Marah wurde von Ushenka großgezogen und hat die Flotte der Maare quasi mitgegründet. Sie ist verliebt in die Kapitänin.

Content Notes:

Amputation, Nervengift, Betäubung, Tierleid erwähnt, vegetarische Ernährung, Fäkalien.


Die Flotte der Maare

Marah

“Gebt ihnen Dampf.”, erscholl das Kommando der Kapitänin über das Deck der Schattenmuräne. Sindra meinte das wörtlich.

Marah wusste, dass sie sich hätte beeilen sollen. Dampf gehörte zu ihren Aufgaben. Aber sie robbte nur träge Richtung Rutsche. Sie hätte sich gewünscht, dass Sindra ihr noch einen Abschiedskuss geben würde, oder irgendeine andere Art von persönlicher Aufmerksamkeit.

Auf der anderen Seite wusste sie auch, dass sie nicht die einzige Liebesperson für Sindra war. Sie wusste nicht, wievielen Crewmitgliedern Sindra nun diese Aufmerksamkeit schenken müsste, wenn sie es bei ihr täte. Sie drehte sich auf den Rücken und schob ihre Fluke auf die Rutsche.

Und dann stand Sindra doch über ihr. Ihr riesiger Körper ging in die Hocke, und weil sie damit immer noch zu groß war, ließ die Kapitänin ihre Knie links und rechts von ihrem Kopf auf den Boden plumpsen. Marah fühlte die Vibration im Boden unter ihrem Rücken. Sie legte den Kopf in den Nacken. In die dafür bereitgelegten Hände. Hände, die von ihrem Scheitel bis in ihren Nacken reichten. Die großen, weichen Finger flochten sich in ihr feuchtes Haar. Der Kopf beugte sich herunter und Marah schloss vertrauend die Augen, als sie einen zarten Kuss auf die Stirn bekam. Ihr ganzer Körper fühlte sich elektrisiert. Sie atmete hastig ein. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie in das stets schwer zu lesene Gesicht der Kapitänin. Sindra. Sindra hatte sie gebeten, dass Marah sie häufiger bloß Sindra nennen sollte.

“Pass gefälligst auf dich auf!”, befahl sie trocken. Bevor sie ihre Hände sachte aus Marahs Haar wieder ausfädelte und aufstand.

War das doch Angst in ihrem Blick. Wer wusste das schon. “Du auch.”, flüsterte Marah.

“Ja, ich passe auch auf dich auf, so gut ich kann.”, sagte Sindra. “Ich kann es nur viel zu wenig, also übernimm das für mich! Und nun husch!”

Marah zögerte nicht mehr, gab sich Anschwung und rutschte durch das Schiffsinnere ins Nixendeck. Hier war es angenehm dunkel und feucht.

“Kamira ist schon draußen mit einem der Eimer.”, informierte sie Smjer.

Marah nickte. Damit hatte sie gerechnet. Sie griff sich den anderen. “Hat er gesagt, wo er anfängt?”

“Ah richtig, das war, was ich eigentlich sagen gewollt habe.”, ärgerte sich Smjer. “Hinten. Am Heck. Aus Symmetriegründen.”

“Ergibt Sinn.”, überlegte Marah. So richtig eingespielt waren sie noch nicht. Die Erkenntnis machte sie ein bisschen nervös.

Und dass Smjer sich mit einem genuschelten “Ihr solltet mich von Bord werfen.” selbst niedermachte, trug sicher nicht zur Verbesserung ihres Gefühls bei.

“Smjer!”, rief sie.

“Du hast gute Ohren.”, brummelte er.

“Und du sagst Unfug!”

