Katjenka regiert das Süd-Ost-Maerdhische Zarenreich der Zwerge und wird von der Flotte der Maare als eines der kleineren Übel gesehen, wenn es darum geht, mit Landvölkern zu verhandeln.

Content Notes:

Tierleid, insbesondere Fischleid impliziert, Mord, Rassismus.


Die Schattenscholle

Katjenka

Zarin Katjenka stand in den Tunnelgewölben des alten Tagebaus. Während draußen Trockenheit und Hitze brütete, war es hier kühl und sogar ein wenig feucht. Es war so kalt, dass Katjenka bereute, den Mantel nicht mitgenommen zu haben.

Sie war nicht allzu oft hier unten und vor allem bisher nicht so lange am Stück. Bis gerade hatte ihr die Atmosphäre beim Denken geholfen, aber allmählich schob sich die Kälte nicht verdrängbar in ihre Wahrnehmung. Dabei gab es noch so viel zum Grübeln. Es gab so viele Puzzle-Stücke, die noch nicht so recht ein klares Gesamtbild ergaben.

Die Geschichte, die ihr dargelegt worden war, hatte schon eine allzu geisterhafte Komponente, auch wenn sich Zarin Katjenka eigentlich nicht davon beeindrucken lassen wollte: Das Schiff, von dem sie inzwischen wussten, dass es Schattenscholle hieß, hatte drei ihrer Schiffe gleichzeitig angegriffen, ohne auch nur in ihre Nähe zu kommen. Große Teile ihrer Crew waren dabei einfach schlafend umgefallen. Bei einem der drei Schiffe hatte es die Crew auf diese Weise vorübergehend so weit dezimiert, dass es manövrierunfähig gewesen war und von den anderen beiden hatte eingesammelt werden müssen. Beziehungsweise nicht müssen. Abwarten, bis alle wieder aufwachen, wäre auch eine Option gewesen. Aber als die Schattenscholle durch lokal um sie herum wabernden Nebel außer Sichtweite gesegelt war, hatte die Crew auf den zwei anderen Schiffe ohnehin nichts besseres zu tun gehabt.

Trotzdem bot dieser Teil der Geschichte nicht viel Neues. Lediglich die Information, mit wievielen ihrer Schiffe es ein Schiff der Maare zugleich aufnehmen konnte. Mindestens.

Zarin Katjenka hätte sich von der Sache durchaus mehr neue Erkenntnisse erhofft. Wenn die drei Schiffe nicht nebeneinander sondern in einem Dreieck segelten, immer so zur Schattenscholle gedreht, dass dasselbe Schiff bezüglich der Schattenscholle hinter den anderen beiden liegen würde, dann musste der Angriff auf das dritte an den anderen zweien vorbeipassieren. Das hatte für Zarin Katjenka vielversprechend gewirkt: Vielleicht wäre der Abstand zum Zielschiff für einen Angriff durch die Schattenscholle relevant. Dann hätte sich die Schattenscholle näher als sonst einem Schiff nähern müssen, – den anderen beiden während sie das hintere angriff. Wenn wenigstens irgendetwas Neues hätte beobachtet werden können. Aber es schien der Crew auf diesem seltsamen Geisterschiff geradezu Spaß zu machen, die neuen Herausforderungen zu meistern, Angst zu machen, zu verwirren und schließlich doch das hintere der Schiffe aus seiner Abdeckung zu locken.

Und dann, nur einen Tag später, war die Schattenscholle verlassen vorgefunden worden. Sie hatte sich voll besegelt in Fischernetzen verfangen, die vor dem Ufer des Zarenreiches in fischreichen Regionen aufgespannt waren, und hatte zum Glück keinen erkennbaren Schaden genommen. Fischerleute hatten sich vorsichtig genähert, waren dann – trotz der Geistergeschichten – so mutig gewesen, an Bord zu klettern und die Segel zu bergen, um sie in den Mizugrader Hafen zu schleppen. Es war ein leichtes, aber stabiles Schiff. Das unterste Deck hatte unter Wasser gestanden, obwohl das Schiff nicht leckte. Zarin Katjenka hatte veranlasst, dass es von einigen wenigen, diskreten, fachkundigen Leuten leergepumpt wurde, und es war nicht wieder vollgelaufen. Es war unklar, wie diese Mengen an Wasser an Bord gekommen waren, aber es gab Theorien.

