Jentel hat im vorherigen Kapitel Kanta aus dem Wasser gefischt.

Content Notes:

Dysphorie.


Seereis

Jentel

“Seereis?”, fragte Jentel und versuchte es weniger wie eine Frage und außerdem sehr abfällig klingen zu lassen. “Ich bin nicht amüsiert.”

Eigentlich war as amüsiert und das wusste auch Janasz. “Ich habe Kamira gefragt. Er meinte, das Getreide heißt auf Kazdulan so.” Er lächelte unsicher.

Sie unterhielten sich auf Kazdulan. Es war Deckssprache und die einzige Sprache, die Janasz ausreichend fließend für eine Konversation sprach. Kazdulan war die Sprache der Zwerge und auch nicht unbedingt die unangenehmste Sprache, fand Jentel. As hatte sich vergleichsweise wenig schwer mit dem Lernen der Sprache getan. Aber sie war eben landzentriert. Daher wurden darin Namen für Tiere und Pflanzen im Meer Tieren- und Pflanzennamen am Land nachempfunden mit einem ‘See-‘ davor. Beispiele waren Seepferdchen, Seegras oder eben nun Seereis.

Jentel war mehrsprachig großgezogen worden, wie fast alle Nixen. Saine Sprachen waren Siren, die Sprache der Nixen, Ilderin, die Hauptsprache der Elben, und Mandulin, die Sprache des Zwergen- und Elbenvolks an der südöstlichen Küste Maerdhas, wo Jentel groß geworden war. Wo einen halben Tagesausflug vor den Küsten die Seereiswiesen – dieses Wort, ehem – in den seichteren Wassern in den Wellen wiegten.

Es war eine der sehr wenigen Regionen, in denen Elben und Zwerge zusammen eine Gemeinschaft aufgebaut hatten. Vielleicht hatte der dort entwickelte Sprachzweig deshalb Ähnlichkeiten mit Kazdulan und Jentel hatte dadurch bedingt so wenige Schwierigkeiten mit der neuen Sprache gehabt. Mandulin klang allerdings viel weicher in sainen Ohren.

Bei ihrem letzten Gespräch hatten sich Jentel und Janasz über Sprache und Essgewohnheiten ausgetauscht. Janasz kochte für die Crew. Reihum fragte er, was die Crewmitglieder am liebsten essen würden und näherte sich jeweils eine halbe Woche bis Woche den Essgewohnheiten der jeweiligen Person an, die an der Reihe war. Jentel wusste das sehr zu schätzen, hatte das Angebot aber aus Gründen lange nicht angenommen. Trotzdem fand er, hätte er mit Janasz vielleicht freundlicher umgehen sollen statt in sainer üblichen sarkastischen Art. Auf der anderen Seite wiederum hatte Janasz gestanden, dass er Jentel unter anderem genau dafür mochte. Also hatte as sich nicht um mehr Feinfühligkeit bemüht.

Es war jedenfalls durchaus amüsant, dass sich herausstellte, dass die Kazdulan-Vokabel des Grundnahrungsmittels aus Jentels früheren Essgewohnheiten auch ein Beispiel für die Landzentriertheit der Hauptzwergensprache war. Wörtlich übersetzt aus Siren, wenn das überhaupt möglich wäre, hätte es vielleicht so etwas wie Langschwammkorn geheißen.

Janasz schnaufte immer noch ein wenig vom Aufstieg. Er stieg, um Jentel Essen zu bringen, und nun auch für Gespräche mit ihm, zu Jentel in den Mastkorb. Ihm machten Wetterumschwünge aber zu schaffen, und auch seine Oberweite, die er sich versuchte, abzubinden, so gut das ging, weshalb er nun ganz schön aus der Puste war. Smjer hatte ihm immerhin aus Gummerlatech ein Kleidungsstück angefertigt, das besser funktionierte und gesünder war, als was Janasz zuvor probiert hatte.

Jentel hätte gern Brüste gehabt und jederzeit mit Janasz getauscht. Aber bis die Medizin soweit wäre, so einen Tausch möglich zu machen, müssten wahrscheinlich noch mindestens 100 Jahre übers Meer streichen – die Redewendung hatte Jentel von ‘ins Land ziehen’ aus Kazdulan übertragen –, wenn nicht 427 oder noch länger. Jentel mochte es, willkürliche Konkretheit bei Schätzungen anzubringen.