Smjer war eine behinderte Nixe. Und hatte ein Trauma. Nixen schafften es meistens, sich aus den Affären des Fußvolks rauszuhalten, bisher. Landsleute oder Leute mit Füßen, zumindest jene von ihnen, die zu den Unterdrückenden gehörten, nannten sie gern abfällig Fußvolk. Allen voran waren das Menschen, dann Elben, mit ihren Ideen, alles erforschen zu müssen und nicht die Finger von den Meeren zu lassen. Und sie töteten laufend, unter sich und gegenseitig und alle Völker, die nicht irgendeine vergleichbare Sprache hatten. Aber auch Zwerge gehörten zu diesen mörderischen, ausbeutenden Fußvölkern. Manchmal inzwischen sogar Lobbuds, ein Volk unbärtiger, kleinerer Zwerge mit besonders großen Füßen, sozusagen. Es war ein Lobbud-Schiff gewesen, das an einen besonders einsamen Ort zum Fischen gefahren war, – vielleicht um den anderen Fußvölkern zu zeigen, dass sie es auch drauf hatten –, bei dem Smjer irgendwie ins Netz geraten war. Smjer hatte nie im Einzelnen erzählt, wie er von dort entkommen war, aber er hatte seitdem keine Fluke mehr. In Marahs schlimmsten Vorstellungen hatte er sie sich selbst abhacken müssen, um zu entfliehen, aber es konnte auch ganz anders gewesen sein.

Die meiste Zeit über war Smjer gelassen, verbreitete eine angenehme Stimmung, während er sich mit Technik auseinandersetzte. Schwimmen mochte er nicht mehr. An Deck bewegte er sich mit Rollbrettern, -stühlen, Seilwinden und den Rutschen.

Aber wenn Smjer Angst hatte – und das hatte er bis jetzt bei jedem Überfall –, erfüllte ihn diese Selbstverachtung. Kamira versuchte sich mit ihm darüber auseinanderzusetzen. Kamira war an Bord für Konfliktmanagement, psychischen Beistand und Barriereabbau zuständig.

“Ich hab’ dich lieb.”, murmelte Marah, bevor sie mit dem zweiten Eimer und einem großen Pinsel in das unter Wasser stehende Unterdeck unter dem Nixendeck eintauchte, um die Schattenmuräne durch einen der Ausgänge zu verlassen.


Das Heck der Schattenmuräne brodelte bereits. Die Eimer enthielten eine lebendige und deshalb nicht weniger chemische Substanz, die Algenreste fraß und dabei Hitze produzierte. In den natürlich vorkommenden Mengen jener Kleinstlebewesen wurden Flächen, auf denen sie fraßen, maximal ein wenig wärmer. Aber vor einigen Jahrzehnten hatten Nixen herausgefunden, was passierte, wenn sie in großen Mengen zusammengesammelt und sie dann alle auf einmal auf die Algenreste losgelassen wurden. Das Wasser wurde dabei so heiß, dass es kochte und dampfte.

Es hatte selten besonderen Nutzen. Wasser konnte wesentlich einfacher anders zum Kochen gebracht werden. Mit Feuer. Nur, dass Feuer unter Wasser schwierig war, allerdings auch nicht unmöglich.

In diesem Fall nutzten sie es, um die Gerüchte zu verstärken, dass sie eine Geisterflotte wären. Sie hatten einen Streifen sehr hitzebeständigem Materials an ihren Schiffen angebracht, direkt unterhalb des Wasserspiegels. Dort brachten sie nun die Kleinstlebewesen auf, die ihn sofort algenfrei nagten und sich anschließend wieder in dünnen, roten Flächen auf der Wasseroberfläche verteilten. Auf diese Weise stieg um die Schattenmuräne Dampf auf und das Wasser um sie herum verfärbte sich vorübergehend rot.

Es war ein Manöver, um Angst zu schüren und Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Angriff abzulenken.

Kamira erwartete sie und hob eine Braue über seinem leuchtend orangen Auge. An Land waren seine Augen eher braun, aber unter Wasser, ohne die Nickhaut darüber, die vor grellem Tageslicht schützte, waren sein eines Auge leuchtend orange, das andere blasser orange.