Es hatte Leichen an Bord gegeben. Sie lagen nun in den Katakomben des stillgelegten Mizugrader Tagebaus aufgebart, wo sich die Zarin gerade aufhielt, und wurden hier gekühlt gelagert. Katjenka ließ sie sich von Junita zeigen. Junita hatte eine beachtliche Bildung genossen, aber auch sie hatte wohl zuvor noch nie eine Nixe gesehen, mutmaßte Katjenka.

“Die Leiche lag noch unberührt an Bord, in dem Deck, das unter Wasser stand, als die Fischerleute das Schiff verließen.”, berichtete Junita. “Sie sagten, sie wollten dem Geisterschiff lieber nicht zu tief in den Bauch steigen.”

“Möchtest du mir damit sagen, dass sie nicht davon mitbekommen haben, dass eine der Leichen die einer Nixe war?”, fragte Katjenka.

“Das sieht so aus.”, bestätigte Junita.

Zarin Katjenka hatte Junita mit der Untersuchung betraut, genau wegen so etwas: Dass etwaige Geheimnisse eben nicht gleich die Runde machen würden. Es gab ein Leck. Von irgendwo drangen die Pläne über die Forschungsreisen nach außen, erreichten die Flotte der Maare. Andernfalls wären die gezielten Überfälle nicht so möglich gewesen.

Dass das süd-ost-maerdhische Zarenreich nun im Besitz der Schattenscholle war, war vielleicht nicht zu verheimlichen, aber was sie sonst noch alles in Erfahrung bringen konnten, vielleicht schon. “Gut.”, sagte Katjenka. “Das soll so bleiben.”

Sie besah sich die drei Leichen, die sie geborgen hatten. Sie waren von geworfenen Messern ermordet worden. Sie wussten nicht sicher, ob der Ork und der Zwerg zur Besatzung gehört hatten. An sich war es nicht unwahrscheinlich, aber Katjenka hatte noch nie von einer Zusammenarbeit zwischen Orks mit irgendwelchen anderen Völkern gehört. Vielleicht hatte auch nur der Zwerg zur Schattenscholle gehört, während der Ork zu einer angreifenden Partei gehört hatte, es war zum Gefecht gekommen und es waren auf beiden Seiten Personen gefallen. Oder umgekehrt, der Ork hätte zur Schattenscholle gehört und der Zwerg zu den Angreifenden.

Junita überreichte Katjenka ein Messer, dessen Griff wie eine Öse aussah. “Das steckte in der Nixe. Weitere Waffen konnten nicht gefunden werden. Es liegt nahe, dass die anderen Opfer mit einem ähnlichen oder demselben Messer getötet worden sind. Wir haben aber auf dem ganzen Schiff keine weiteren solcher Messer finden können. Auch insgesamt keine Waffen. Also, keine, die als Waffe gedacht waren. In der Kombüse gab es sehr wohl Messer.”, berichtete Junita. “Wahrscheinlich ist das eine noch da gewesen, weil es mit der Nixe unter Wasser lag und auf diese Art nicht so leicht entfernt werden konnte.”

Katjenka nickte und nahm das Messer entgegen. Sie tat es vorsichtig, denn es wirkte sehr scharf. Ihr Blick ruhte darauf eine Weile. “Ich kenne das Messer und die Handschrift dieser Ermordungen.”, murmelte sie.

Junita blickte sie fragend an. Katjenka dachte darüber nach, ob sie die ungestellten Fragen beantworten sollte. Junita musste auch nicht alles wissen.

