte zwischen den Lebensmittelkisten und -säcken gestanden. Die Tassen und die Kanne waren auf diese Art ausversehen an Bord gekommen und sie hatten sie in die Kapitänskajüte geräumt. Vielleicht hätten sie sie irgendwann zurückgegeben, wenn die Überfälle nicht zunehmend gefährlicher geworden wären. “Wie ist es dazu gekommen?”

“Amira hat mir Tee gekocht, bevor sie mich bedroht hat.”, berichtete die Kapitänin.

Kamira nahm einen der Becher entgegen und lehnte sich mit einem Ellenbogen in die weichen Deckenmatten an der Wand. Sindra war die einzige Person, die Kamira kannte, die sich durch nichts daran hindern gelassen hatte, es sich gemütlich zu machen. Dann wiederum hatte sie auch erklärt, dass es etwa 80% ihrer Gehirnkapazität auslastete, wenn sie es nicht täte, die dann nicht für Gespräche aller Art zur Verfügung stünden. So hatte sie sich ausgedrückt.

“Es geht mal wieder um Emotionen.”, leitete Sindra ein. “Es kommt außerdem etwas hinzu, was ich noch nie angesprochen habe: Ich habe Angst, dass meine mangelden Emotionen auf meine Herkunft zurückgeführt werden.”

Über ihre Herkunft hatte Sindra nie etwas erzählt. Kamira nie weiter nachgebohrt, weil sie es mied, darüber zu reden. “Ist es in Ordnung für dich, wenn ich einmal aufräume?”, fragte Kamira.

“Ich bitte darum.”, antwortete Sindra.

“Du hast keinen Mangel an Emotionen. Du drückst sie zum einen anders aus und zum anderen hast du eine andere Verteilung an Emotionen.”, hielt Kamira fest. Sie hatten schon oft darüber geredet und über die Zeit wusste er, was Sindra wiederholt hören wollte, oder musste. “Du drückst deine Emotionen nicht typisch aus. Deine natürliche Reaktion auf eine plötzliche Änderung ist nicht Panik, sondern eine Extra-Portion Gelassenheit. Wo andere eine intensive Wut spüren, hast du das Bedürfnis, konkret mitzuteilen, was sich ändern muss und warum. Zuneigung spiegelt sich bei dir meistens nicht darin wieder, dass du Personen in den Arm nehmen willst oder ihnen nahe sein willst, sondern darin, dass du ihnen Wünsche erfüllst.”

“Ich erfülle allen gern Wünsche. Wenn ich kann.”, wandt Sindra ein.

“Du liebst alle, würde ich behaupten.”, erklärte Kamira schlicht.

Sindra wirkte kurz nachdenklich und nickte dann. “Aye.”, sagte sie. “Da hast du wohl geschickt recht.”

“Du hast weniger Trauer, Angst, Panik und Ekel als andere. Du hast vielleicht weniger Wut, aber es kann auch sein, dass deine Schwelle zur Wut eine andere ist, oder, wie gesagt, dein Ausdruck von Wut nicht Lautsein ist.”, fuhr Kamira fort. “Das heißt aber nicht, dass du weniger emotional wärest. Was spürst du, wenn du dir den Dampf über dem Tee anschaust?”

Sindras Blick wanderte unvermittelt zur Oberfläche des Tees in ihrem Becher. Sie blies sachte darüber. Und es hatte sehr sicher nicht nur den Zweck, dass der Tee dadurch kühler würde. “Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.”, murmelte sie. “Aber ein Gefühl ist es schon.”

Kamira lächelte und nickte. “Es gibt so viele verschiedene Facetten von Gefühlen. Sprachen kennen entsprechend verschiedene Spektren an Vokabeln für die Gefühle, je nachdem, welche Gefühle in der zugehörigen Kultur stärker verbalisiert wurden. Ein Name für ein Gefühl in der einen Sprache bedeutet selten exakt das Gleiche wie in einer anderen Sprache für das selbe Gefühl. Oder die übersetzte Vokabel beschreibt eben nur ein ähnliches Gefühl.”, breitete Kamira aus. “Es gibt zum Beispiel verschiedene Gefühlsbezeichnungen in Sprachen abhängig davon, wie viel Licht oder Regen ein Volk gewohnt ist. Zwerge zum Beispiel, bei denen Tagebau eine tragende Rolle spielte, kennen ein Wort für die Stille unter dem Berg.”

Sindra blickte sachte lächelnd von ihrem Tee auf. “Du leitest zum Thema Herkunft über.”

“Das war eigentlich nicht beabsichtigt, aber du hast recht.” Kamira runzelte die Stirn. Das war ungeschickt gewesen. “Ich wollte eigentlich darauf hinaus, dass Sprachen jeweils Worte für Gefühle entwickeln, über die sich die Völker austauschen wollen. Aber Personen, die anders fühlen, gibt es in jeder Kultur. Personen, die auf eine Weise fühlen, die sich dann nicht in der entsprechenden Sprache verbalisieren lässt. Manchmal ist es dann möglich, auf andere Sprachen auszuweichen, aber manchmal geht es auch gar nicht, weil manche Arten und Weisen zu fühlen eher selten sind. So ähnlich, wie die meisten Sprachen visuell sind, aber es Personen gibt, die es eben nicht sind.”