Vielleicht war die Geste ein Tadel, dass sie so spät war. Marah war sich nicht sicher und versuchte reuevoll zu schauen.

“Wir schaffen das.”, sagte Kamira. Auf Sirenu.

Siren war die Sprache der Nixen, und Sirenu der Teil davon, der auch unter Wasser gesprochen werden konnte. Eine Sprache, die Marah nicht nur hörte, sondern auch unter der Haut fühlte. Sie hatte lange gedacht, dass es nur Nixen vorbehalten war, die Sprache zu fühlen, aber hatte von Sindra gelernt, dass sie es auch konnte. Dass es nicht alle Landsleute konnten, aber manche schon. Ein Kribbeln unter der Haut, das beim Hören mancher Klänge gefühlt wurde.

Marah nickte und versuchte ein ermutigendes Lächeln.

Sie machten sich parallel an die Arbeit. Kamira und sie arbeiteten sich auf je einer Seite der Schattenmuräne zum Bug vor, sich zurufend, wie weit sie jeweils wären, damit es symmetrisch wäre. Sie wagten nicht, aufzutauchen, um das Schiff in seiner Dampfwolke zu betrachten. Das hatten sie allerdings oft getan, als sie den Showeffekt ausprobiert hatten, weit auf See, während Sindra aus einem Beiboot beobachtet und befohlen hatte, um alles einzutrainieren.

Marah tauchte durch eine der vorderen Lenzklappen wieder in den Schiffsbauch ein, fühlte das kühlere Wasser besonders angenehm an ihrem aufgewärmten Körper vorbeistreichen, als sie neben Kamira wieder durch die Wasseroberfläche stieß und tief Luft holte. Kamira war weniger aus der Puste.

Nun kam der eigentlich gefährliche Teil des Überfalls.


Wenn unter Fußvolk von der Dichtkunst der Nixen gesprochen wurde, dann war die Assoziation eher Gesang. Und ja, Gesang gehörte zu Marahs Leben. Es war fester Teil der Kommunikation, des Ausdrucks, eigentlich viel mehr als diese Worte bedeuteten. Des Lebens eben.

Aber so widersprüchlich das auch mit einem Schiff scheinen mochte, dessen unterstes Deck unter Wasser stand, waren auch die besten Techniken zum Abdichten von Nixen entwickelt worden.

Die zwei Crewmitglieder mit Füßen, die sie mitnehmen würden, warteten an der Luke zum Lenzdeck. Smjer hatte das Tauchboot vorbereitet. Es war unbehaglich klein für diese Fußpersonen.

Ashnekov hatte ihr einmal gestanden, wie es sich für ihn anfühlte, in diesem Gefährt zu sein und sich ganz und gar darauf verlassen zu müssen, dass Marah oder die anderen Nixen sie nicht einfach auf den Grund des Meeres sinken ließen. Mit Luft, die nur für ein paar Stunden reichen würde. Er vertraute. Mit Ashnekov unterhielt sich Marah ganz gern.

Er zwängte sich zuerst in das Tauchboot, dann seine Liebesperson Janasz. Marah konnte sich Schlimmeres vorstellen, als direkt vor einem beängstigendem Überfall mit der Liebesperson zu kuscheln. Auf der anderen Seite wurde die Vorstellung vielleicht dadurch entromatisiert, dass die beiden das Tauchboot mit einer beachtlichen Menge Exkrementen teilten, – und getrocknetem und wiedergenässtem Seegras. Immerhin war alles wenigstens einigermaßen geruchsdicht verpackt.

Marah fragte sich, wann sich mit Sindra das nächste Mal Gelegenheit zum Kuscheln bieten würde. Und dann kamen ihr ihre Worte wieder in den Sinn, dass sie gefälligst auf sich aufzupassen habe. Sie grinste und zeitgleich ergriff sie eine Panik, die sie vergeblich versuchte, abzuschütteln. Kamira legte ihr eine Hand auf die Schulter.