Jentel wartete jedenfalls geduldig ab, bis Janasz weniger schwummrig war. Es war sicher kein so gutes Gefühl, schwummrig in den Finkennetzen zu hängen. Das Wetter war drückend. Der Himmel war noch klar, aber irgendwo am Horizont sammelten sich einige Wolken mit Gelbstich, von so ähnlichen Kamira mal erklärt hatte, dass sie viel Regen und Wind bringen würden. Besagtes Geschnaufe Janaszs deutete ebenfalls auf den Wetterumschung hin, und auch, dass Sindra die Reffs nicht aus den Segeln nehmen ließ. Wenn Segeltuch nicht vollständig genutzt, sondern am Mast oder Baum zurückgebunden wurde, sodass nur ein Teil der Segelfläche gefüllt war, dann nannte sich der eingerollte Teil Reff. Speziell dafür gab es in den Segeln der Schattenmuräne je zwei Reihen Ösen, für das erste und für das zweite Reff. Gerade hatten sie nur das erste Reff drin, aber für die derzeitige Windstärke hätten sie eigentlich keines benötigt.

Jentel kannte sich eigentlich nicht so gut mit Wetterdingen aus, und das als Mastkorb-Nixe. As fühlte den sich ändernden Luftdruck nicht stark genug und Wolken waren zu uneindeutig. Es waren lediglich Metadaten, aus denen Jentel ableitete, wie das Wetter werden würde – was andere, die es besser fühlten oder wussten, entschieden oder wie sie reagierten.

Vielleicht sollte Jentel mehr auf Janasz zugehen, statt ihm diese Kletterei für as zuzumuten. Der Gedanke war neu. Jentel war immer hier oben, es sei denn, es war Schlafenszeit. Dann hielt as sich im Nixendeck auf und jenes war für Janasz Tabu. Ein Schutzraum für Nixen, in denen andere eigentlich nichts zu suchen hatten. Schlimm genug, dass die Kapitänin dauernd hereinschneite. Ein-, zweimal in der Woche, um Marah abzuholen, aber Jentel fand das eigentlich nicht so gut. As hatte Bedenken, dass das einen Standard setzen würde und dem Beispiel der Kapitänin irgendwann andere folgen würden.

Jentel hatte kaum Kontakt zum Fußvolk-Anteil der Crew. Außer eben zu Janasz. Der ihm zum Einbruch der Nacht und kurz vor Morgendämmerung jeden einzelnen Tag Frühstück und Abendbrot in den Mastkorb gebracht hatte, über nunmehr drei oder vier Jahre, ohne sich ein einziges Mal zu beschweren. Jentel hatte darum nicht gebeten, sich also auch nicht für irgendwelche Dankesgesten verantwortlich gefühlt.

Wieso sie ausgerechnet dann endlich vor zwei Tagen das erste Mal ins Gespräch gekommen waren, – also ein längeres als Janaszs Fragen, ob Jentel einen Essenswunsch für die Zukunft hätte, Jentels traditionelle Ablehnung, und anschließend Janaszs Wunsch, es möge schmecken –, war Jentel schleierhaft, aber es war schön gewesen. Der Zwerg hatte keine Erwartungshaltung an Jentel. Als Jentel von den Ufern sainer Heimat erzählt hatte, hatte Janasz nichts gefragt, was den Fokus auf Jentels Fischschwanz oder Tauchen oder sonst etwas gelenkt hätte, was Fußvolk an Nixen normalerweise so interessierte. Jentel hatte ihm sogar sainen Vortrag über den Vergleich zwischen Siren und Landsprachen gehalten, wie sich Landzentriertheit und Seezentriertheit in den Sprachen äußerte, die as kannte.

Kanta hatte mehrfach versucht, as über Siren auszufragen. Das war auch ein Grund, warum Jentel sich im Moment noch weniger gern an Deck aufhielt. As ging Kanta lieber aus dem Weg. Sie glaubte, dass sie eine besondere Bindung hätten, weil Jentel sie gerettet hätte. Den Fakt, dass Jentel auch ihr Boot gekentert hatte, was besagte Rettung erforderlich gemacht hatte, ließ sie dabei außen vor. Und selbst diese Zusammenfassung wäre eine Verdrehung der Tatsachen gewesen. As verstand Beziehungs- und Bindungsgedöns nicht. Die Regeln dafür erschlossen sich ihm nicht.