Sindra nickte. “Es ist mir durchaus aufgefallen, dass Sprachen verschiedene Gefühlsspektren verschieden gut beschreiben, aber ja. Das Gefühl, wenn ich Wasserdampf beobachte, dafür kenne ich in keiner Sprache Ausdrucksweisen, die es treffen.”

“Und wenn keine Worte für die entsprechenden Emotionen existieren, dann hat das wiederum eine Reihe Folgen für die Psyche. Die Existenz mancher Dinge realisieren wir erst, wenn es dafür Worte gibt. Und solange wir keine Worte haben, fühlen wir uns oft falsch, oder Leute nehmen uns nicht ernst”, fügte Kamira hinzu.

“Wie bei Geschlecht zum Beispiel?”, schlug Sindra vor.

Das war ein gutes Beispiel. Kamira nickte. “Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie ich mich in einer Kultur gefunden hätte, die kein Wort für Solstim hätte.”

Für die fünf Geschlechter hatten Nixen in vielen anderen Sprachen eigene Wörter entwickelt. Dazu hatten sie die jeweilige Sprache und ihre Entwicklung betrachtet. Aus alten Wörtern von Vorgängern der Sprache und moderneren Verschleifungen hatten sie Begriffe erfunden, indem sie sich an der Entwicklung der originalen Begriffe im Sirenschen orientiert hatten.

Solstim war eines dieser fünf Geschlechter.

Ein altes Wort für Sonne, wie Sol in den Vorgängersprachen von Kazdulan, war jeweils die Bezeichnung für das Geschlecht, das am ehesten männlich entsprach, wie es bei den meisten maerdhischen Menschenvölkern definiert wurde. Jene hatten keinen längeren Textabriss wie ein Lexikon, der ‘Mann’ definierte, sondern lediglich eine Definition in der Gesellschaft, im Subtext des Redens und gegenseitigen Verständnisses des jeweiligen Volkes. Besonders so einige Menschenvölker glaubten, dass ihr Männlichkeitsbegriff ein unumstößliches Universalkonzept wäre, dass alle Völker automatisch so nachempfinden können müssten und es deshalb nichts dazu aufzuschreiben gäbe. Kamira empfand es deshalb beinahe unangenehm, dass unter den nur fünf Geschlechtern der Nixen ausgerechnet ein diesem Geschlecht annähernd entsprechendes dabei war, besagtes Sol.

Solstim war Sol mit etwas ergänzt, das im weitesten Sinne einen alten Wortstamm für Wende beinhaltete: Sonnenwende, aber mit etwas weichem am Ende. Es gab kaum eine kulturelle Entsprechung dieses Geschlechts bei den meisten Landvölkern, vielleicht eine Mischung aus dem Männlichkeitsbegriff bei den bekannteren Elbenvölkern und dem Begriff Lesbe, der in manchen der Landvölker entwickelt worden war.

Lun, von alten Wörtern für Mond abgeleitet, umfasste eine ganze Facette an Weiblichkeitsbegriffen verschiedener Völker, aber weniger performative.

Für letztere stand Rosalun: Ein Begriff, bei dem Lun noch eine ausdrucksvolle Blume hinzugefügt wurde. Rosalun entsprach einem Geschlecht, zu dem starke Expression gehörte. Personen fanden sich in dem Begriff wieder, für die ihr Geschlecht nicht nur zu ihnen gehörte, sondern Ausdruck in ihrer ganzen Art, sich darzustellen, und in ihrer Kommunikation fand.

Und schließlich blieb Neutre als ein weit gedehnter Geschlechtsbegriff, der alle umfasste, die sich in keiner der anderen Gruppen wiederfanden.

Ein wichtiger Bestandteil bei Geschlecht war die Selbstfindung. Für Kamira hatte es nicht lange gebraucht, bis er gewusst hatte, dass sich Solstim für ihn sehr passend und wie ein Zuhause angefühlt hatte. Manche brauchten ihr halbes Leben für den Findungsprozess. Und Beispiele wie Rash zeigten, dass auch diese Kategorien eigentlich zu starr waren. Rashs Geschlecht setzte sich wie die Lichtmuster in einem Kaleidoskop ständig neu zusammen.

“Deine Angst, dass deine atypischen Gefühle oder deren atypische Ausdrucksweise auf deine Herkunft zurückgeführt werden könnten. Das war, worum es eigentlich gehen sollte.”, kam Kamira wieder zum Punkt.

Sindra nickte. “Genau. Ich hatte die Angst schon länger, aber ich habe sie nie in Worte gefasst.”

“Eine einfache Idee dazu: Du willst nicht über deine Herkunft reden.”, sagte Kamira. “Aber du kennst eben auch den Hintergrund zu Ausdrucksweisen und Versprachlichung verschiedener Gefühle in verschiedenen Kulturen. Wir sprachen darüber nicht zum ersten Mal. Das heißt, es gibt darüber eine naheliegende Verknüpfung, warum Leute auf die Idee kommen könnten, es mit deiner Herkunft in Zusammenhang zu bringen.”