“Wir schaffen das.”, wiederholte er, dieses Mal auf Kazdulan, der Deckssprache.

Kanta lehrte sie die Sprachen. Kanta war eine begeisterte Lehrerin und die Begeisterung übertrug sich so sehr, dass Marah sogar manchmal vergaß, dass Kanta ein Elb war. Kanta war auf ihrer Seite, das sollte reichen. Trotzdem spürte Marah eine Grundwut auf Elben, die sich als Volk so sehr damit beschäftigten, auf möglichst elegant wirkende Weise und mit scheinbar überzeugenden Argumenten das Leben anderer zu zerstören.

Die Wut verdrängte die Angst ein wenig. Und sie drängten nun gemeinsam das Tauchboot aus dem größten Ausgang. Smjer hatte ihn kurz zuvor geöffnet. Er war die meiste Zeit über geschlossen. Im geöffneten Zustand unter Wasser bremste die Strömung. Bei viel Fahrt, sobald das Wasser durch kleinere Lenzklappen aus dem Schiff gesogen worden war, – daher rührte die Bezeichnung ‘Lenzdeck’ –, lag die Öffnung etwas oberhalb des Meeresspiegels, sodass höchstens Mal Wasser hineinschwappte, das aber sofort wieder hinauslief. Bei viel Fahrt bereitete es Marah und Jentel besonderes Vergnügen, ihre Fischschwänze ins Wasser zu halten, während sie sich am Ausgang festhielten, und das Wasser an den Seiten entlangstreichen zu fühlen. Nun aber lag der Ausgang einen guten halben Meter unter dem Wasserspiegel.

Niemand hielt sich während Überfällen in einer Bilge auf. Außer vielleicht nicht registrierte Passagiere. Selbst Personen mit panischer Angst eher nicht. Eine Bilge war feucht und dunkel und aus ihr wäre es mit am schwierigsten, sich zu retten, sollte das zugehörige Schiff sinken.

Hier dockten sie an. Sie wendeten das Tauchboot dafür, weil es das Heck war, das docken konnte. Auf die Weise bot es beim Vorankommen am wenigsten Widerstand und sie konnten am besten ablegen. Kamira und sie drückten das flexible, runde Heck an den Rumpf des Forschungsschiffs, das sie auf diese Weise überfielen, und zogen die Saugnäpfe mit Schraubmechanismus fest. Als sie sich sicher waren, dass alles dicht war, zogen sie die Ventile. Ein oberes, durch das Luft vom Tauchboot in den Zwischenraum dringen konnte, und ein unteres, durch das das Wasser aus dem Zwischenraum ins Tauchboot abfloss. Sie lauschten darauf, wie Janasz mit dem Bohren und Sägen anfing. Es war relativ leise und trotzdem der unheimlichste Part. Wenn doch eine Person in der Bilge auf der anderen Seite war, würde sie davon mitbekommen und direkt angreifen können. Oder schlimmer, leise Alarm schlagen können. Es war unwahrscheinlich. Es war unwahrscheinlich, wiederholte Marah in Gedanken gegen ihre Panik an.

Dann war es vorbei. Hoffentlich, weil Janasz fertig war. Sehr hoffentlich, denn Marah brauchte allmählich Luft. Sie fühlte sich leicht schwummrig. Sie hasste das. Sie hatte noch nie zu lange getaucht, hatte nur große Angst davor. Vielleicht sollte sie es mit Kamira zusammen ausprobieren. Kamira kannte sich mit sogenanntem Apnoetauchen aus und würde sie bei einer Übung retten können. Vielleicht wäre es gut, ein Gefühl für das Bewusstseinverlieren zu bekommen.

Jemand von innen klopfte das Zeichen. Es war alles gut gegangen. Die Fußleute verließen über das gesägte Loch das Tauchboot in die Bilge des größeren Schiffes. Marah begab sich in die Rolllappen, mit denen sie ins Innere des Tauchboots gelangen konnte, ohne es zu fluten und holte gierig Luft. Kamira folgte. Immerhin schien auch er zur Abwechslung mal wenigstens etwas außer Atem zu sein.