Aber auf der anderen Seite war sich Katjenka absolut sicher, Junita vertrauen zu können. Und Stellung hin oder her, eine Zarin brauchte auch Beratung. “Das Attentat auf meine Eltern. Da wurden ähnliche Messer benutzt, nur vielleicht altmodischer.”

“Salvenische Assassinen.”, schloss Junita richtig aus Katjenkas Gedanken. “Wenn die Auftraggebenden die gleichen sind wie vor nunmehr zwanzig Jahren, dann wurden die Assassinen vom Königreich Namberg gekauft.”

Es war damals nicht leicht herauszufinden gewesen. Die Ermittlungen hatten Jahre gebraucht. Aber vielleicht war dieses benachbarte Königreich, das nach außen hin so pazifistisch tat, und dann Angriffe aus dem Hinterhalt fuhr, dieses Mal unvorsichtiger.

Als das Königreich Namberg als verantwortlich für das Attentat auf Katjenkas Eltern erklärt worden war, hatte es argumentiert, dass so ein Attentat viel weniger Tote einforderte als etwa ein Krieg, und hatte eine komplexe Geschichte erfunden, warum der Angriff ein notwendiges Übel gewesen wäre. Eigentlich war klar, was das Königreich Namberg gewollt hatte: Günstige Handelsverträge in Bezug auf den Tagebau des Zarenreichs. Durch die Unterstützung, die sie in Folge des Attentats auf das verstorbene Zarenpaar angeboten hatten – bevor bekannt gewesen war, dass sie selbiges auch verübt hatten –, hatten sie sich entsprechende Verträge erschlichen. Katjenka war damals jünger und noch recht naiv gewesen, aber immerhin nicht nur sie, sondern auch Herrschende und Vertretende umliegender Reiche und Nationen. Es war eine Zeit gewesen, in der viele neue und vor allem junge Personen mehr oder weniger beabsichtigt in die Politik und Machtspiele geraten waren.

Inzwischen wussten eigentlich alle, was tatsächlich gelaufen war, aber in der Politik hielten Regierende lieber den Mund, wenn sie andernfalls auf Handel und Routen durch das zentrale Königreich Namberg hätten verzichten müssen. Zarin Katjenka spürte die Übermacht und Unverschämtheit des Königreichs jeden Tag, aber konnte nur wenig dagegen ausrichten.

Jedenfalls trug dieser Mord die Handschrift eines solchen Attentats. Es war auch relativ ersichtlich, was das Interesse des Königreichs sein würde, wenn es tatsächlich dahinter steckte. Vielleicht agierten sie dieses Mal weniger verdeckt, weil die einzige Interessensgruppe, die etwas gegen einen Sieg über die Flotte der Maare einzuwenden hätte, die Flotte selber war. Andere Nationen würden vielleicht über die Methoden murren, aber wären im wesentlichen froh, wenn der Flotte Einhalt geboten würde.

Wenn sich Katjenka anschaute, wer sich nun alles gegen die Flotte der Maare verschworen hatte, hoffte sie, dass jene irgendwann einsehen würde, dass sie Hilfe bräuchte, und sich dann an sie wenden würde. Es war nicht leicht, Verhandlungsangebote an die Maare heranzutragen, aber es war ihr nun mehrfach gelungen. Nur waren die Maare darauf nicht eingegangen, bisher. Aber damit hatte Katjenka bei den ersten Malen auch nicht gerechnet. Sie war schon inzwischen erfahrener, schon länger in Politik involviert. Sie wusste, dass manche Verhandlungen, vor allem solche, die nicht so freiwillig passierten, wiederholter Angebote bedurften, bis sie in Erwägung gezogen werden würden. Und nun hatte sie nicht nur zuletzt die großzügige Versicherung vorgebracht, dass sie nicht einfach nehmen wollte, was die Flotte verteidigte – ein recht unkonkretes Angebot, weil die Kommunikation mit der Flotte, oder auf welchem Niveau sie sich unterhalten wollen würden, für sie immer noch nicht so gut greifbar war –, sondern sie war nun auch im Besitz der Schattenscholle.