Es war nicht so, dass as keine Freundschaften gehabt hätte. As verstand sich vor allem mit Marah sehr gut. Marah kam oft zu ihm nachts in den Mastkorb, um mit ihm zu singen. Das einzig Nervige an der Tradition war, dass as deshalb gelegentlich angesprochen wurde, das sie schön sängen. As konnte mit Komplimenten nicht so viel anfangen. As verstand die Intentionen nicht. Marah hatte ihm erklärt, dass Leute sich normalerweise über Komplimente freuten und das Ansinnen entsprechend wäre, ihm eine Freude zu machen. Aber Jentel konnte das nicht nachempfinden. As fühlte nichts als mindestens leichtes Unbehagen, wenn sain Gesang bewertet wurde. Was, wenn as grausam schlecht gesungen hätte? Hätte as dann keine positive Zuwendung verdient? Wenn das Ansinnen von Leuten wäre, dass as sich freute, sollte es nicht davon unabhängig sein, wer as war oder was as gut konnte?

Wegen solcher Fragen empfanden viele as als eher anstrengend. Marah war da keine Ausnahme, aber sie mochte es, auf diese Art angestrengt und gefordert zu werden. Sie mochte es, die ganze Welt noch einmal reflektieren zu müssen, wenn sie ihm erklärte, warum wer wie handelte. Ihr eines Elter war ein Lobbud gewesen. Lobbuds waren das Volk mit den besonders großen Füßen, das noch kleiner als Zwerge war. Auch Marahs anderes Elter war nicht besonders groß gewesen, was sich bei Marah in besonders kleiner Körpergröße und weichen Locken niederschlug. Sie waren vielleicht eigentlich hellbraun oder blond, aber Marah färbte sie regelmäßig grün an. Es stand ihr gut, fand Jentel.

“Jedenfalls habe ich einen Sack Seereis bestellt.”, sagte Janasz schließlich.

“Einen ganzen Sack?”, fragte Jentel skeptisch.

Janasz zeigte mit den Händen die Größe von vielleicht drei Litern.

“Du wirst uns damit vier Wochen ernähren.” Jentel schmunzelte.

“Vier Wochen?”, fragte Janasz überrascht.

Er kannte sich so überhaupt nicht aus. “Ich nehme doch an, der Seereis” – Jentel überbetonte das Wort – “wird nass geliefert.” Dann zögerte as. “Äh, was meinst du mit bestellt? Kannst du süd-ost-maerdhische Lebensmittel bestellen?”

Janasz grinste. “Die Lieferung ist heute eingetroffen. Und ja, nass.” Janasz runzelte die Stirn.

“Weiß die Kapitänin davon?”, fragte Jentel.

“Natürlich. Ich habe das bei ihr genehmigt.”, versicherte Janasz.

Das war beruhigend. Aber vermutlich auch irgendwie einleuchtend oder so. Die Kapitänin war nicht immer im Detail darüber informiert, welche Lebensmittel an Bord waren. Sie stahlen einfach, was die Forschungsschiffe so an Bord hatten. Da sie eher südwestlich Maerdhas unterwegs waren, waren Lebensmittel wie Seereis aber nie dabei. Das war der Hauptgrund, weshalb Jentel einfach keine Lust gehabt hatte, mit Janasz über saine Essgewohnheiten zu reden. Es war ihm nicht zielführend für irgendeine Seite vorgekommen. Wenn nun Seereis an Bord wäre, würde Marah als Person, die für den Transport mittelkleiner Güter quer durch den Ozean verantwortlich war, diesen geliefert haben, und was Marah wusste, wusste auch die Kapitänin. Wenn also ein Genehmigungsvorgang für so etwas vorgesehen war, dann hatte er in diesem Fall auch nicht unterschlagen werden können.

Jentel fragte sich, ob die Gedanken über Genehmigungen überhaupt Sinn ergaben. Vielleicht würden alle Crewmitglieder der Kapitänin auch einfach immer all solche Sachen erzählen. Jentel hatte solche Konflikte, Dinge, die Genehmigung bedurften, normalerweise nicht und war da ganz froh drum.

“Hältst du den Sack nass?”, erkundigte sich Jentel.

“Irgendwie hatte ich mir gedacht, dass das besser ist.”, antwortete Janasz. “Er wurde von der Seescholle verschickt. Jenes Schiff unserer Flotte raubt süd-ost-maerdhische Schiffe aus. Er war nicht trocken verpackt. Ich dachte, das würde schon seinen Sinn haben und habe ihn erstmal in Wasser gelegt. War das richtig?”

Jentel stellte sich vor, wie Marah den Sack transportiert haben könnte. Vielleicht in Schlepp? Oder in einem mit Wasser gefüllten Seesack?