Ohne miteinander zu sprechen, machten sie sich daran, Dichtungsmaterial an das ausgeschnittene, runde Loch anzubringen. Sie saßen dazu in der Bilge, weil Janasz und Ashnekov mit dem ersten Proviant ankamen, den sie im Tauchboot ablegten und verstauten, und für deren Gewichtsausgleich sie jedes Mal entsprechende Mengen abgepackter Fäkalien und Seegras in den Ozean entleerten. Eigentlich war es nicht nur Seegras, sondern vor allem der nicht verwertbare Teil der verschiedenen Getreide, die sie unter Wasser bei den Garteninseln anbauten. Die Fäkalien eigneten sich, um sie bei den Überfällen zu entsorgen, um das Tauchboot gewichtstechnisch austariert zu halten, aber sie reichten nicht aus. Es war wichtig, dass das Tauchboot immer einigermaßen gleich schwer war. Proviant für Crews einer Stärke von grob fünfzehn Personen, die für mehrere Monate reichen sollten, überschritten ein Gewicht, das Kamira und Marah hätten am Sinken hindern können. Der Luftraum im Tauchboot musste sie tragen. Aber eben jener Luftraum ohne Ladung an Bord hätte das Boot an die Wasseroberfläche getrieben. Also transportierten sie auf dem Hinweg Wegwerfmaterial von ähnlichem Umfang und Dichte, wie sie an Vorräten gedachten zu stehlen. Früher hatten sie die unnütze Ladung noch zumindest teilweise zurück in die Voratskammern der ausgeraubten Schiffe getragen, aber inzwischen war ihnen das zu heikel. Nicht zuletzt war es auch eine Schlepperei, die für keinen Körper gesund war.

Die Bilge, in die sie nun gelangen konnten, war für so ein Forschungsschiff eher mittlerer Größe überraschend hoch, sodass sie nicht einmal kriechen mussten.

“Vier dieses Mal.”, flüsterte Ashnekov. “Sie beginnen, ihren Proviant zu bewachen.”

Ashnekov meinte damit die Anzahl der Personen, die sie mit Giftpfeilen mit Blasrohren vorübergehend außer Gefecht setzten. Die Technik kannten sie von Yanil, einem Ork auf einem der anderen Schiffe ihrer Diebesflotte. Janasz hatte gelernt, damit exellent umzugehen. Außerordentlich exzellent, kam Marah nicht umhin zu bewundern, angesichts dessen, dass er nun vier Personen sehr dicht aufeinanderfolgend erwischt haben musste, sodass sie nicht mehr dazu hatten kommen können, Alarm zu schlagen. Es war nicht nur deshalb ein Gewinn, Janasz an Bord zu haben. Er konnte außerdem sehr gut kochen. Und das war ein starkes Kompliment von einer Nixe an einen Zwerg, weil sich die Küchen eigentlich sehr unterschieden. Janasz interessierte sich aber nicht dafür, dass es ihm schmeckte, sondern dass es allen schmeckte. Er liebte die Herausforderung mit nicht einkalkulierbaren Zutaten und unterhielt sich reihum mit allen Crewmitgliedern, was sie gern äßen, um sich an ihren jeweiligen Geschmack heranzutasten. Und Nixen machten einen großen Teil der Crew aus. Aus dem Grund gab es fast nie Fleisch. Marah hasste die Tage, an denen es doch Fleisch gab. Seit Janasz kochte, hatte es aber immerhin dann eine Alternative gegeben.

“Nicht in Gedanken abdriften.”, mahnte Kamira leise, und eine Spur verspielt, um die Mahnung nicht wie eine Strafe klingen zu lassen. Auf Siren, woraus Marah schloss, dass Ashnekov wieder weg war. Kamira sprach nur dann Siren, wenn alle Anwesenden auch Siren sprachen.