Sindra hob einen Finger und öffnete den Mund, schon ein paar Momente, bevor sie sprach. “Das hilft! Ja.”, sagte sie. “Und was mache ich dagegen?”

“Hast du nur Angst, dass andere es darauf zurückführen, oder hast du auch Angst, sie könnten recht damit haben, dass es einen Zusammenhang mit deiner Herkunft gibt?”, fragte Kamira mutig, in der Hoffnung, es ginge nicht zu weit.

“Ersteres.”, sagte Sindra nachdenklich. “Eigentlich bin ich ziemlich sicher, dass ich schon damals als” – Sindra zögerte und sprach dann weiter, als wäre sie sich nicht sicher, ob die Worte passten – “atypisch empfunden wurde.”

“Ehrlich gesagt, hätte ich mit nichts anderem gerechnet.”, sagte Kamira. “Woher soll sonst diese tief sitzende Angst kommen, dass dein Fühlen falsch wäre, während du hier in der Crew mit deiner Ausdrucksweise eigentlich akzeptiert bist? Warum sollte ein Amira dafür reichen, um das alles wieder hoch zu holen und in diesen furchtbaren Traum zu übersetzen?”

Sindra nickte langsam und wechselte halb das Thema: “In meinem Traum habe ich mich außerdem gefreut, dass Rash mit Kanta jetzt eine Person hätte, mit der sich Rash verstünde. Und das ergibt nicht so viel Sinn. Rash redet eigentlich mit allen. Was bedeutet das?”

Kamira dachte nach und drehte dabei den Teebecher in der Hand. Hätte sein Gefühl ihm nicht gesagt, dass Sindra bald gehen würde, er hätte wohl noch einmal die Spielzeugkiste hervorgeholt. Bei Sindra ging das. Sie mochte, wenn sich Personen in ihrer Gegenwart frei verhielten. Sie war unfassbar flexibel, was anderer Leute Verhaltensweisen und Vorlieben anging. Kamira hätte ihr mehr von dieser Flexibilität von anderen ihr gegenüber gewünscht. “Ich weiß es nicht.”, sagte Kamira. “Es gibt viele Möglichkeiten. Es könnte heißen, dass du von Rash wenig Hintergrund kennst, von anderen aber schon. Das weiß ich aber nicht, weil ich nicht weiß, was du von Rash weißt. Es könnte aber auch sein, dass Rash tatsächlich etwas fehlt, und du es Rash gönnst, ob Kanta nun die Person ist, die das geben kann, oder nicht.”

“Weil ich es selbst nicht geben kann?”, überlegte Sindra.

“Das wäre auch verhältnismäßig naheliegend.”, bestätigte Kamira. “Aber es sind auch alles gewagte Hypothesen.” Kamira teilte solche Hypothesen nicht mit allen. Viele neigten dazu, in eine Hypothese mehr als eine Möglichkeit zu lesen, sie für eine wahrscheinliche Wahrheit zu nehmen und nicht nur für eine Idee zum Spielen und später Einordnen. Sindra konnte so etwas sehr gut.

“Danke. Du hast mir wieder sehr geholfen.”, sagte Sindra.

Das klang nach Abschied, wie Kamira schon vermutet hatte. Aber traurig stimmte es ihn doch. Er erinnerte sich an ihre Anfangszeit zurück, als Sindra noch nicht eine ganze Flotte befehligt, sondern es nur die Schattenmuräne gegeben hatte. Damals waren Forschungsschiffe in Richtung Grenlannd noch eine Seltenheit gewesen waren und sie hatten noch gar nicht gewusst, wie ihnen geschah, hatten teils nicht einmal das Ausrauben mit dem Auftauchen der Schattenmuräne in Verbindung gebracht, weil sie das Fehlen der Vorräte erst viel später bemerkt hatten. Sie hatten zu der Zeit noch die Inhalte der Säcke und Fässer durch Kies, Steine und getrocknetes und wiedergenässtes, braunes Seegras ersetzt. Und Ushenka hatte sie mit Geschichten aus dem Gemunkel an Land über Geister erheitert, die angeblich durch Schiffswände waberten und Dinge in Nutzloses verwandelten. Über die vielen haarsträubenden Theorien.

Damals hatte Sindra mehr Zeit gehabt. Sie hatten sich alle noch nicht gut gekannt und Sindra und er hatten sich gegenseitig ausgeforscht: Ihre Sprachen, ihre Psychen, ihre Körper. Sindra war dahingehend ähnlich hemmungslos gewesen wie er. Er war auch Schiffsärztan, was bei einer Hybridcrew eine Herausforderung war. Das Vertrauen, das Sindra in ihn hatte, hatte ihm gut getan. Irgendwann, – sollten sie den ganzen Kram hier überleben, und sollte die Überfällerei je zu ihren Lebzeiten ein Ende haben –, würde er sie fragen, ob sie mit ihm etwas erforschen wollte.