Für kleinere Postsendungen zwischen den Schiffen und mit ihren wenigen Kontaktpersonen an Land halfen ihnen Briefwelse. Faszinierende Salzwasserwelse, verwandt mit den Katzenwelsen, die sich sehr gut orientieren konnten, und den Deal Futter, Zuwendung und Medizin gegen Briefverkehr wohl recht gut verstanden. Größere Lieferungen transportierte Marah von und an Bord, mit einem kleinen, sehr schnellen Segelboot, typischer grenlänndischer Nixenbaustil, dass sich im Zweifel rasch und gut tarnen ließ.

Marah war eine der mutigsten Personen, die Jentel kannte. Und damit meinte as nicht, dass sie wenig Angst vor Gefahr gehabt hätte, sondern dass sie viele Dinge trotzdem tat, wenn sie eben dran waren. Wie, allein durch feindliche Gewässer zu segeln.

Marah hatte Jentel nichts verraten. Vielleicht hatte sie geplant, as zu überraschen, oder hatte Janasz seine Freude nicht daran nehmen wollen, Jentel zu überraschen.

Es war darum gegangen, ob Seereis nass gelagert werden musste, erinnerte sich Jentel mühsam an das laufende Gespräch.

“Jap.” Jentel bewunderte Janasz schon ein wenig dafür, mitgedacht zu haben. Das erlebte as nicht so oft. “An der Luft quillt das Getreide.”

“Quillt?”, fragte Janasz. “An der Luft?”

Jentel rollte die Augen. “Wie eine Hummel die trocknet.” Ein besseres Beispiel war ihm nicht eingefallen. “Nur, dass die Körner eine weniger haarige Struktur haben. Aber an der Luft fluffen sie halt aus.”

Janasz grinste. “Du erfindest Wörter in der Fremdsprache.”

“Ist fluffen gut?”, fragte Jentel skeptisch.

“Ausfluffen ist ein schönes, erfundenes Wort. Ja.”, bestätigte Janasz.

Reden mit ihm war ganz leicht. Eines ihrer ersten Gespräche hatten sie über Dysphorie geführt. Über Körper, die sich nicht richtig anfühlten, wie sie waren. Eben, wegen fehlender oder zu viel Brust. Aber Jentel erinnerte sich nicht mehr, wie sie darauf gekommen waren.

“Findest du mich anstrengend?”, fragte as.

Janasz schüttelte den Kopf. “Sollte ich?”

“Mich finden Leute meistens anstrengend. Aber ich merke es ihnen dann nicht an.”, sagte Jentel. “Ich kann daher nur durch Nachfragen wissen, ob es bei dir auch so ist.”

“Eigentlich finde ich es entspannt, mit dir zu reden.”, sagte Janasz. “Du lässt mir Zeit zum Nachdenken und du sagst nur Dinge, über die du nachgedacht hast.”

“Dass Zeit lassen entspannt, verstehe ich.”, sagte Jentel. “Aber warum entspannt es, dass ich nur Dinge sage, über die ich nachgedacht habe?” Was allerdings stimmte. Jentel dachte viel nach, bevor as etwas sagte. Wenn Gelegenheit da war. Sonst war as sarkastisch. Oder so.

“Du sagst nicht erst das eine und dann doch das andere und kurz darauf doch wieder das eine.”, erklärte Janasz. “Ich komme bei anderen nicht so leicht hinterher, welcher Meinung sie gerade sind.”

“Das ergibt Sinn.”, murmelte Jentel.

Dann schwiegen sie wieder. Das Essen, das Janasz mitgebracht hatte, stand hinter ihnen. Jentel hatte bisher immer allein gegessen. Aber in den vergangenen zwei Tagen war es jeweils deshalb vorm Essen kalt geworden, weil sie sich unterhalten hatten.

Jentel seufzte und drehte den Mastkorb im Kreis, wie as das alle naselang tat, um sich umzublicken. Es war saine Aufgabe, Ausschau zu halten, weil as sehr gute Augen hatte und selbst für eine Nixe gute Nachtsicht. Jentel tat es sehr gewissenhaft. Und das war schließlich wohl der ausschlaggebende Grund, warum as sich nur hier oben besuchen ließ, aber sich nie lange an Deck aufhielt.

“Stört es dich, wenn ich esse?”, fragte Jentel.

“Überhaupt nicht.”, antwortete Janasz. “Isst du ungern als einzige Person von mehreren? Das kenne ich von anderen. Soll ich beim nächsten Mal meine Portion mitnehmen und mit dir essen?”

“Ja.”, sagte Jentel. “Und ja.”