Marah atmete tief durch und nickte.

“Ich frage mich ja, ob es eher gut oder schlecht wäre, wenn du als Berufung Geschichten erzählen lernen würdest.”, murmelte Kamira. “Entweder, es würden wunderschön ausgeschmückte Geschichten werden, oder du würdest ständig den Faden verlieren.”

Marah schmunzelte. “Das ist kein hilfreicher Kommentar, was das Verlieren von Fäden anbelangt.”

“Du warst ohnehin wieder dabei, ihn zu verlieren.”, flüsterte Kamira.

Dann schwiegen sie wieder. Janasz brachte zwei Schläuche, mit denen sie die Trinkwasserbehältnisse leeren wollten – nicht vollständig leeren natürlich. Er schloss sie an dafür vorgesehene Ventile am Tauchboot an. Ashnekov folgte mit weiteren zweien und belegte damit die übrigen zwei Ventile. “Sie haben Trinkwassertanks, keine Fässer.”, teilte er mit.

Das war ein Trend, der sich anfing, durchzusetzen, und ihnen in die Hände spielte. Sie mussten dann während der Umfüllprozedur die Schläuche am anderen Ende nicht von Fass zu Fass umplatzieren, wie es bei solchen der Fall gewesen wäre. Marah mutmaßte, dass die Forschungsgruppen glaubten, dass Fässer besser stehlbar wären, und deshalb zunehmend auf Tanks setzten. Und ohne ihre Saugtechnik wäre die Vermutung vielleicht richtig gewesen. Marah freute sich innerlich immer wieder über ihre Technik.

Als Ashnekov und Janasz wieder verschwunden waren, unterbrachen Kamira und Marah die Klebarbeit. Das Dichtungsmaterial musste ohnehin nun ein wenig einziehen. Sie tauchten wieder aus dem Tauchboot hinaus, um den inneren Dichtungsring an einem doppelten Flaschenzug auf beiden Seiten des Tauchboots vom Heck nahe der Andockstelle zum Bug zu verschieben. Der Mantel des Tauchboots war derzeit noch mit Meerwasser gefüllt, dass sie auf diese Weise nach hinten aus dem Boot herausdrängten, sodass durch den entstehenden Unterdruck auf der anderen Seite des inneren Dichtungsrings das Trinkwasser in die doppelwandige Bootswand hineingesaugt wurde. Als Kamira und Marah sich wieder durch das Tauchboot in die Bilge begaben, um die Schläuche wieder zu lösen, kam Ashnekov gerade mit dem nächsten schweren Fass, das er vielleicht besser hätte rollen sollen, wenn ein heiler Rücken das Kriterium für die Wahl der Transportmethode gewesen wäre. Aber das Kriterium war leider, nicht erwischt zu werden. Er versenkte es im Tauchboot – ein weiterer Ballen Seegras verschwand dabei in die Tiefe des Ozeans, und als er wieder umkehrte, weiteren Proviant einzusammeln, setzten Kamira und Marah testweise die ausgeschnittenen Planken wieder ein. Die Sozusagen-Tür passte. Aber natürlich war die Rille vom Sägen sichtbar. Die kaschierten sie nun möglichst geschickt mit Holz, Flecken und Farbe, die sie auch überall andershin verteilten. Außen würde es hoffentlich zualgen, bis das Schiff das nächste Mal aus dem Wasser gehoben würde, wenn das überhaupt je passierte.

“Was ist das für ein Geräusch?”, fragte Kamira, als Ashnekov das nächste Mal erschien.

Marah hatte es auch schon gehört. Es klang fast wie ein Weinen, etwas quäkiger. Es hatte ihr Angst gemacht, aber dann wiederum war sie davon ausgegangen, dass sich Ashnekov und Janasz schon kümmern würden, wenn das Mären eine Gefahr dargestellt hätte. Oder etwas gesagt hätten. Aber warum stellte es keine dar?

Ashnekov war aus der Puste, obwohl er durchaus sehr trainiert war. Aber er trug einen wirklich riesigen Sack über dem Rücken. “Eine Ziege.”

“Bring sie.”, ordnete Kamira an.

“Ich soll die Ziege bringen?”, fragte Ashnekov.

“Zum Schluss.”, überlegte Kamira. “Betäubt sie, damit sie sich auf der Überfahrt nicht beschwert.”

Anders konnte eine Ziege wahrscheinlich auch nicht ohne weiteres dazu überredet werden, sich in eines der Fächer im Tauchboot zu legen, vermutete Marah.

“Du möchtest, dass sie nicht getötet wird.”, verstand Ashnekov.

Kamira nickte energisch und blickte ihn böse an. “Allein wie du das sagst.”, murmelte er.

Auf Siren.

Marah wusste nicht, ob Ashnekovs Siren-Brocken ausreichend waren, um Kamira zu verstehen. Aber er nickte. “Ich bringe die Ziege zum Schluss, wenn uns das nicht zusätzlich in Lebensgefahr bringt.”

Marah fühlte sich auf einmal weicher. Sie würden heute ein Leben retten. Direkt und nicht nur indirekt.

Die Forschungsschiffe waren unterwegs nach Grenlannd. Einem südlichen Kontinent, von dem das Fußvolk sich nicht einmal absolut sicher war, dass er existierte. Natürlich existierte Grenlannd. Viele Nixen verbrachten vor den Küsten Grenlannds die ersten Jahre ihres Lebens oder ihres Elterndaseins.

Aber Forschung beim Fußvolk hieß halt nicht, angucken, beobachten und kommunizieren, sondern töten, zerschneiden und Experimente jeder ekligen Art. Das harmloseste noch, dass Intelligenz getestet wurde, indem Personen in Situationen gezwungen wurden, in denen sie durch Rätsellösen an Nahrung kamen und das der größte Anreiz war, Dinge zu tun, weil Freiheit nicht gegeben war. Personen, die vom Fußvolk nicht für Personen gehalten wurden, weil sie zum Beispiel einen Fischschwanz hatten, Flügel, oder viel kleiner waren.

Dass das Fußvolk sich so widerlich verhalten würde, hatte es auf ihren zwei Kontinenten bewiesen, auf dem einen mehr, als auf dem anderen, aber letztendlich auf beiden. Oft genug. Das musste nicht auf Grenlannd übertragen werden. Dagegen kämpfte ihre Flotte der Geisterschiffe.

Sie fingen an, sich die Flotte der Maare zu nennen, unter anderem weil sie als so unheimlich wahrgenommen wurden. Sie stahlen Vorräte. Sie taten es vor der Hälfte der Überfahrt, sodass die Forschungsschiffe umdrehen mussten, weil sie die Fahrt über sonst nicht überleben würden. Sie stahlen auch manches technisches Gedöns, wie Karten, Bücher und Navigationsmaterial. Und sie stahlen all dies, während das Überfallschiff nicht einmal in die Nähe kam. Die Besatzung der bestohlenen Schiffe verstand die Überfälle nicht. Was Fußvolk nicht verstand, erklärte Fußvolk mit Märchen, Sagen oder Horrorgeschichten. Sie wurden die Geisterschiffe, die Wasserhexen oder die Mahre der Meere genannt. Mahre waren Albträume, das war nicht, wie sie sich selbst nennen wollten. Aber der Klang war schön. Da sie Piraterie als Umschreibung dessen, was sie taten, unpassend fanden, nannte sich ihre Flotte nun seit Kurzem die Flotte der Maare. Sie hatten also bloß eine andere Schreibweise als die der Albtraummärchengestalten gewählt. Vielleicht würde sich das irgendwann durchsetzen und in irgendeine Geschichtsschreibung einfließen. Ob das je passierte? Ob die Aktion groß genug war? Und falls ja, wie? Ob die Flotte der Maare je von wesentlichen Teilen des Fußvolks nicht mehr ausschließlich negativ wahrgenommen würde?

Janasz kam mit einem neuen Sack an, unter dem er fast zusammenbrach. Zumindest sah es so aus. Das Meckern hatte aufgehört. Es war Zeit zu gehen. Sie verpackten alles gründlich, schnürten es mit Gurten fest. Ashnekov brachte neben der Ziege, die ihm wie tot über den Schultern hing, noch einen Sack mit irgendetwas Weichem, das auf die Vorräte platziert werden konnte, und ihre Rücken bei der Überfahrt abpolstern würde. Nachdem alles gut verstaut war, tauchten Ashnekov und Janasz vorübergehend aus dem Tauchboot heraus, weil es zu eng für sie alle darin war. Kamira und Marah blickten sich um, dass sie auch nichts zurückgelassen hätten, und verließen das Forschungsschiff durch das Loch, drehten den vorbereiteten Deckel hinein und warteten ein paar Momente, bis die Dichtung sich festgesogen und selbst verschlungen hatte. Das Bootsmaterial, aus dem Nixen Boote bauten, war nicht selten so etwas wie lebendig.

Es wirkte dicht, als sie es rasch aber sorgsam mit den Fingern untersuchten. Sie nickten sich angespannt zu, ein Zeichen, dass sie alles erledigt hatten, was im Trockenen passieren musste. Sie tauchten eilig hinaus und halfen Janasz und Ashnekov, sich wieder hineinzurollen. Nun kam wieder ein Teil des Vorgehens, der Marah sehr nervös machte. Sie verschlossen die Schleuse und dockten das Tauchboot ab. Wasser strömte in die Schleuse. Kamira und sie betrachteten die freigegebene Stelle im Rumpf des Forschungsbootes. Eine einzelne Blase bildete sich und perlte aus der Ritze an die Wasseroberfläche. Sonst nichts. Sie verrieben die Algen etwas darüber und betrachteten noch einmal, ob es wirklich keine weiteren Blasen geben würde.

Nichts.

Erleichterung durchströmte Marah. Sie nickten sich zu, beeilten sich, hinter das Tauchboot zu gelangen und es zurück in die Schattenmuräne zu schieben. Ihre Schwanzflosse fühlte sich stark an, als wäre die Auslastung nun nach der Panik genau das Richtige. Im Nixendeck würden sie von großen Teilen der Crew erwartet, die ihnen rasch beim Aus- und wieder Einladen helfen würde. Dann war… die Hälfte der Gefahr vorüber, die Hälfte der Arbeit getan. Es lauerte ein zweites Forschungsschiff.

<!--Kanta ist eigentlich nicht da unten, oder?-->

“Eine Ziege? Ist sie tot?”, fragte Rash, statt einer Begrüßung.

“Nur betäubt.”, widersprach Kamira.

“Mit einem der für die Besatzung vorgesehenen Pfeile?”, fragte Rash.

Janasz nickte.

“Hoffentlich ist die Dosierung nicht zu hoch für den kleinen Körper.”, sagte Rash.

Rash nahm ihnen die Ziege behutsam ab und trug sie selbst an Deck. Und mehr musste man eigentlich auch nicht machen, um sich mit Marah gut zu stimmen.


Das zweite Forschungsschiff würde einfacher auszurauben sein. Sie hatten es schon einmal überfallen. Das hieß, es gab bereits ein Loch mit Dichtung, das sie noch einmal benutzen könnten. Und da niemand auf dem ersten Schiff informiert gewesen war, dass sie über die Bilge enterten, wäre es noch unwahrscheinlicher, dass sie in der Bilge des anderen Schiffs erwartet würden. Trotzdem hatte Marah eigentlich schon Adrenalin genug für einen Tag gehabt.